Thurgau will Opfer entschädigen
Der Kanton Thurgau will Betroffene von Medikamentenversuchen nun doch entschädigen – jahrelang wehrte er sich dagegen.
Veröffentlicht am 13. Februar 2023 - 17:01 Uhr,
aktualisiert am 19. April 2023 - 14:26 Uhr
Vor bald drei Jahren wehrte sich der Regierungsrat des Kantons Thurgau noch vehement, Betroffene von fragwürdigen Medikamentenversuchen zu entschädigen, die in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen während vier Jahrzehnten durchgeführt worden waren. Jetzt folgt die Kehrtwende: Das Thurgauer Kantonsparlament stellte sich nun mit 66 gegen 42 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) hinter eine überparteiliche Forderung, wonach der Kanton eine gesetzliche Grundlage dazu ausarbeiten soll. Die Thurgauer Regierung will nun «zeitnah» einen Gesetzesentwurf ausarbeiten, so dass eine Regelung per Anfang 2025 in Kraft treten und anschliessend erste Auszahlungen erfolgen könnten.
Psychiatrieprofessor Roland Kuhn hatte zwischen 1940 und 1980 an rund 3000 Patientinnen und Patienten nicht zugelassene Substanzen getestet. Das Ausmass der Tests wurde 2019 durch eine interdisziplinäre Forschergruppe aufgearbeitet
. Schon 2014 berichtete der Beobachter über Kuhns exzessiven Forschungsdrang (
«Die Menschenversuche von Münsterlingen»).
Die Forderung nach einer finanziellen Wiedergutmachung war noch vor wenigen Jahren nicht mehrheitsfähig. Der Kanton Thurgau argumentierte jeweils damit, eine Entschädigung müsse auf nationaler Ebene geregelt werden. Jetzt stellten sich nicht nur SP, Grüne, GLP und EVP hinter das Anliegen. Der Vorstoss erhielt auch Stimmen aus der SVP, FDP und der Mitte. Nur die EDU lehnte den Vorstoss ab. Gegner einer Entschädigung argumentierten, damals hätten andere Wertmassstäbe gegolten und die Medikamentenversuche hätten zum Fortschritt in der Medizin beigetragen.
Befürworter argumentierten etwa mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Medikamentenversuche, die nicht nur das riesige Ausmass der Versuche aufgezeigt habe, sondern auch die fragwürdige Art thematisierte. Diese Versuche hätten schon damals den geltenden moralischen Massstäben ein halbes Jahrhundert hinterhergehinkt.
Bereits im Vorfeld der Parlamentsdebatte stellte sich auch der Regierungsrat hinter das Anliegen: «Eine weitere Verzögerung einer Entschädigung ist zunehmend unhaltbar.» Gestern nun doppelte Gesundheitsdirektor Urs Martin (SVP) nach: Es gebe keinen Grund, etwas nicht zu tun, nur weil es schwierig sei.
Geld auch für Patientinnen und Patienten aus anderen Kliniken
Entschädigt werden sollen nicht nur frühere Patientinnen und Patienten der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, sondern auch jene, an denen in der Klinik Littenheid und der damaligen Psychiatrischen Privatklinik Zihlschlacht Medikamentenversuche vorgenommen wurden. Die Krankengeschichten mit den Psychopharmaka-Versuchen sind im Kanton Thurgau breit dokumentiert, im Staatsarchiv lagern umfangreiche Patientenakten aus der Ära Kuhn.
Der Regierungsrat schätzt die Zahl der möglichen Gesuche auf maximal 500. Den Kanton würde das rund 12,5 Millionen Franken kosten, wenn pro Gesuch 25’000 Franken ausbezahlt würden, so wie beim nationalen Solidaritätsbeitrag für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen . Geht es nach dem Kanton Thurgau, soll sich auch die Pharmaindustrie an den Entschädigungen beteiligen. Laut Gesundheitsdirektor Martin endeten aber erste Gespräche mit Vertretern der Pharmaunternehmen ohne Ergebnis. Auf Anfrage des Beobachters wollte ein Sprecher von Novartis keine Stellungnahme abgeben.
Walter Emmisberger, an dem als Kind und Jugendlichem jahrelang nicht zugelassene Substanzen ausprobiert wurden und der sich seit bald zehn Jahren für eine Aufarbeitung einsetzt, zeigt sich erleichtert: «Endlich zahlt sich mein Engagement aus. Ich hoffe, dass es nun zügig vorwärtsgeht und die Betroffenen diese finanzielle Entschädigung bald erhalten.»
Im Nationalrat vorderhand kein Thema
Auf nationaler Ebene forderte SP-Nationalrätin Gabriela Suter schon vor zwei Jahren eine Entschädigung für Opfer solcher Medikamentenversuche. Doch das Thema wurde bisher noch nicht einmal im Parlament beraten. Ob es jemals eine schweizweite Regelung geben wird, ist ungewiss.
Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.
Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.