«Von Stunde zu Stunde werde ich trockener, man sieht bereits die Striche im Quadrizeps.» Jan Speck betrachtet zufrieden sein Bein. «Der erste oder zweite Platz sollte drinliegen.» Tatsächlich zeichnen sich unter seiner eingeölten Haut die Muskelpakete so deutlich ab, dass man einzelne Fasern erkennt. «Ich bin steinhart», sagt der 31-Jährige und lächelt stolz.

Sein Timing ist optimal: Seit 36 Stunden nimmt der Psychologiestudent nur noch schluckweise Flüssigkeit zu sich, hält sich gerade noch am Limit, so dass er nicht umkippt. Er treibt so das Wasser unter der Haut aus dem Körper, damit sich die Muskeln deutlicher abzeichnen. «Definition» nennen die Bodybuilder diesen Effekt, der im Wettkampf über Sieg und Niederlage entscheidet. Speck startet in der Disziplin «Body & Fitness». Während es bei den Bodybuildern darum geht, möglichst viel austrainierte Muskelmasse zu präsentieren, ist hier das Gewicht begrenzt. Es darf nicht höher sein als die Körpergrösse in Zentimetern minus 100. Ansonsten ist das Wettkampfprozedere gleich.

33 Athleten und 16 Athletinnen kämpfen um die auf der Bühne ausgestellten Pokale. Die 480 Plätze des Gemeindesaals in Buchs AG sind gut besetzt an der Herbstmeisterschaft des Schweizerischen Bodybuilding- und Fitnessverbands (SBFV). Der Wettkampf gilt als Vorspiel für die Schweizer Meisterschaft oder für die Weltmeisterschaft. Dafür wollen sich hier alle qualifizieren. Entsprechend gut und ehrgeizig ist das Teilnehmerfeld.

Auf der Bühne sitzt das Organisationskomitee, sechs schwere Männer, hinter Tischen. Grösse, Gewicht, Aufenthaltsbewilligung, Lizenz: Jeder Athlet wird erfasst und erhält eine Startnummer. Die breitschultrigen Männer lassen das Prozedere geduldig über sich ergehen. Gesprochen wird nicht viel. Spannung liegt in der Luft. Hier wird klar, gegen wen man antritt.

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Bei den Frauen ist die Figur gefragt
Nackt bis auf die Socken und den Slip steigen die Teilnehmer auf die Waage. Die anderen schauen ganz genau hin. «Der ist hart, Scheisse», raunt ein Muskelmann seinem Begleiter zu und tritt beunruhigt von einem Bein aufs andere. Robert Eichelberger, der Hauptorganisator, hat andere Probleme. Ihn stören die zu knappen Höschen der Athleten: «Seitlich mindestens zwei Zentimeter, so ists im Reglement vorgeschrieben, das ist hier keine Sexshow.»

Bei den Frauen gehts auf den ersten Blick weniger streng zu. Um Athletinnen zu motivieren, haben die Verbandsfunktionäre die Figurenklasse eingeführt. Da zählen nicht in erster Linie die Muskeln, sondern die Figur. Die will erlitten sein.

Die 28-jährige Elif Cinoglu startet das erste Mal. «Iss!», sagt ihr Mann Sener und schmiert Honig auf eine salzlose Reiswaffel. «Reis entzieht das restliche Wasser, Einfachzucker gibt den Muskeln Energie.»

Sener weiss Bescheid. Der 29-jährige Zürcher mit türkischen Wurzeln ist Star des Verbands, Mitglied des Schweizer Nationalteams. Er gehört zu den zehn Besten der Welt. 1,74 Meter gross, 90 Kilogramm schwer; nur Muskeln, kaum Fett. In den letzten fünf Wochen hat er seine Frau fit getrimmt. Figurenklasse, Startnummer 249. «Iss!», sagt er noch einmal. Doch Elif ist zu aufgeregt, sie bringt nichts runter.

Es braucht einen langen Atem
Seit 2002 startet Sener Cinoglu an internationalen Wettkämpfen. Als 16-Jähriger begann er mit Krafttraining. «Es ist eine Sucht.» Täglich trainiert der Anlagetechniker nach Feierabend ein bis zwei Stunden im David Gym in Zürich. Dort hat er eine Ecke mit seinen Bildern eingerichtet. Bezahlen muss er fürs Training nichts, er wird vom Fitnesscenter gesponsert. «Ich bin der Guru, Vorbild für alle.»

Sieben Jahre brauchte er bis an die Spitze. «Bodybuilding ist ein langfristiger Sport.» Genetische Voraussetzung und hartes Training sind wichtig, aber «zu 70 Prozent bestimmt die Ernährung den Erfolg»: fast nur Eiweiss durchs Jahr, um die Muskelmasse aufzubauen, dann drei Monate hungern, um das Fett zu verlieren.

