Das Chiasso-Gefühl: Grenzerfahrungen im Rheintal
Warum es einem flau im Magen wird, wenn das Schild «Zoll» auftaucht. Und wie im Rheintal die Liebe siegt.
Veröffentlicht am 21. Juli 2022 - 21:01 Uhr
Ich mag Grenzen. Nein, genauer: Ich mag Grenzübergänge. Sie lösen Erinnerungen aus an Ferienreisen mit der Familie in den Süden. Da war plötzlich diese leise Anspannung der Eltern im Auto, kaum tauchte das «Dogana»-Schild auf, das nervöse Nesteln nach den Dokumenten. Der grimmige Zöllner, wie er grusslos blaffte: «Qualcosa da dichiarare?» Und sich dann niederbeugte, um zu sehen, ob das Kind auf dem Ausweis das Kind auf dem Rücksitz war. Das Chiasso-Gefühl. Damals waren «Zoll» und «Pass» für mich gleichbedeutend, weil man am Zoll immer den Pass zeigen musste.
Auf dem Weg vom Bündnerland Richtung Bodensee gibt es eine volle Ladung Zoll und Landesgrenze. Erst Liechtenstein, dann Österreich. Unten in der Ebene radelt es sich zügig, der Wind kommt gnädigerweise von hinten. In meinem Kopf schrummelt und grummelt Bruce Springsteen «Across the Border», aber ich kriege den Refrain grad nicht hin.
Die Grenze im St. Galler Rheintal wurde auf dem Reissbrett angelegt: das bolzengerade Bett des korrigierten Alpenrheins. Wir hier, drüben die anderen.
Wo das Trennende derart offensichtlich ist, sehnt man sich nach dem Verbindenden. Ab Oberriet schwenke ich deshalb regelmässig vom Rheindamm ab, um über lange Brücken auf die andere Seite zu gelangen. «Across the Border» – immer wieder, hin und zurück.
Die Warntafel «Zoll» verfehlt ihre Wirkung nach wie vor nicht.
Eine Erkenntnis: Grenzübergänge sind Kopfsache. Die Warntafel «Zoll» verfehlt ihre Wirkung nämlich nach wie vor nicht. Das Chiasso-Gefühl aus den frühen Siebzigern meldet sich zurück, auch auf zwei Rädern und selbst hier im äussersten Osten des Landes. Instinktiv bremse ich auf Schritttempo herunter, obwohl keine Schranke den Weg verstellt. Setze ein gewinnendes Lächeln auf: bloss keine Aufmerksamkeit erregen. Und habe ich eigentlich einen Ausweis mitgenommen?
Dabei ist das hier eine Friedensfahrt im Schengen-Zeitalter der offenen Grenzen. Die Zöllner auf der Schweizer Seite winken freundlich, bei den Österreichern steht schon gar keiner.
So kämpfe ich mich im länderübergreifenden Zickzack nach Norden vor. Bei Diepoldsau bildet für ein kurzes Stück nicht der kanalisierte Fluss die Grenze, hier liegt sie in einer alten Flussschlaufe. Der Ort hat seine Geschichte: Durch ein Rohr, das zur Wasserregulierung des Alten Rheins erbaut worden war, konnten sich nach der Machtübernahme der Nazis in Österreich jüdische Flüchtlinge in die Schweiz retten.
Weil ich das Rohr nicht auf Anhieb finde, frage ich zwei Spaziergängerinnen mit Hund. Die eine vernehmlich aus Rheintal, Schweiz, die andere ebenso vernehmlich aus Rheintal, Vorarlberg. Sie treffen sich hier regelmässig, seit Jahren schon – ausser 2020, wegen «diesem Corona». Schnell kommen die Damen in Fahrt, dankbar für den unverhofften Zuhörer. Alles sei damals abgesperrt gewesen mit rot-weissen Bändern, auch die grünen Grenzen. Auch am Rohr war das eiserne Tor zugesperrt. «Stellen Sie sich vor: sogar hier! Besser bewacht als im Krieg!»
Wieder eine Erkenntnis: Was im Grenzland gar nicht geht, sind verbarrikadierte Grenzen. Tröstlich im Kriegsjahr 2022.
Beim Zoll Wiesenrain in Widnau bin ich am Etappenziel. Das gleiche Bild: keine Österreicher, freundliche Schweizer. Ziemlich genau auf der Grenzlinie fällt mir Springsteens Text wieder ein: «I know love and fortune will be mine, somewhere across the border.»
Liebe und Glück statt Chiasso-Gefühl. Ich sollte mich daran gewöhnen.
Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».
Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.
Sie haben interessanten Stoff für zahlreiche Berichte gesammelt: Gespräche mit spannenden Menschen, überraschende Entdeckungen, Einblicke in aktuelle Entwicklungen und schwelende Konflikte. Es geht um Heimat und Identifikation, um Trennendes und Verbindendes.