Es hatte einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, bis sich der Buchantiquar ausgerechnet die drei Bände mit den Reden des Staats- und Parteichefs in Schweizer Franken hatte zahlen lassen. Aber schliesslich hatte er eingewilligt. Und so sass Günter Wichert* nun im Ostberliner Hotelzimmer und las seiner Frau Margrit* eine Rede von Erich Honecker vor. Die beiden amüsierten sich über dessen verschwurbelte Formulierungen.

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Günter Wichert war Ciba-Geigys Studienkoordinator in der DDR für Tests mit den nie zugelassenen Antidepressiva Brofaromin und Levoprotilin. Seine Reisen ins sozialistische Deutschland schildert er heute als Räubergeschichten, doch es ging ums Geschäft. Die DDR stand vor dem Bankrott, und das Regime war zu allem bereit, was Devisen einbrachte. So verkauften die DDR-Oberen sogar ihre eigenen Bürger an die westliche Pharmaindustrie.

Für etliche Patienten endeten diese Arzneimittelversuche tragisch. In Lostau etwa war der Belastungstest für Patient Nummer 29 zu viel. Der 67-jährige Herzkranke brach beim Test mit dem Ergometer zusammen und wurde eilends aus dem Zimmer gebracht. In den Akten zum Zwischenfall steht: «verstorben am 20. 11. 1989 (akutes Herzversagen nach Rechtsherzkatheter-Untersuchung)».

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Vier von 30 Testpatienten kamen zu Tode

Patient Nummer 30, Zimmerkollege Hubert Bruchmüller, nahm am gleichen Medikamentenversuch teil. Erst Jahrzehnte später erfuhr er, dass sein Zimmergenosse den Zwischenfall nicht überlebt hatte. Bruchmüller erinnert sich: «Als ich mich damals erkundigte, sagte man mir nur, dem Mann gehe es nicht besonders gut.»

Patient Nummer 29 war nicht der einzige Herzkranke, der im Herbst 1989 bei diesem Versuch zu Tode kam: Vier von 30 Testpatienten überlebten das Experiment mit dem noch nicht zugelassenen Medikament nicht. Patient «H. H.» starb ebenfalls im Zuge einer Herzkatheteruntersuchung. Und «E. H.», im Test die «Nr 26», erlag einem «akuten Linksherz-Versagen». Fast zur selben Zeit starb im 190 Kilometer entfernten Erfurt ein weiterer Patient. «K. S.», erst 57-jährig, erlitt einen plötzlichen Herztod.

Was die Patienten nicht wussten: Sie alle hatten an einer klinischen Studie für Spirapril, einen Blutdrucksenker, teilgenommen. Der Auftraggeber kam aus der Schweiz: Sandoz, heute Novartis. Beim Spirapril-Test von 1989 handelte es sich um eine sogenannte Phase-III-Studie, einen für die Medikamentenzulassung nötigen Doppelblindversuch (siehe nachfolgende Grafik). Weder die Patienten noch die Ärzte wussten, wer den neuartigen Blutdrucksenker erhielt oder bloss eine Pille ohne Wirkstoff schluckte. Bruchmüllers Zimmernachbar erhielt die Placebo-Pille, wie aus den Akten hervorgeht. Er selber hat nie erfahren, ob ihm Tabletten mit oder ohne Wirkstoff verabreicht wurden. «Vermutlich habe ich das Medikament erhalten, sonst wäre ich wohl auch gestorben», sagt der heute 59-Jährige aus Sachsen-Anhalt. Das Pillendöschen hat er aufbewahrt. Heute ist es ein Beweis für ein unrühmliches Stück Medizingeschichte der Schweiz.

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Mit Bedacht die DDR gewählt

Allein die Zahl der Schweizer Firmen, die in der DDR Pillen testeten, übertrifft alles bisher Bekannte. Für die Recherchen konnte der Beobachter auf teilweise unerschlossene Aktenbestände des Bundesarchivs in Berlin zugreifen, mit zahlreichen Verträgen, Rechnungen, Zahlungsbelegen, Vereinbarungen, Sitzungsprotokollen, die die Aktivitäten von Schweizer Firmen im Unrechtsregime belegen. Dazu kommen über 1400 Seiten aus Akten der Staatssicherheit, die dem Beobachter vorliegen.

