Das Thema bringt jeden Ökonomen in Verlegenheit: Wieso nur sind Menschen bereit, freiwillig Geld zu zahlen, ohne dafür eine direkte Gegenleistung zu bekommen? Doch genau darum geht es beim Trinkgeld. Wir müssten nicht, geben aber trotzdem. Denn seit 35 Jahren ist es in der Schweiz offiziell abgeschafft, im Rechnungsbetrag inbegriffen. Trotzdem gibt es Branchen, in denen Trinkgeld weiter einen wichtigen Bestandteil des Lohns ausmacht.

In der Volkswirtschaftslehre taucht Trinkgeld kaum auf. Nur wenige Wissenschaftler haben sich mit dem Phänomen auseinandergesetzt. Vielleicht aus Angst davor, dem irrationalen Geldausgeben sei wissenschaftlich gar nicht beizukommen. Der deutsche Psychologe Markus Dobler hat es jetzt trotzdem gewagt, eine Doktorarbeit zu schreiben. Er ist zu überraschenden Ergebnissen gekommen.

Der Beobachter hat seine wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Coiffeuse, einer Barfrau, einem Taxifahrer, einem Zeitungsverträger und einem Zügelmann unterbreitet und sie gebeten, diese mit ihren eigenen Erfahrungen zu vergleichen.

These 1: Am Abend gibt es am meisten Trinkgeld.
Musu Meyer, Barfrau: Es gibt eine Spitzenzeit, die liegt so zwischen zehn Uhr abends und zwei Uhr morgens. Dann trinken die Leute viel und sind noch motivierter, meine Leistung zu honorieren. Sie registrieren dann meist auch noch sehr genau, wenn ich ihnen einmal etwas offeriere. Später dann sind viele zu betrunken, um solche Dinge überhaupt wahrzunehmen. Ausgenommen Stammgäste.

These 2: Je höher die Rechnung, desto kleiner fällt der Anteil an Trinkgeld aus.
Musu Meyer:
Das stimmt. Bei einer Rechnung über 100 Franken gibt es nur selten zehn Franken Trinkgeld. Bei einem Kaffee, der Fr. 3.50 kostet, zahlen hingegen viele vier und verzichten aufs Wechselgeld.

These 3: Aufrunden ist die beliebteste Methode, Trinkgeld zu geben.
Musu Meyer: Ja. Beim Aufrunden kann man nie etwas falsch machen. Peinlich ist hingegen, wenn Gäste Kleingeld, meist noch inklusive ein paar Münzen in fremden Währungen, in mein Portemonnaie schmeissen – mit der Bemerkung: «Ich möchte mein Münz loswerden.»

These 4: Je grösser die Gruppe, desto weniger Trinkgeld gibt jeder Einzelne.
Musu Meyer:
Das stimmt, wenn alle zusammenlegen. Dann gibt es meist nur ein einziges Mal Trinkgeld. Besser ist es, wenn jeder einzeln zahlt und der Erste grosszügig ist. Dann ziehen die anderen meist nach. Männer geben sich in der Öffentlichkeit ja gern jovial und grosszügig, wollen Kellner und ihre Begleitung beeindrucken, im Extremfall bis hin zu ihrem Nebentisch. Auch das spielt eine Rolle.

These 5: Trinkgeld wird auch benutzt, um sich eine bevorzugte Behandlung zu sichern.
Simon Vögtlin, Zügelmann:
Es kommt vor, dass uns ein Kunde um einen zusätzlichen Gefallen bittet, noch nie wurde mir aber dafür Trinkgeld versprochen. Hingegen habe ich schon erlebt, dass mir ein Kunde eine Stunde nach Arbeitsbeginn eine Zwanzigernote zugesteckt hat. Ich hatte das Gefühl, er wollte sicher sein, dass wir unseren Schwung nicht verlieren. Das wäre aber nicht nötig gewesen. Vielleicht hat es auch mit den Gepflogenheiten in anderen Ländern zu tun. Ein Amerikaner erzählte uns, dass Zügelmänner dort erst nach einem saftigen Trinkgeld bereit sind, ein Klavier zu zügeln.

