Die Kraft, die aus der Mitte kommt
Dem Beckenboden schenken Frauen lange keine Beachtung. Bis man plötzlich Mühe hat, den Urin zu halten. Dann hilft nur eins: ein gezieltes Training.
aktualisiert am 18. Mai 2022 - 11:25 Uhr durch
Der Körper ist jung und vital, alles funktioniert einwandfrei. Wer denkt da schon daran, Muskeln vorbeugend zu trainieren, die man gar nicht spürt? Eben. Genau so verhält es sich mit dem Beckenboden. In jungen Jahren sind Muskeln und Bindegewebe im Unterleib in der Regel stark und elastisch. Erst mit der Zeit – nicht selten schon vor den Wechseljahren – kann es zu einer Beckenbodenschwäche kommen.
Dahinter steckt vor allem ein Schwächer- und Nachgiebigerwerden der Muskeln des Beckenbodens. Oft spricht man von Bindegewebsschwäche: Die Elastizität des Gewebes und auch der Bänder, die die Organe im Unterleib festhalten, nimmt ebenfalls ab.
Häufigster Grund einer Beckenbodenschwäche ist die Überbelastung der Muskulatur: insbesondere Schwangerschaft und Geburt, Übergewicht , tagelanges Stehen – zum Beispiel bei Verkäuferinnen – oder schwere körperliche Arbeit, wie etwa in Pflegeberufen oder im Haushalt mit Kleinkindern.
Auch eine schlechte Haltung , Sitzen mit rundem Rücken, chronische Verstopfung, dauernder Husten oder Operationen im kleinen Becken können dem Beckenboden arg zu schaffen machen und ihm die Spannkraft rauben.
Der Beckenboden besteht aus drei übereinanderliegenden Muskelschichten, die zusammenspielen. Die Muskeln sind vor allem am knöchernen Becken befestigt. Sie stützen die Organe des kleinen Beckens, also Blase, Gebärmutter, Scheide und Darm, und dichten den Unterleib quasi nach unten ab.
Der Beckenboden reicht vom Schambein bis zum Steissbein und von Sitzbeinhöcker zu Sitzbeinhöcker. Sie können sich den Beckenboden als umgekehrten Regenschirm oder als Hängematte mit Löchern vorstellen. Denn die Schichten des Beckenbodens, die etwa die Dicke einer Hand haben, umschliessen die Körperöffnungen – entsprechend gibt es Aussparungen für die Scheide, die Harnröhre und den Enddarm.
Durch ein Dehnen oder Zusammenziehen seiner Muskelschichten unterstützt der Beckenboden das Entleeren des Darms und der Harnröhre – und seine Elastizität ist eine wichtige Voraussetzung für den Geschlechtsverkehr und das Gebären.
Häufige Folge einer Beckenbodenschwäche ist eine leichte Harninkontinenz , die aber mit Beckenbodentraining gut zu behandeln ist. In schwereren Fällen kann es zu einer Absenkung von Gebärmutter, Blase oder Darm mit einer Harn- oder sogar Stuhlinkontinenz kommen.
Frauen leiden dann vermehrt an Entzündungen der Harnwege oder der Scheide und verspüren Schmerzen im unteren Rücken , die meist im Liegen bessern. Auch der Geschlechtsverkehr kann schmerzhaft sein. Im schlimmsten Fall tritt ein Teil der Blase oder des Enddarms mit der entsprechenden Scheidenwand oder dem Gebärmutterhals aus dem Scheidenausgang hervor (dieser Vorgang wird Vorfall genannt).
Beckenbodenprobleme sind aber kein Grund, den Kopf hängen zu lassen: Mit einem regelmässigen kleinen Trainingsprogramm (siehe Infobox) und dem Beherzigen einiger Verhaltensregeln kann man die innere Mitte festigen – und Beckenbodenprobleme beseitigen.
Ein kleiner Trost: Auch Männer, die zwar einen weit kräftigeren Beckenbodenmuskel ihr eigen nennen, sind nicht vor Beckenbodensorgen gefeit. Ihnen hilft das Training bei Inkontinenz, Erektionsproblemen oder bei Beschwerden der um das 50. Lebensjahr langsam wuchernden Vorsteherdrüse, der Prostata.
Machen Sie sich mit der Lage des Beckenbodens, seinem Aufbau und seinen Funktionen vertraut. Denn nur so können Sie diese wichtige Muskelgruppe isoliert anspannen, gezielt kräftigen und wieder entspannen. Der erste Schritt in jedem Beckenbodengymnastikkurs ist deshalb: in sich hineinfühlen und sich die Muskulatur des Beckenbodens bewusst werden lassen.