Zuvorderst mit im Geschäft waren Sandoz und Ciba-Geigy – beide heute gemeinsam als Novartis weltweit die Nummer zwei auf dem Pharmamarkt –, aber auch Roche. Oder Zyma (seit 1986 ein Teil der Ciba-Geigy), Serono, Syntex (seit 1994 Roche) oder Essex, heute ein Teil des Multis MSD. Sie alle prüften wie andere westliche Pharmafirmen ihre Medikamente in der DDR – gegen Bluthochdruck und Herzinsuffizienz, gegen Angstzustände und Depressionen, gegen Asthma und Allergien oder auch zur Bekämpfung von Krebs. Ziel der Experimente war in den meisten Fällen die Zulassung durch die Gesundheitsbehörde.

Einige dieser Substanzen kamen gar nie auf den Markt – der Grund ist unbekannt, die Studien blieben unveröffentlicht. Andere machten eine unrühmliche Karriere. Der Blutdrucksenker Spirapril etwa, den man dem Patienten Bruchmüller in Lostau verabreicht hatte, wurde 1994 in der Schweiz zugelassen und schon 1998 wieder aus dem Verkehr gezogen. Parlodel (Bromocriptin), ein weiteres Sandoz-Medikament, wurde 1989 als Abstillmittel verboten, nachdem es in den USA zu Todesfällen gekommen war. Vom Markt verschwand auch Tigason von Roche. Die ausgiebig getesteten Antidepressiva von Ciba – Brofaromin und Levoprotilin – wurden in der DDR nie zugelassen. Auch hier war es zu Todesfällen gekommen.

Andere ebenfalls in der DDR getestete Stoffe wie Cyclosporin – besser bekannt unter dem Namen Sandimmun – brachten später Betroffenen von Transplantationen grossen Nutzen und bescherten Sandoz Umsätze in Milliardenhöhe.

Die westlichen Konzerne wählten mit der Deutschen Demokratischen Republik einen Staat, den die bürgerliche Politik in der Schweiz als diktatorischen Unrechtsstaat verteufelte – und von dem sie wirtschaftlich schamlos profitierten, wie sich nun zeigt. Nach der Wende 1990 schrieben erste Medien über die fragwürdigen Tests, und seit die ARD Ende letzten Jahres und nun auch der «Spiegel» das Thema aufgriffen, müssen sich die Pharmakonzerne unbequeme Fragen zu Moral und Ethik ihrer Forschung gefallen lassen.

Bis heute wollen Novartis und Roche als wichtigste Schweizer Pharmakonzerne nicht darüber sprechen: Man unterstütze aber die Aufarbeitung und sei bereit, mit den Forschern des nun gestarteten Projekts des deutschen Bundesinnenministeriums zusammenzuarbeiten. Für alle anderen bleiben damit die Archive in den Konzernen geschlossen.

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«Billige Versuche immer schwieriger»

Die DDR-Oberen hatten in den sechziger Jahren damit begonnen, westliche Medikamente gegen harte Devisen an eigenen Patienten zu testen. Roche war 1974 mit ersten Tests aktiv (Madopar). Sandoz prüfte 1975 in der DDR Calcitonin. Dokumentiert ist auch ein Versuch von Ciba-Geigy im Jahr 1977. In die DDR ausgewichen waren die Pharmakonzerne, weil die Tests im Westen immer teurer und die Gesetze immer strenger wurden. In einer Tonbandabschrift zitiert ein Stasimitarbeiter mit dem Decknamen «Schubert» einen Sandoz-Verantwortlichen, es werde «immer schwieriger», die Versuche «billig, möglichst umfangreich und wissenschaftlich genau über die Bühne zu bringen».

Jetzt zeigen Dokumente aus dem Archiv der Staatssicherheit, dass spätestens 1978 ein reger Testtourismus etabliert war.

Viele Studien fanden in der für die Zulassung wichtigen Phase III statt: Tests an Gruppen von mehreren hundert Patienten. Immer wieder waren aber auch Versuche der Phase II mit nur 10 oder 20 Personen darunter, also in einem Stadium, in dem Forscher wenig über Nebenwirkungen wissen. Aus einem Protokoll des Zentralen Gutachterausschusses der DDR – Fachgremium, Aufsichtsstelle und Ethikkommission in einem – geht hervor, dass auch Versuche der Phase I durchgeführt wurden.

