Dominique Strebel, wieso lese ich im Beobachter Fantasienamen? Wieso begegne ich da regelmässig Menschen, die «in Wirklichkeit anders heissen»? 
Zuerst einmal: Wir nennen, wenn immer möglich, den echten Namen und die genaue Funktion. Das sind wir unseren Leserinnen und Lesern schuldig. Sie sollen selbst beurteilen können, wie glaubwürdig eine Person ist und wie viel Gewicht sie ihren Aussagen geben wollen. Es gibt aber ganz wichtige Geschichten, da sind Menschen beteiligt, die heftige Konsequenzen zu befürchten haben, wenn wir ihre Namen veröffentlichen würden.

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Welche denn so?
Das kann ein Shitstorm auf Social Media sein. Die Kündigung durch den Arbeitgeber. Die Beziehung, das enge Umfeld, die Kinder könnten darunter leiden. Wir müssen immer abwägen: Wie wichtig sind die Schutzinteressen der Menschen, die uns etwas erzählen? Und wiegen sie schwerer als das Interesse der Leserschaft – der Öffentlichkeit –, zu wissen, wer genau da spricht? Wir anonymisieren übrigens auch Personen, die wir kritisieren.


Ah?
Ja, Kritisierte dürfen wir nicht immer mit Namen nennen. Das dürfen wir nur, wenn die Interessen der Leserschaft an der Namensnennung das Interesse am Schutz der Persönlichkeit der kritisierten Person überwiegen. Ganz schwierig wird es, wenn eine Namensnennung die berufliche Existenz gefährdet. Gerade dann überlegen wir uns, ob nicht auch eine mildere Massnahme zukünftige Opfer mit hoher Wahrscheinlichkeit schützt, ob wir den Namen also gar nicht zu nennen brauchen. Wir haben zum Beispiel gerade über eine Psychologin berichtet, die ihren Patienten einen Geistheiler empfahl und ihnen Angst vor dem Weltuntergang machte. Wir nennen ihren Namen zwar nicht, haben aber den Berufsverband über ihre Identität informiert. Wenn sich neue Opfer bei uns melden und der Verband untätig bleibt, wird der Beobachter den Namen nennen. 


Zusammengefasst: Wenn der Schaden zu gross sein könnte und der Nutzen zu klein ist, dann wird anonymisiert. 
Genau. Dann ändern wir den Namen – versuchen aber immer noch so viele Details zu der Person zu geben, dass der Leser trotzdem beurteilen kann, ob Hand und Fuss hat, was dieser Mensch da sagt. Ist das zum Beispiel ein ehemaliger Mitarbeiter, der dabei war, als in der Firma gepfuscht wurde? Wie viele Details braucht es für die Leserinnen, um die Glaubwürdigkeit der Quelle einzuschätzen? Wie viele müssen wir verschweigen, damit der Ex-Arbeitgeber die Person nicht identifizieren kann? Das ist immer eine Gratwanderung.


Ich habe im Beobachter aber auch schon Geschichten gefunden, da hat wohl einfach jemand angerufen und sich über irgendeine Busse beschwert, und der Beobachter hat trotzdem anonymisiert …
Also was Sie jetzt quasi sagen möchten: Wir sind da manchmal etwas zu grosszügig mit dem Anonymisieren? Das versuchen wir eigentlich zu vermeiden. Kann es vorkommen, dass wir mal finden: «Ui, das ist so eine super Geschichte, und auch nicht nur ein Einzelfall, das ist ein strukturelles Problem, da machen wir jetzt halt das Zugeständnis mit dem Namen»? Kann schon sein. Aber es ist selten.


Wie ist das eigentlich umgekehrt? Muss ich sagen, dass ich Journalist bin, wenn ich mit jemandem spreche? 
Ja, klar! In 99,9 Prozent aller Fälle muss man mit offenem Visier arbeiten.


Und die 0,01 Prozent?
Das sind Fälle, bei denen viele Menschen Schaden nehmen könnten, wir aber nicht recherchieren können, wenn wir als Journalistinnen und Journalisten zu erkennen sind. Es sind klassischerweise Vier-Augen-Konstellationen, Blackboxen. Etwa wie ein dubioser Anwalt mit seinen Klienten umgeht. Oder das bereits erwähnte Gespräch bei der Psychologin, die Ihre Patienten dem Geistheiler weitervermittelt. Das lässt sich nur recherchieren, indem man unter falschem Namen hingeht.
  

Sind die Leute eigentlich ängstlicher geworden? Früher fand man das doch eigentlich ganz toll, mal in der Zeitung zu stehen.
Nein, das glaube ich nicht. Es gibt ja auch die Gegenbewegung, dass viele die Öffentlichkeit suchen und sich auf Social Media inszenieren. Eine spürbare Veränderung gab es zwar – aber viel früher. Ungefähr zwischen 1995 und 2000.


Warum gerade da?
Wenn man vor 1995 im Beobachter seinen Namen nannte, dann lag der zwei Wochen lang in 200’000 Haushalten in der Schweiz herum. Danach musste man ihn in einem Archiv suchen gehen. Dann kam das Internet. Und damit war alles immer abrufbar, auf Google sofort auffindbar, weltweit, für immer. Tatsächlich haben wir auch schon Namen im Heft genannt und online anonymisiert. Eine Persönlichkeitsverletzung kann im Internet eine ganz andere Wucht entfalten.

Zur Person

Dominique Strebel ist seit Mitte 2021 Chefredaktor des Beobachters. Er ist Jurist, leitete die Diplomausbildung an der Schweizer Journalistenschule MAZ und war von 2005 bis 2012 bereits Redaktor beim Beobachter. Damals recherchierte er unter anderem die Hintergründe der sogenannten administrativ Versorgten. Strebel ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Zürich.