«Bodybuilding ist eine Frage der Disziplin», sagt Sener. Er reduziert seinen Körperfettgehalt vor Wettkämpfen auf zwei Prozent. Dann kann er sich knapp auf den Füssen halten. «Im Wettkampf bist du im Delirium, weil dir die Energie fehlt.»

Bei Elif machen sich die strenge Diät und der Wassermangel bemerkbar. Immer wieder muss sie sich erschöpft hinsetzen. Noch 45 Minuten. Sener wickelt den knappen Bikini seiner Frau mit Haushaltspapier ein, dann schmiert er sie von Kopf bis Fuss mit brauner Farbe ein. Eine volle Dose «Dream Tan Instant Skin Color» trägt er dick auf. Alle Athleten benutzen dieselbe Creme - die Muskeln und deren «Definition» kommen so besser zur Geltung.

Rundum herrscht inzwischen hektisches Treiben. Betreuer reiben, klatschen und massieren die komplett enthaarten Körper der Athleten. Überall liegen Reiswaffeln herum. Und über allem hängt der schwere Duft der Hauttönung.

13 Frauen treten gegeneinander an. Elif macht grosse Augen: «So viele, läck du mir, haben wir überhaupt alle Platz auf der Bühne?» In den übrigen Runden starten jeweils drei bis sieben Athleten. Mit einer Farbrolle gleicht Sener letzte Unregelmässigkeiten aus. Endlich hat er den gewünschten Öleffekt. Jetzt wird auch klar, wieso sämtliche Wände hinter der Bühne mit Plastik ausgekleidet sind und der Boden mit Wellkarton ausgelegt ist: Die dunkelbraune Haut färbt ab. Sind die Wettkämpfer erst mal angemalt, versuchen sie, ja nichts zu berühren. Alle Athleten gehen noch breitbeiniger, die Arme vom Körper weggespreizt, damit nichts verschmiert.

Der «Bikinidurchgang»: Die Figurenklasse bestreitet ihre Qualifikation. Die 13 Frauen stehen in einer Reihe, drehen sich immer wieder, spannen ihre Muskeln bis in die Fingerspitzen, lächeln. «Frontansicht − relax − Seite, Beine zusammen, Blick nach vorne − relax − Rücken», gibt der Speaker die Kommandos.

Die Jury sitzt vor der Bühne, fünf Männer, eine Frau, alles ehemalige Bodybuilder. Abgetrennt durch weisse Sichtblenden, damit sie sich nicht gegenseitig auf das Papier schielen können. Die jetzt vergebenen Punktzahlen bleiben bis am Abend geheim. Das Publikum feuert die Frauen an: «Schön, Claudia! Tipptopp! Lächeln!», «Sibylle, gerade stehen!». Sener ist zufrieden mit Elifs Auftritt.

Inzwischen haben sich die Männer in ihrer Garderobe eingerichtet. Viele liegen auf grünen Gummimatten am Boden, die Füsse hochgelagert, damit das Blut nicht in die Beine fliesst. Die meisten sind schon eingeschmiert. Andere stemmen vor ihrem Auftritt noch leichte Hanteln, um die Muskeln aufzupumpen. Die Luft ist zum Schneiden, doch die Männer in ihren knappen Höschen wollen keinen Durchzug riskieren. Mittendrin steht Jan Speck.

Muskeln geben Selbstvertrauen
Die Vorrunde übersteht der blonde Athlet locker. Akustisch unterstützt von gregorianischen Gesängen, zeigt er bereits am Nachmittag im Saal, dass in dieser Konkurrenz mit ihm zu rechnen ist. 1,79 Meter gross, 73,8 Kilo schwer. Jan gelingt es am besten, trotz der Anspannung locker zu lächeln. Das Publikum feuert ihn an.

«Meine Stärken sind Rücken und Arme, meine Waden sind aber Scheisse», erklärt Speck selbstkritisch. Vor drei Jahren präsentierte er sich zum ersten Mal auf der Bühne: «Am Anfang hatte ich allerdings Mühe, dazu zu stehen. Das Machogehabe passt eigentlich nicht zu mir.»

Ursprünglich machte der Aarauer Leichtathletik und ging nur zum Ausgleich ins Krafttraining. Es gefiel ihm, wie sich sein Körper veränderte, und so blieb er dabei. «Meine Muskeln geben mir Selbstvertrauen. Manche machen spezielle Frisuren, ich habe einen auffälligen Körper.»

Offen spricht er an, was andere verschweigen: Genetisch bedingt wachse der Muskel nicht unbeschränkt. Nach jahrelangem hartem Training komme man an den Punkt, wo nur noch schwer Muskelmasse aufgebaut werde. «Dann muss sich jeder Athlet die Frage stellen, ob er Chemie nehmen möchte oder nicht. Wenn man international ganz nach vorne kommen will, wird man mit Drogen nachhelfen müssen.» Speck verzichtet aufs Doping.