Ein Meilenstein in der kommerziellen Nutzung der eigenen Bürger war der 23. August 1983. Damals unterzeichnete der stellvertretende Gesundheitsminister der DDR, Genosse Ulrich Schneidewind, die «Ordnung zur Durchführung von honorierten klinischen Auftragsuntersuchungen». Damit verordnete die Staatsführung gewissermassen, die Zahl der Versuche sei auszuweiten. Das Ziel: mehr Devisen für den klammen Arbeiter-und-Bauern-Staat.

Federführend für die gewinnträchtigen sogenannten immateriellen Exporte war das «Beratungsbüro für Arzneimittel (Import) beim Ministerium für Gesundheitswesen der DDR». An der Spitze dieser kleinen Truppe stand Oberpharmazierat Joachim Petzold. In seinem Büro an der Schönhauser Allee 8 empfing er Vertreter aller wichtigen westlichen Pharmafirmen und pries ihnen neues «Patientengut» für weitere Tests an.

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Pharmafirmen aus aller Welt taten mit

Die Besucherlisten aus dem Stasiarchiv lesen sich wie ein Who’s who der Pharmawelt. Firmenvertreter aus der Schweiz, der damaligen BRD, Grossbritannien, Frankreich, den USA. Alles, was Rang und Namen hatte, sprach bei Petzold vor: Hoechst, Boehringer Mannheim (heute bei Roche), Bayer, Schering, Pfizer. Im mächtigen Bau lagerte Petzold auch gleich jene Medikamente ein, die Westfirmen für die Tests nach Ostberlin gebracht hatten. Noch heute ist an der Fassade trotz längst abmontierten Buchstaben der Schriftzug «Apotheke» zu lesen.

Im Rahmen dieser «immateriellen Exporte» fädelte Petzolds Büro von 1983 bis zur Auflösung der DDR im Oktober 1990 Tests für mindestens 180 Medikamente an über 150 Spitälern und Kliniken ein, darunter mindestens 30 Wirkstoffe aus der Schweiz. Wie viele Ostbürger letztlich für Westfirmen Pillen auf Versuchsbasis schluckten, ist unklar. Petzold beziffert dies gegenüber dem Beobachter mit 3000. Doch aus seinen eigenen Akten, die im Bundesarchiv in Berlin bis heute als «Chef-Ablage» lagern, wird die Zahl der Patienten allein für die Jahre 1985 bis 1987 mit 5500 angegeben.

Patienten wurden im Ungewissen gelassen

Auch diese Zahl dürfte zu niedrig sein. Denn 1988, 1989 und noch Anfang 1990 waren Petzold und sein Team äusserst aktiv. Der deutsche Pharmaziehistoriker Volker Hess spricht von rund 600 Testreihen, die in der DDR zwischen 1970 und 1990 liefen (siehe nachfolgendes Interview). Viele Betroffene wussten vermutlich wenig oder gar nichts über die Versuche. Auch wenn das Arzneimittelgesetz der DDR von 1964 den Fall regelte: Bei Versuchen der Phasen I, II und III hätten Patienten ihr Einverständnis zwingend schriftlich geben müssen. In der Krankenakte von Spirapril-Proband Bruchmüller ist davon allerdings nichts zu finden: «Mir hat nie jemand gesagt, dass ich bei einem Medikamententest mitmache.»

Der Medizinhistoriker Rainer Erices, der seit Monaten die Akten zu den Medikamententests durchforstet, geht davon aus, dass Patienten immer wieder im Ungewissen gelassen wurden: «Ich habe Listen gefunden, bei denen in der Rubrik ‹Patient wurde aufgeklärt› das entsprechende Kreuz fehlte oder gar ausradiert wurde», sagt er. «Manch ein Patient wurde gar nicht erst informiert und auch nicht schriftlich um Einwilligung gebeten. Offenbar ein klarer Verstoss gegen das Patientenrecht.» Er ist überzeugt, dass in der DDR auch Tests genehmigt wurden, die im Westen bei Bekanntwerden Probleme bereitet hätten. Er habe zudem Hinweise, dass einige Firmen aus dem Westen auf die Aufklärung der Probanden «nicht sehr viel Wert legten».

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Hoechst wünschte Studie an Todkranken

Die DDR-Führung agierte opportunistisch. Verlangte eine Westfirma, dass ein Versuch von einer Ethikkommission geprüft wurde, übernahm dies kurzerhand der Zentrale Gutachterausschuss. Den internationalen Anforderungen an einen Ethikrat genügte dieses fachliche Beratungsgremium aber nur schon wegen seiner Zusammensetzung nicht – Ethiker waren keine vertreten. Trotzdem stellte die DDR ein «Zertifikat» aus.

