Der Wald ist das Ziel
Bäume umarmen? Sich ins nasse Laub legen? Nein, einfach spazieren, eintauchen, zur Ruhe finden. Ein Waldbad mit zwei Experten.
Ein Auto donnert über die Sihltalstrasse Richtung Zug. Eine Heckenschere kreischt los. Die Sonne hat den Asphalt weich geheizt. Aber vom Bahnhof sind es nur wenige Schritte der Sihl entlang und über eine kleine Brücke – schon taucht man in den stillen Sihlwald ein, einen der letzten wilden Wälder des Mittellands.
Der Wanderpfad führt steil bergan. Nach ein paar Dutzend Metern halten wir an. Der 75-jährige Markus Weissert sagt: «Es ist gleich kühler hier.» Der 26 Jahre jüngere Robert Gallmann antwortet: «Ja, und eine ganz andere Geräuschkulisse.» Die beiden Männer kennen sich nicht. Doch beide lieben den Wald – und beide sind überzeugt, dass er sich auf vielfältige Weise positiv auf die Gesundheit auswirkt.
Weissert hat die Neuropädiatrie am Kinderspital St. Gallen geleitet. Seit zehn Jahren ist er beim WWF St. Gallen für das Ressort Wald und Landschaft zuständig und hat die Wirkung des Waldes auf Kinder untersucht. Gallmann ist Jurist bei einem Pharmakonzern. Und schrieb ein Buch über Waldwanderungen im Kanton Bern – zusammen mit dem japanischen Professor Yoshifumi Miyazaki, dem eigentlichen Begründer der Waldbade-Forschung.
«Stadt macht krank»
Um zu verstehen, was den Wald gesund mache, müsse man den Blick nur auf die Stadt richten, sagt Gallmann. Diese künstlich geschaffene Umgebung – sie mache uns krank. Nicht von einem Tag auf den andern. Aber langsam, unerbittlich.
Lärm treibt den Blutdruck in die Höhe und lässt uns schlechter schlafen. Die grauen Betonfassaden langweilen. Die Hektik und die Hitze belasten das Immunsystem. «Der Wald hingegen ist die Umgebung, in der wir Menschen über Zehntausende von Jahren lebten. Mit ihm sind wir im Einklang, an seine Farben, sein Licht und seine Düfte sind wir angepasst. Darum tut uns der Wald so gut.»
Das Waldbaden kommt aus Japan. Die staatliche Forstagentur empfahl zu Beginn der 1980er-Jahre den Wald als Mittel zur Stressbewältigung. Shinrin-Yoku, so der japanische Begriff, meint das «Abtauchen in die Atmosphäre des Waldes». In der Folge begannen verschiedene japanische Forscher, die therapeutische Wirkung des Waldbadens wissenschaftlich zu untersuchen.
So konnten sie schon bald nachweisen, dass sich Atmung, Herz- und Gehirnaktivität verbessern und das Immunsystem gestärkt wird, wenn man sich regelmässig im Wald aufhält. Der Blutdruck sinkt, ebenso der Pegel von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin. Die Durchblutung des Gehirns nimmt ab, es kann sich leichter erholen. Die Konzentration bestimmter Immunzellen erhöht sich. «Die Effekte sind eindrücklich», sagt Markus Weissert.
Sogar bei ADHS wirksam
Für eine Studie habe man Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung in zwei Gruppen eingeteilt. Eine ging 20 Minuten spazieren im Wald, die andere in der Stadt. Das Aufmerksamkeitsvermögen der Waldgruppe erhöhte sich signifikant, das der Stadtgruppe kaum. «Wald wirkt wie eine Dosis Ritalin.» Weissert vergisst vor lauter Erzählen fast, dass wir eine kleine Tour durch den Sihlwald machen wollen.
Waldbaden ist längst auch in der Schweiz angekommen. Der Bundesrat verweist sogar in seiner gesundheitspolitischen Strategie darauf, dass eine intakte Natur eine Voraussetzung für die Erhaltung der Gesundheit sei und das Wohlbefinden fördere.
«Wenn sich jemand ärgert, weil ihm der Wald nicht passt, wird er sich darin nicht erholen.»
Markus Weissert, Neurologe
Gerade die Biodiversität sei wichtig, sagt Markus Weissert, als wir uns wieder in Bewegung setzen und bergan gehen. Die Mikroorganismen des Waldes seien das ideale Trainingssystem für unser Immunsystem. «Wenn wir uns unterschiedlichen Mikroben aussetzen, sind wir besser gerüstet gegen Krankheitserreger.» Es sei keine Überraschung, dass mit der naturferneren Lebensweise Immun- und Autoimmunerkrankungen wie Allergien oder Diabetes Typ 1 enorm zugenommen hätten.
Eine Meise ruft, im Gehölz raschelt es, der Wind greift ins Blättermeer. Weit unten rauscht die Sihltalstrasse nur noch leise. Weissert bleibt wie angewurzelt stehen und sagt: «Sich in einem naturnahen Wald aufzuhalten, ist einfach gesünder, als in einer Monokultur zu stehen.» Nadelbäume setzten besonders viele Terpene frei, die den Cortisolspiegel senken und das Immunsystem stimulieren. Mischwälder wiederum wirkten stärker auf die Herzaktivität und das Nervensystem.
Stress, weil der Wald zu wild ist?