These 6: Beim Trinkgeld gibt es trotz grossen Unterschieden einen Rahmen: eine Peinlichkeitsgrenze, die sich niemand zu unterschreiten getraut, aber auch eine Obergrenze.
Simon Vögtlin:
Beim Trinkgeld gibt es eigentlich keine Regeln. Viele geben auch gar nichts. Und doch stimmt das mit der Peinlichkeitsgrenze: Wenn wir Trinkgeld bekommen, sind es nie weniger als zwei Franken. Ich freue mich aber über jedes noch so kleine Trinkgeld, weil es nie selbstverständlich ist. Am häufigsten gibt es 10 oder 20 Franken. 50 Franken sind bei uns die Obergrenze. Allerdings habe ich einmal in fünf Jahren sogar 100 Franken bekommen.

These 7: Wer lächelt, bekommt mehr Trinkgeld.
Bruno Beiner, Zeitungsverträger:
Ich lache viel und gern. Aber ich glaube nicht, dass man sich wegen des Trinkgelds verstellen kann. Ich bin halt einfach ein Mensch, der gern Menschen hat und es schätzt, wenn es lustig ist.

These 8: Beim Trinkgeld gibt es Killerfaktoren: Wer ungepflegt, unfreundlich, arrogant oder unaufmerksam ist, bekommt kaum etwas.
Bruno Beiner:
Grimmige und Griesgrämige bekommen sicher weniger. Wichtig ist aber vor allem auch, dass man rücksichtsvoll ist. Ich mache möglichst keinen Lärm am Morgen, ich selbst würde ja auch nicht gern geweckt. Wer mich freundlich fragt, ob ich ihm die Zeitung jeweils vor die Tür legen könnte, weil er nicht mehr gut zu Fuss ist, für den mache ich das auch. Dies heisst aber noch lange nicht, dass ich für solche Zusatzdienste Ende Jahr auch ein spezielles Trinkgeld erwarte.

These 9: Männer geben nicht mehr Trinkgeld als Frauen, übertreiben aber, wenn sie in Umfragen danach gefragt werden.
Daniel Ganzfried, Gelegenheits-Taxifahrer:
Männer geben mir eher mehr. Nicht weil sie generell grosszügiger wären, sondern weil sie viel häufiger betrunken sind als Frauen. Betrunkene sind sehr gute Trinkgeldgeber: Sie sind ungehemmt, wollen aufschneiden, oder es ist ihnen schlicht völlig egal, wie viel sie mir überlassen. Oder aber sie geben deshalb so viel, weil sie sich für ihren Zustand schämen und dies mit Trinkgeld sozusagen schönen wollen. Entscheidender als das Geschlecht scheint mir auch der Beruf zu sein: Wer selbst von Trinkgeld lebt, wie zum Beispiel Serviceangestellte oder Prostituierte, ist als Gast auch grosszügiger.

These 10: Ältere Gäste geben mehr als jüngere.
Daniel Ganzfried:
Tendenziell stimmt das. Ältere geben fast immer Trinkgeld. Bei ihnen geht es um die altmodische Wertschätzung meiner Dienstleistung. Jüngere geben zwar seltener, aber wenn, dann oft unangemessen viel. Vor allem wenn sie am Abend mit Freunden ausgehen, die anderen beeindrucken und zeigen wollen, welch coole Typen sie sind. Sie wollen vermitteln, dass es nicht darauf ankommt, dass sie es sich leisten können und sich von mir abheben. Und da sie im Ausgang rasch ein paar hundert Franken liegen lassen, fällt ein Trinkgeld für den Taxifahrer tatsächlich nicht ins Gewicht.