Original-Dokumente

Protokoll des Spitzel «Franz» zum Besuch der Sandoz in Basel und der Uni in Zürich:
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Abbruch eines Medikamentenversuchs durch Suizid mit Leuchtgas:
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Bericht «Medikamentestung an der Charité»:
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Beleg der Firma Sandoz einer Geldüberweisung zum Medikamentenversuch «Miacalcic»:
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Vereinbarung für Medikamentenversuch Moclabemid der Firma La Roche:
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Vereinbarung der Sandoz für eine Thromboseprophylaxe-Studie
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Protokoll des Aufsichtsgremiums der DDR über «Events im Rahmen der klinischen Prüfung» (Todesfälle):
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Die DDR-Staatsmedien feierten jeden Besuch in der Schweiz als Erfolg

Zeitungsauschnitt «Neues Deutschland» vom 22.11.1980

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Zeitungsausschnitt «Neues Deutschland» vom 2.12.1988

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Auch die grossen Pharmakonzerne zeigten wenig Skrupel. So verlangte etwa die Firma Hoechst für eine Doppelblindstudie des Blutdrucksenkers Ramipril DDR-Patienten, die einen systolischen (oberen) Blutdruck von mindestens 200 hatten, «im bereits fortgeschrittenen Stadium der Krankheit», wie es in den Akten heisst. Ein Teil dieser Patienten sollte mit Placebos behandelt werden. Für diese Gruppe Schwerkranker kam das praktisch einem Todesurteil gleich. Das Ansinnen von Hoechst war selbst dem auf Westgeld angewiesenen DDR-Gesundheitsministerium zu ruchlos: «Nach Auskunft des Staatssekretärs Genosse Prof. Schneidewind wird solchen Bedingungen nicht zugestimmt werden», heisst es in einem Protokoll der Staatssicherheit. Heute ist Ramipril ein anerkanntes und breit eingesetztes Medikament gegen Herzinsuffizienz.

Den Kliniken schrieb die Staatsführung Gehorsam vor und gab ihnen Anweisungen bis ins Detail. Als sich die Aktivitäten mit den Pillentests ihrem Höhepunkt näherten, hielt Oberpharmazierat Petzold in einer Aktennotiz sogar fest, wie die Sprachregelung bei Zwischenfällen zu lauten habe: «Bei der Bewertung […] sollte sinngemäss die Formulierung verwendet werden, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Kausalzusammenhang zwischen der beobachteten Nebenwirkung und dem Arzneimittel festzustellen sei.»

Als Geschenk: Kalender aus der Schweiz

Einige Kliniken versuchten sich im Staat des Mangels selber zu helfen, sie besorgten sich Arzneien und medizintechnische Geräte auf eigene Faust – auch über inoffizielle Kanäle. So meldete ein inoffizieller Stasimitarbeiter (IM) seinem Führungsoffizier, er habe im Dezember 1988 «inoffiziell» vernommen, dass Prof. ■■■ im Frühling 1988 von der Schweizer Firma Geistlich Pharma, Wolhusen LU, ein Medikament mit dem Namen Taurolin erhalten habe. «Wie Prof. ■■■ gegenüber dem genannten IM äusserte, beläuft sich die Menge der Ampullen auf einen Wert von ca. 30'000 DM. Eine Überprüfung beim Ministerium für Gesundheitswesen ergab, dass Taurolin in der DDR weder vertrieben noch als Medikament bestätigt ist. […] Es ist nicht auszuschliessen, dass er [der Professor] Testergebnisse an die Firma Geistlich Pharma übermittelt.» Finanzielle Vorteile für den Professor, so schloss der Stasimann seinen Bericht, seien «nicht auszuschliessen». Die Luzerner Firma bestätigt die Lieferungen, verweist aber darauf, dass ihr Produkt im Westen damals zugelassen war.