«Den idealen Waldbade-Wald gibt es nicht. Wie er wirkt, hängt immer auch mit dem persönlichen ästhetischen Empfinden zusammen», meint Weissert. Manche hätten es gern aufgeräumt im Wald, anderen gefällt der Wirrwarr eines Sihlwalds mit seinem vielen Totholz besser. «Wenn sich jemand ärgert, weil ihm der Wald nicht passt, wird er sich darin nicht erholen.»
Die beiden gehen gemächlich und konzentriert weiter. Mal zeigt Gallmann auf ein Stück Totholz, mal schaut sich Weissert ein Tännchen an, das von Flechten und Moos überwachsen ist. Bei einem umgekippten Wurzelteller erzählt er von dem Pilzgeflecht im Boden, das den ganzen Wald mit Nährstoffen versorgt. Gallmann deutet dann auf eine Stelle, in der das Licht besonders schön durch das Blätterdach fällt.
«Ich bade am liebsten allein im Wald. So kann ich mich am besten sammeln.»
Robert Gallmann, Jurist
Der Pfad geht in einen Hohlweg über, links und rechts steigt ein Bord an. Quer darüber liegt ein gewaltiger Baumstamm – wie eine Brücke führt er über das kleine Tal. «Der ist toll», sagt Gallmann und klettert sofort hinauf. Weissert stellt sich unter den Stamm und tut, als ob er das zentnerschwere Teil anheben wollte. Es ist, als versetze der Wald die beiden Männer in ihre Kindheit zurück.
«Wenn Kinder naturfremd aufwachsen, leiden sie oft unter Entwicklungsschwierigkeiten», sagt Weissert. Das habe er bei seiner Arbeit festgestellt. Nicht nur in der Motorik und Sensorik, sondern auch im Verhalten. «Der Waldaufenthalt steigert das Selbstwertgefühl der Kinder.» Studien hätten gezeigt, dass Kinder nach einem Waldspaziergang Puzzles rascher zusammensetzten als nach einem Stadtspaziergang.
Ähnliches habe er besonders eindrücklich mit einer Gruppe schwerstbehinderter Kinder erlebt, erzählt Weissert. «Die Heimleitung organisierte eine Waldwoche. Es war ein enormer Aufwand; viele Kinder konnten nicht gehen, kaum sprechen oder litten an Epilepsie. Aber es war ein Riesenerfolg. Die Kinder fühlten sich wohl, entspannten sich und blühten auf. Sie waren viel aufnahmefähiger als sonst.»
Nicht esoterisch, aber achtsam
«Viele denken, dass man beim Waldbaden Bäume umarmt oder sich ins nasse Laub legt», sagt Robert Gallmann. Das komme wohl auch daher, dass in Japan das Mystische eine wichtige Rolle spielt. Mit Esoterik hätten die gesundheitsfördernden Wirkungen von Waldaufenthalten aber nichts zu tun. Bäume umarmen müsse man nicht; nur achtsam in den Wald eintauchen, möglichst ohne sich durch Ziele unter Druck zu setzen.
Er mache das am liebsten allein, sagt Gallmann. So könne er sich am besten sammeln und seine Batterien aufladen. Wichtig sei, dass man sich auf den Lebensraum Wald einlasse und sich Zeit nehme. «Waldbaden ist kein Wettschwimmen.» Aus wissenschaftlicher Sicht, ergänzt Weissert, seien ein- bis zweistündige Waldaufenthalte ideal. So viel Zeit benötige der Körper, um Stresshormone abzubauen, und der Blutdruck sinkt.
Haben die beiden Waldbade-Spezialisten einen Lieblingswald? Weissert schüttelt den Kopf. Er gehe gern in den Wald an seinem Wohnort und entdecke dort immer wieder Neues. Gallmann dagegen schwärmt von einer Wanderroute in das unberührte Gasterntal bei Kandersteg BE, das habe ihn an Shangri-La erinnert, den sagenumwobenen Ort in Tibet.
Der Duft von Bärlauch und Arvenharz
«Aber jeder Mensch hat einen anderen Zugang zum Wald», sagt Gallmann. Er selbst versuche immer, ihn möglichst intensiv mit allen Sinnen zu erleben. «Ich liebe den Duft des blühenden Bärlauchs im Frühlingswald – und den des Arvenharzes in den Bergen.» Der erinnere ihn an die Mammutbäume, die er vor 25 Jahren in den USA kennenlernte. «Ab und zu ziehe ich im Wald auch die Schuhe aus. Es gibt nichts Schöneres, als barfuss über Moos zu gehen und die Füsse im Wasser zu baden.»
Da trifft es sich gut, dass das letzte Wegstück wieder abwärts zur Sihl führt, die gemütlich dahinplätschert. Gallmann sucht sich eine Stelle, wo er sich die Schuhe ausziehen kann, und macht dann ein paar Schritte in den kühlen Fluss. Weissert hüpft auf einen Stein im Wasser. Selbstvergessen wirken die beiden, fast vergnügt – und richtig tiefenentspannt.
Robert Gallmann, Yoshifumi Miyazaki: «Waldbaden – The Hiking Therapy. Wanderungen zu Kraftorten im Kanton Bern»; Verlag Weber, 2022, 240 Seiten, Fr. 49.90
Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.
Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.
1 Kommentar
Ich kann nur den Kopf schütteln darüber, wie altes Wissen "durch Studien belegt" werden muss und verbreitet wird. als ob man es erfunden hätte.