- Die äusserste Beckenbodenschicht legt sich wie eine Acht um die Scheide mit Harnröhrenausgang und den After. Diese Muskelschicht fühlen Sie, wenn Sie mit den Schamlippen «blinzeln»: Es bewegt sich dann unwillkürlich der dazugehörende Ringmuskel um den After mit. Links und rechts vom Schambein führt zudem ein kleiner Muskel zu den beiden Sitzbeinhöckern. Vielleicht spüren Sie auch diese Muskeln.
- Die mittlere Schicht stützt den Urogenitaltrakt, also Blase, Gebärmutter, Eierstock und Scheide. Sie hat die Form einer dreieckigen Platte und erstreckt sich vom Schambein bis zu den Oberschenkelgelenken. Die mittlere Beckenbodenschicht zieht sich fühlbar zusammen, wenn Sie sich auf einen Stuhl ohne Polster setzen und versuchen, die beiden knöchernen Sitzbeinhöcker zueinanderzuziehen. Falls Sie die Sitzbeinhöcker nicht spüren: Ruckeln Sie etwas auf dem Stuhl, damit Sie das Aufliegen der Sitzbeinhöcker auf der Sitzfläche wahrnehmen. Spannen Sie die mittlere Muskelschicht an, ziehen sich auch andere Muskelgruppen unwillkürlich zusammen: Gesäss-, Bauch- und Rückenmuskeln arbeiten mit.
- Die innerste Muskelschicht stützt den Darm. Sie ist am grossflächigsten und füllt quasi das ganze Areal vom Schambein bis zum Steissbein und bis zur Hüftmuskulatur links und rechts aus. Die innerste Muskelschicht können Sie nicht so direkt spüren, eher erahnen. Dennoch ist es wichtig zu wissen, dass es sie gibt und welche Übungen diese dritte Schicht effektiv trainieren.
Im Alltag bieten sich viele Gelegenheiten, Ihrem Beckenboden Gutes zu tun. Sie können ihn trainieren. Und es lohnt sich auch ein pfleglicher Umgang: Der weibliche Beckenboden sollte nämlich – anders als der männliche – vor ungünstigen Belastungen geschützt werden.
- Haltung bewahren, Ladies! Ein runder Rücken drückt auf den Beckenboden, fordert dessen Stützfunktion und überfordert mit der Zeit die Muskeln. Die beckenbodenfreundliche Haltung ist majestätisch gerade: Stehen und gehen Sie mit einem aufrechten, geraden Rücken. Stellen Sie sich dabei vor, Ihr Hinterkopf werde von einem unsichtbaren Band gen Himmel gezogen, quasi als Verlängerung der Wirbelsäule. Gut zu wissen: Ein straffer, trainierter Beckenboden sorgt von allein für eine gute Haltung – was wiederum den Beckenboden schont.
- Mit beiden Füssen auf dem Boden: Vermeiden Sie einen fersenbetonten Gang, verteilen Sie stattdessen das Gewicht auf Ihrem ganzen Fuss. Setzen Sie beim Treppensteigen jeweils nur den Vorderteil des Fusses auf die Stufe und spannen Sie dabei den Beckenboden an.
- Ein Lob auf die Schrittstellung! Bei allen Tätigkeiten im Stehen wie Zähneputzen, Abwaschen, Bücher aus dem Regal nehmen: Stellen Sie Ihre Füsse nicht nebeneinander, sondern in die sogenannte Schrittstellung, also einen Fuss eine Fusslänge vor den andern. So bleiben Sie aufrecht und ihr Beckenboden spannt sich. Bei Arbeiten auf einer Leiter steht ein Fuss eine Sprosse höher als der andere.
- Richtig bücken, heben, tragen: Heben Sie Gewicht mit geradem Rücken. Und gehen Sie zuvor in die Hocke. Spannen Sie den Beckenboden an, wenn Sie sich wieder aufrichten. Heben Sie schwere Gegenstände stufenweise hoch – kurz an den Oberschenkeln abstützen – und tragen Sie sie oberhalb des Bauchnabels. Einkaufstaschen oder Ähnliches möglichst auf beide Arme verteilen. Und die (gestreckten) Arme mit den Tüten dann hinter den Hüftknochen halten: Auch das spannt den Beckenboden automatisch an.
- Gentlemen gefragt! Dem Beckenboden zuliebe tabu für Sie: das Schieben von Schränken, Kommoden und so weiter, das Heben von schweren Gegenständen oder das Stossen von stark beladenen Schubkarren. Lassen Sie sich hierbei ohne Skrupel vom starken Geschlecht helfen: Diese Belastungen sind nur etwas für den um einiges muskulöseren männlichen Beckenboden – der dafür auch keine Geburten aushalten muss.