Beim SBFV müssen nur die Spitzenathleten regelmässig zum Urintest antraben. Verbandspräsident Peter Anliker würde gerne mehr Athleten auf Doping testen: «Wir haben nicht genug Geld für alle.»

So stehen denn am Wettkampf auch Männer mit deutlichen Anzeichen von Anabolikamissbrauch auf der Bühne: Einem sind Frauenbrüste gewachsen, die sich trotz allem Posieren nicht mehr anspannen lassen. Im Fachjargon wird das Gynäkomastie genannt. Die Kommentare der Zuschauer sind eindeutig: «Solche Anabolikabrüste schaden dem Image des Bodybuilding.» Der Athlet landet denn auch auf einem der letzten Ränge.

Philippe Bachmann wiegt als einziger Wettkämpfer an diesem Tag über 100 Kilo. Der Aargauer betreibt in Lenzburg ein Fitnesscenter. Vier Stunden täglich beschäftigt er sich mit dem Bodybuilding. Zwei Stunden trainiert er, und zwei Stunden bereitet er seine Diät zu. Eier, Fleisch, Nüsse, aber auch Proteinpulver, spezielle Aminosäuren und Traubenzucker.

Zum Stichwort Doping meint er: «Es gibt nichts, was die Muskeln einfach wachsen lässt, man muss intensiv trainieren. Jeder muss selber wissen, was er macht.» Er selber nehme nichts ausser Kreatin, das den Muskelaufbau unterstütze, aber nicht auf der Dopingliste stehe.

25 Wochen lang hat sich Philippe Bachmann auf die Meisterschaft vorbereitet und sich dabei 20 Kilogramm Gewicht abgehungert. Er hat in dieser Zeit nie auswärts gegessen, keinen Alkohol getrunken, immer schweren Herzens auf Süsses verzichtet. Die Brutalodiät schlug ihm auf die Psyche. Eine Stunde vor dem Final liegt er erschöpft auf seiner Matte: «Ich fühle mich nicht gut, bin müde, genervt, habe Muskelkrämpfe.» Mit der Vorrunde war er nicht zufrieden.

Ein reicher Pokalsegen
Doch Bachmann kann sich noch einmal zusammenreissen. Während des Finals am Abend merkt man höchstens am leicht entrückten Blick, dass es ihm nicht gut geht. Der Speaker, ein 112-Kilo-Hüne mit Pferdeschwanz, gibt via Mikrofon die Posen vor: «Doppel-Bizeps vorne − relax − Doppel-Latissimus − relax − Doppel-Bizeps mit Wade − relax − Bauch, Beine − relax.» Die drei Athleten der Schwergewichtsklasse spannen Bauch-, Rücken- oder Oberschenkelmuskeln, verharren minutenlang in den gleichen Posen. Die Körper zittern vor Anstrengung, Schweiss rinnt über die Muskelpakete, das Lächeln wirkt verkrampft.

Einzig beim Posedown dürfen die Muskelmänner ihre Stellungen selber wählen. Eine Minute lang zeigen sie sich zu stampfender Rockmusik von der besten Seite. Das Publikum klatscht mit. Dann ist der Auftritt vorbei. Die Ränge werden verkündet, Bachmann ist Letzter. Grimmig schaut er ins Publikum, Enttäuschung und Unmut kann er kaum verbergen.

30 Pokale werden an diesem Abend verteilt, jeweils an die ersten drei jeder Klasse. Elif Cinoglu verpasst den Einzug in den Final um einen Punkt, während ihr Mann Sener Publikum und Jury im letzten Wettkampf im Posedown mit einem Salto aus dem Stand verblüfft und Erster wird. Sein Preis: Der Verband bezahlt ihm die Reise an die WM in Tschechien.

Nach seinem Abgang muntert Sieger Sener seine Frau auf: «Jetzt drillen wir dich noch härter. Dann kommst du in zwei Wochen an der Schweizer Meisterschaft spielend in den Final.» Elif nickt tapfer und beisst in eine Reiswaffel. Auf die zwei Wochen Weiterhungern scheint es ihr jetzt auch nicht mehr anzukommen. Beide werden morgen kurz ihre Diät unterbrechen, um wieder einmal zusammen mit ihrem Sohn zu frühstücken.

Auch Jan Speck möchte sich etwas gönnen, nachdem er in der Klasse «Body & Fitness» gewonnen hat. Zur Feier des Tages möchte er sich einen Besuch bei McDonald’s erlauben. Vorher muss er aber noch abchecken, ob sein Trainer glaubt, dass der Hamburger in zwei Wochen nicht mehr sichtbar ist. Schliesslich will er Schweizer Meister werden.