Westfirmen blieb der direkte Zugang zu Ärzten verwehrt – ausser an der Leipziger Messe. Hier traf man sich zum Austausch – und vor allem zu Vertragsunterzeichnungen. So auch Günter Wichert, Cibas Mann für die Antidepressiva-Studien. Am 19. März 1987 einigte er sich mit dem zuständigen Klinikarzt K. aus Jena und Petzolds Stellvertreter kurzum auf 500 Franken für jedes auswertbare Patientenformular. Ciba-Geigy, Sandoz und Roche waren jeweils in Leipzig alle mit eigenem Messestand präsent. Für die Ärzte und Behördenvertreter gab es Alkohol und kleine Geschenke. Als Ciba-Geigy 1986 Studien zu seinem Antidepressivum Brofaromin einfädelte, bedankte sich ein Arzt gemäss einem Stasirapport für den «Geigy-Kalender mit den so wunderbaren Fotos der Schweizer Bergwelt».

Ein anderes Mal notierte ein Stasispitzel, der Stand von Roche sei geschlossen gewesen, «obwohl Vertreter auf dem Stand waren». Dazu beobachtete er: «Es war feststellbar, dass sie dem Alkohol eifrig zusprachen.» Die Stasi interessierte sich auch für Sandoz (siehe nachfolgender Abschnitt «Spitzel ‹Franz›: So horchte er die Sandoz aus»). Geschenke hielten aber nicht nur die medizinische Basis bei der Stange, sondern auch die Behörde. Längst war der Staat de facto pleite und auf Devisen und Geschenke des Westens angewiesen. Stolz protokollierte Petzold am 9. November 1988, Sandoz habe als «kostenlose Beistellung» einen «Overheadprojektor» überbracht.

Dazu zahlte die heutige Novartis einen «Personalcomputer». Serono schenkte 100'000 Blatt Kopierpapier, Hoechst lieferte ebenfalls einen Computer sowie einen Fotokopierer. Manchmal gab es einfach nur Schreibzeug.

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Die Spitäler gingen meist leer aus

Schweizer Pharmafirmen scherten sich bei ihren Kontakten mit der DDR-Diktatur wenig um Politik und Menschenrechte. Das Geschäft ging vor – und es lief gut.

Ciba-Geigy pflegte schon in den siebziger Jahren enge Kontakte zur DDR. Verwaltungsratspräsident Louis von Planta hatte einen direkten Draht zur Machtzentrale der Sozialisten: «Ich habe in dieser Woche drei Tage in der DDR verbracht», rapportierte er im September 1979 dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement: «Mein Gastgeber war Staatssekretär Dr. Beil vom Aussenhandelsministerium. Ich habe bewusst den Besuch als Präsident der Ciba-Geigy gemacht und mit den verschiedenen Ministerien grundsätzliche Fragen, die das Verhältnis der DDR zur Ciba-Geigy betreffen, diskutiert.» Er schloss mit der DDR langjährige Abkommen und sicherte sich einen wichtigen Absatzmarkt.

Wie viel Geld die DDR mit den Tests verdiente, ist unklar. Eine Bilanz für die Jahre 1983 bis 1988 nennt Einnahmen von 6,78 Millionen «Valutamark», der internen Verrechnungseinheit der DDR. Womöglich trugen die Versuche aber ein Vielfaches ein. Das Geld landete mehrheitlich in der Staatskasse, die Testkliniken und -spitäler gingen meist leer aus. Sie kämpften mit den Widrigkeiten des Alltags. Im Herbst 1989 etwa war im Agricola-Krankenhaus in Saalfeld das Ultraschallgerät defekt – aber kein Geld da für die Reparatur. Spitalchef P. musste wegen 72 DM beim Ministerium für Gesundheitswesen einen Devisenantrag stellen. Das Ultraschallgerät konnte daher mindestens acht Wochen nicht eingesetzt werden. Also bat P. vier Tage vor dem Mauerfall den allmächtigen Petzold inständig um einen Teil der Einnahmen aus der Bunazosin-Studie von Sandoz. «Es wäre gut, wenn unser Krankenhaus Devisen, und wäre es auch nur ein kleiner Betrag, zur Selbstfinanzierung hätte.»

Heute wird in Schwellenländern getestet

Petzold selber erhielt zwei Wochen später eine Prämie von 1652 Mark ausbezahlt – für seine «geleistete Arbeit bei der Organisation und Durchführung von klinischen Auftragsuntersuchungen». Nach der Wende wurde er wieder Apotheker. Der Ciba-Geigy-Vermittler Günter Wichert zog nach Australien.