- Bei Anstrengung: ausatmen. Beim Einatmen erhöht sich der Druck auf den Beckenboden. Versuchen Sie deshalb, wenn Sie sich körperlich anstrengen, wenn Sie etwas Schweres tragen oder wenn Sie hüpfen, gleichzeitig bewusst und ruhig auszuatmen (nicht die Luft anhalten). Ansonsten wird der Beckenboden über die Massen belastet. Wer generell auf seine Atmung achten möchte: Die beckenbodenfreundlichste Atmung ist die Bauchatmung. Sie kann in Atem- oder Beckenbodenkursen erlernt werden.
- Beim Husten oder Niesen: anspannen. Wenn Sie husten oder niesen, drücken die Organe auf den Beckenboden. Bleiben Sie deshalb während Nies- oder Hustenattacken aufrecht, statt sich zu krümmen, und spannen Sie Ihren Beckenboden bewusst an.
- Übergewicht und Verstopfung vermeiden: Übergewicht kann eine Belastung für den Beckenboden darstellen. Auch das Pressen beim Stuhlgang sollten Sie tunlichst vermeiden.
- Regelmässige Bewegung: Jegliche körperliche Aktivität – und die muss nicht unbedingt sportlich ambitioniert sein – kann indirekt den Beckenboden stärken: Indem diese für Frauen besonders wichtigen Muskeln bewusst oder unbewusst mitbewegt, angespannt und wieder entspannt werden. Aber nicht jeder Sport ist für Frauen mit vorbelastetem Beckenboden geeignet: Einige Sportarten üben einen grossen Druck auf den Bauch und den Beckenboden aus (Tennis und andere Ballspiele, Joggen, Steptanz, Trampolin).
Das Beckenbodentraining bringt am meisten, wenn Sie es regelmässig durchführen. Am besten üben Sie mehrmals täglich während einiger Minuten – ein Leben lang! Manche Übungen eignen sich nur für zu Hause, andere lassen sich überall durchführen. Spannen Sie bei den folgenden drei Übungen die einzelnen Muskeln für sieben Sekunden oder länger so stark wie möglich an. Anschliessend wieder bewusst locker lassen.
Erfolg stellt sich bald ein: Schon nach ein paar Tagen Training werden Sie spüren, dass Sie die Anspannung der Muskeln länger halten können und dass sich der Beckenboden kräftiger anfühlt.
- Auf dem Stuhl
Bei dieser Übung werden die Muskeln der äussersten Beckenbodenschicht trainiert: Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit zuerst zum hinteren Beckenbodenbereich und versuchen Sie den ringförmigen Schliessmuskel um den After herum mehrere Male hintereinander zu «schnüren». Jetzt wenden Sie sich dem vorderen Beckenbodenbereich zu: Spannen Sie den Muskel um die Scheide an und «blinzeln» Sie etwa 30-mal hintereinander. Diese Übungen können Sie im Büro, im Tram oder im Café durchführen, ohne aufzufallen. -
Auf dem Rücken
Legen Sie sich auf den Rücken, die Arme locker neben dem Körper, die Füsse hüftbreit vor dem Gesäss aufgestellt. Spannen Sie nun die Mitte des Beckenbodens an und versuchen Sie die Spannung möglichst lange zu halten. Stellen Sie sich vor, dass ein kleiner Lift Zentimeter um Zentimeter in der Scheide zum Gebärmutterhals hinauffährt. Anschliessend lassen Sie den Lift langsam wieder Stockwerk für Stockwerk herunterkommen. Dabei immer ruhig weiteratmen! Von Mal zu Mal werden Sie die Spannung länger halten können. Geübte Frauen können dabei bis zehn zählen. -
Im Stehen
Stellen Sie sich mit gespreizten Beinen aufrecht hin. Beide Hände liegen sanft auf ihren Pobacken. Ziehen Sie nun die tieferen Beckenbodenmuskeln (also das Zentrum des Beckenbodens) nach oben und innen – währenddessen ausatmen. Die Gesässmuskulatur soll möglichst nicht mithelfen – ob die Pobacken locker bleiben, kontrollieren Sie ganz einfach mit Ihren Händen. Dieselbe Übung ohne Handauflegen ist übrigens wunderbar dazu geeignet, sich die Zeit beim Warten auf den Zug oder in einer Schlange vor der Ladenkasse zu vertreiben!
Achtung: Diese Kurzanleitung kann keinen Beckenbodengymnastik-Kurs ersetzen. Dort treffen Sie nicht nur Frauen mit demselben Vorsatz, sondern erhalten auch Anregungen für ein gezieltes Training und Tipps für einen beckenbodenschonenden Alltag. Beckenbodenkurse bieten zum Beispiel Hebammen, Physiotherapeutinnen, Rücken- und Sportschulen an.
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