«Sex wird nicht in jedem Fall besser»
Geschlechtsverkehr vor der Ehe ist für eine steigende Zahl von Jungen tabu. Psychologin Silvia Eberle warnt: Die Gefahr einer Enttäuschung sei gross.
Veröffentlicht am 24. Mai 2004 - 19:59 Uhr
Beobachter: Frau Eberle, wie erklären Sie sich die Absicht vieler junger Menschen, vor der Ehe auf Sex zu verzichten?
Silvia Eberle: Viele davon sind Scheidungskinder, die erlebt haben, wie zerbrechlich Ehen sind. Mit dem vorehelichen Verzicht auf Geschlechtsverkehr versuchen sie, der Ehe – und damit klassischen Werten wie Verlässlichkeit, Treue und Geborgenheit – wieder mehr Gewicht zu geben.
Beobachter: Wird die Rechnung aufgehen?
Eberle: Der Verzicht auf Sex kann zwar Halt geben, wie es Normen und Regeln gemeinhin tun. Auch werden andere Aspekte einer Beziehung wichtiger, etwa Gespräche oder gemeinsame Erlebnisse. Ein Verzicht kann aber keine bessere Sexualität garantieren oder eine stabile Partnerschaft. Dafür braucht es viel mehr: eine eigene, ausgereifte Persönlichkeit und die Fähigkeit, mit Konflikten umgehen zu können.
Beobachter: Die sexuelle Abstinenz passt doch gar nicht zu unserem Alltag, der voll ist von sexuellen Reizen und Anspielungen.
Eberle: Gerade diese Übersättigung dürfte ein weiterer Grund sein für junge Paare, ihre Sexualität nicht auszuleben. Sie hoffen, auf diese Weise das Geheimnisvolle der Sexualität bewahren oder zurückerlangen zu können.
Beobachter: Wenn man frisch verliebt ist, möchte man den andern so nahe wie möglich spüren. Der Verzicht auf Sex widerspricht diesem natürlichen Bedürfnis völlig. Ein Risiko?
Eberle: Ja, weil ein Paar vielleicht erst sehr spät bemerkt, dass es körperlich gar nicht zusammenpasst, andere Vorlieben, Bedürfnisse und Wünsche hat. Wer die Sexualität bis zur Hochzeitsnacht aufspart, nimmt eine gehörige Portion Ungewissheit in Kauf. Zudem werden Erwartungen geschürt, die kaum zu erfüllen sind. Entsprechend gross ist die Gefahr, enttäuscht zu werden – nur ist man dann schon verheiratet.
Beobachter: Hat ein solches Paar noch eine Chance auf eine befriedigende Sexualität?
Eberle: Eine Chance gibt es immer. Aber die Sexualität ist ein Thema, bei dem wir sehr verletzlich sind – und deshalb auch ein häufiges Konfliktthema. Wenn ein Paar seine sexuellen Probleme aber anspricht, kann es sehr viel daraus lernen. Anderseits ist es völlig normal, dass das Sexualleben Schwankungen ausgesetzt ist. Wer etwas anderes erwartet, überfordert sich.
Beobachter: Was werden Sie Ihren Kindern sagen, wenn sie nach dem richtigen Zeitpunkt fürs «erste Mal» fragen?
Eberle: Sie sollen warten, bis sie den Partner oder die Partnerin etwas besser kennen und dieser Person wirklich vertrauen. Denn erst wenn das Vertrauen und der gegenseitige Respekt vorhanden sind, wird die Sexualität entspannt erlebt. Ausserdem werde ich ihnen sagen, dass sie den richtigen Zeitpunkt nach eigenem Gefühl bestimmen und sich nicht unter Druck setzen lassen sollen – weder vom Partner oder der Partnerin noch von Freunden. Ich glaube, dass viele junge Paare viel zu schnell miteinander intim werden, nicht zuletzt wegen Druck von aussen.