Und die Pharmaindustrie ihrerseits verlagerte ihre klinischen Versuche in Schwellenländer – erneut sind die Pillentests viel billiger als hier und die Länder wiederum alles andere als Musterknaben, was die Patientenrechte betrifft.

Spitzel «Franz»: So horchte er die Sandoz aus

Die DDR war nicht nur an Medikamententests und Devisen interessiert. Zu Verhandlungen schickte sie auch Spionein die Schweiz – auf Kosten von Sandoz, wie ein dem Beobachter vorliegendes Stasiprotokoll zeigt.

«Franz» und sein Begleiter reisten via Frankfurt nach Basel. Dort hatte Sandoz im «Basler Hof» Zimmer für die Gäste aus der DDR reserviert. Am Empfang lag zur Begrüssung ein Kuvert bereit. Die Gäste sollten sich wohl fühlen: «Wir wurden in Ein-Bett-Zimmern untergebracht und konnten unsere Mahlzeiten auf Kosten der Firma S. im Hotel einnehmen. Ausserdem erhielten wir jeder 100 Schweizer Franken zu unserer persönlichen Verwendung.»

Der Mann, den die Sandoz vom 14. bis 20. Mai 1989 bewirtete und herumführte, war nicht allein Biochemiker, sondern auch Stasispitzel. Das DDR-Regime verkaufte nicht nur die eigenen Bürger den Pharmakonzernen zu Testzwecken, es wollte die Kontakte in den Westen auch zur Industriespionage nutzen. Der auf die Sandoz angesetzte Stasispitzel legte Wert auf Details: «Am 16. wurden wir von Dr. ■■■ , Leiter der präklinischen Forschung der Sandoz, im Hotel abgeholt, und wir fuhren mit der Strassenbahn in den Hauptsitz der Firma am Rheinufer», berichtete er seinem Führungsoffizier. Und in Klammern: «Dr. ■■■  selbst wohnt in Bern und fährt jeden Tag mit der Bahn nach Basel und mit der Strassenbahn in den Betrieb, da er ein Gegner des Autofahrens und sehr umweltbewusst ist, wie er uns während der Strassenbahnfahrt versicherte.» Bei der Anmeldung staunte der vom technischen Standard des Westens beeindruckte «Franz» über die «grosse Akribie», mit der man die Besucher behandelte: «Ich konnte beobachten, dass alle Mitarbeiter einen Chip trugen, der einen Ausweis unterschiedlicher Farbe mit farbigem Passfoto enthielt und von den Frauen an einer Kette getragen wurde.» Zudem beobachtete «Franz» eine «vorbildliche Ordnung und Sauberkeit».

Ob man sich bei Sandoz bewusst war, dass man es mit Agenten der Staatssicherheit der DDR zu tun hatte? Klar ist, dass man es an nichts mangeln liess. Es gab ein «Mittagessen im Besucherrestaurant der Firma, in dem auch Mitarbeiter der Firma ab Vizedirektor essen» – und jede Menge Gespräche mit Mitarbeitern. So unterhielten sich die DDR-Spione mit dem Leiter der Sandoz-Patentabteilung «über die vertragliche Ausgestaltung der anzustrebenden Zusammenarbeit». Einzig ein Blick in das Computersystem blieb den Besuchern verwehrt: «Über das Patentinformationssystem befragt, erhielt ich nur ausweichende Auskunft, und uns wurden auch keine anderen Räume gezeigt, die einen von aussen gut gesicherten Eindruck machten und, obwohl es sehr warm war, verschlossen waren (elektronische Türverschlüsse mit Zifferncode).» Dafür öffnete Sandoz den Spitzeln andere Türen. An der Uni Zürich, die man am vierten Tag des Aufenthalts besuchte, kam man mit Professoren zusammen. Besonders interessierten sich die Besucher für einen Professor, der in der DDR geboren und vor 1960 in den Westen emigriert war. Erstaunt notierte «Franz», dass die Gespräche «sehr sachlich und unpolemisch» waren.

Zum Essen mit zwei Professoren in einem Zürcher Hotel wird notiert: «Prof. ■■■■■■  machte dann noch mit uns einen längeren Spaziergang durch Zürich und zeigte uns einige Sehenswürdigkeiten […]. Mit grosser Sachkenntnis sprach er über die Ausländerpolitik der Schweiz, die sehr streng gehandhabt werde, jedoch nicht verhindern konnte, dass die Schweiz grosse Drogenprobleme hat.»