These 11: Wer sympathisch ist, kassiert mehr Trinkgeld.
Daniel Ganzfried:
Noch wichtiger sind vor allem Kleinigkeiten, die Tür aufhalten oder das Gepäck tragen. Ich versuche mich auch meinen Kunden anzupassen: Bei einer älteren Dame hetze ich nicht noch bei Orange über die Kreuzung, höre am Radio keine lärmige Musik. Wenn ein jüngerer Fahrgast Platz nimmt, werde ich sicher nicht auf DRS 2 die Hintergrundsendung «Reflexe» oder «Musik für einen Gast» hören. Bei einem Geschäftsmann, der mit dem Handy telefoniert, drehe ich das Radio leiser. Zudem versuche ich, die Unterhaltung schematisch zu halten und nur zu reden, wenn ich angesprochen werde. Zum Beispiel auf das Wetter oder den Verkehr. Genau so, wie es die Leute von einem Taxifahrer erwarten.

These 12: Besserverdienende geben mehr Trinkgeld.
Sandra Probst, Coiffeuse:
Das kann ich nicht bestätigen. Oft trifft der Spruch «Bei den Reichen lernt man sparen» zu. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass wir kein Schickimicki-Laden sind. Zwar kommen auch zu uns sehr gut Verdienende, doch zeigen muss das hier niemand. Ich kenne aber umgekehrt einige, die nicht viel Geld haben und trotzdem sehr grosszügig Trinkgeld verteilen.

These 13: Wer mit Kreditkarte bezahlt, gibt mehr Trinkgeld.
Sandra Probst: Wer mit der Karte zahlt, hat das Trinkgeld meist schon in der Hand parat. Weil es bei der Kreditkarte separat bares Trinkgeld gibt, wird nicht einfach aufgerundet. Deshalb ist es unterm Strich tatsächlich mehr. Es ist auch schon vorgekommen, dass Kunden gar kein Bargeld dabeihatten und dann versprachen, beim nächsten Besuch das Trinkgeld nachzureichen. Das waren keine Ausreden: Die Kundinnen dachten wirklich beim nächsten Mal daran.

These 14: Trinkgeld ist auch eine Methode von Erfolgreichen, die eigenen Schuldgefühle und den Neid der anderen zu besänftigen.
Sandra Probst:
Das habe ich noch nie erlebt. Ganz im Gegenteil, ich erfahre immer wieder Wertschätzung, die über ein Trinkgeld hinausgeht: Ein Stammkunde lud meinen Mann und mich zu seinem 50. Geburtstag ein, weil wir wichtige Menschen in seinem Leben seien. Eine Asiatin, deren Haare anders und schwieriger zu schneiden sind als die von Europäerinnen, war so begeistert, dass sie mich einer Landsfrau empfahl. Die Geschäftsfrau flog dann eigens aus der Normandie zu mir, nur um sich die Haare schneiden zu lassen.

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Musu Meyer, Barbetreiberin und Musikerin, Zürich

«Als ich noch frisch im Service arbeitete, erklärte mir einmal ein Stammgast, er gebe mir aus Respekt kein Trinkgeld. Er wolle mir nämlich nicht das Gefühl geben, ich sei käuflich und würde mich erniedrigen. Ich erklärte ihm, dass ich seine Haltung zwar nobel fände, mir davon aber auch nichts kaufen könne. Ich fühle mich durch Trinkgeld nie erniedrigt, sondern bin froh drum. Wenn mir heute ein Gast in unserer Bar konsequent kein Trinkgeld gibt, komme ich ins Grübeln und überlege, was er mir damit sagen will. Denn Kleinkrämer gelten im Nachtleben als völlig unattraktiv. Wer hingegen als begehrter Lebemann auftreten will, achtet demonstrativ nicht aufs Geld, zahlt also auch grosszügig Trinkgeld. Bei drei Vierteln meiner Gäste kann ich die Höhe des Trinkgelds schon im Voraus einschätzen. Wer freundlich ist, gibt mehr, Griesgrämige geben weniger.»


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Simon Vögtlin, Zügelmann und LKW-Chauffeur, 29, Basel
Trinkgeld: 0 bis 300 Franken pro Monat

«Wer zügelt, ist in einer Ausnahmesituation, hat Sorgen um sein Hab und Gut. Da ist es umso wichtiger, Ruhe auszustrahlen und freundlich zu bleiben, auch wenn ein Kunde mal laut wird. Dabei darf man aber nie aufs Trinkgeld schielen. Das geht immer schief. Wir sehen schnell am Mobiliar, ob jemand Geld hat oder nicht. Wer beim Trinkgeld grosszügig ist, lässt sich viel schwieriger abschätzen. Je freundlicher der Kunde, desto mehr gibt er in der Regel. Es gibt aber auch sehr freundliche Kunden, die nichts geben. Trinkgeld sitzt heute nicht mehr so locker wie noch vor fünf Jahren. Die Krise ist spürbar. Heute bekomme ich nicht nur von weniger Kunden Trinkgeld, auch wer gibt, gibt weniger. Früher bekam ich hie und da 50 Franken. Verglichen mit vor fünf Jahren, ist es heute weniger als die Hälfte.»


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Bruno Beiner, Zeitungsverträger, 48, Hirzel ZH
Trinkgeld: 950 bis 1200 Franken pro Jahr

«Dem Zürichsee entlang in Thalwil wohnen vor allem Neureiche in teuren, neuen Wohnungen, die ich jeden Werktagmorgen mit abonnierten Zeitungen beliefere. Bei den Mehrbesseren gibt es selten Trinkgeld im Dezember, aber wenn, dann zünftig. Weiter weg vom See wohnen Alteingesessene, Mittelschicht und Arbeiter. Dort geben mir fast alle Ende Jahr ein Trinkgeld. Im Dezember verteile ich 200 Kärtchen, von rund 70 Abonnentinnen und Abonnenten gibt es jeweils Trinkgeld: 45 Prozent zahlen 10, 45 Prozent 20 und 10 Prozent sogar 50 Franken. Andere spendieren mir stattdessen alle paar Tage ein Znüni. Viele schicken mir auch herzige Briefe, schreiben, wie sie mitleiden, wenn es regnet oder schneit. Die bewahre ich alle auf. Inzwischen habe ich eine ganze Schachtel davon.»


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Daniel Ganzfried, Gelegenheits-Taxifahrer, 51, Zürich
Trinkgeld: 10 bis 15 Prozent des Umsatzes

«Es braucht ein Gefälle zwischen dem Trinkgeldgeber und mir. Als Taxifahrer bin ich auf einer der untersten sozialen Stufen. Dabei darf ich dem Fahrgast nie das Gefühl geben, ich gehöre zu seinesgleichen. Im Gegenteil: Es ist besser, den sozialen Unterschied zu betonen und dem Fahrgast das Gefühl zu vermitteln, ich sei sein Dienstleister. Dazu gehört auch, dass ich mich zurücknehme. Wenn ein Gast über Politik reden will, etwa über das Minarettverbot, dann würde ich nie meine wirkliche Meinung kundtun. Ich verstelle mich zwar auch nicht, lege aber eine gepflegte Gleichgültigkeit an den Tag. Manchmal chauffiere ich jemanden, den ich kenne. Dann fällt dieses Gefälle weg, und ich nehme auch kein Trinkgeld. Das wäre beiden zu peinlich.»


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Sandra Probst, Coiffeuse, 41, Ettingen BL
Trinkgeld: bis zu 100 Franken pro Woche bei Vollzeitpensum

«Ich sage immer: ‹Haare schneiden können viele.› Umso wichtiger ist deshalb das Drumherum. Kundinnen und Kunden sollen sich in unserem Geschäft wohl fühlen. Bei uns auf dem Land wollen sich die Leute beim Coiffeur unterhalten. Wir hatten einmal kurz eine Coiffeuse, die kam damit nicht klar: Sie hatte das Gefühl, sie müsse ständig heucheln. Das geht nicht, das Interesse muss echt sein. Als Coiffeuse muss ich neugierig sein, mich für die Menschen interessieren. Eine Zeitlang liess ich das Trinkgeldkässeli in der Schublade verschwinden. Ich wollte nicht, dass sich jemand verpflichtet fühlt, etwas zu geben. Das führte aber zu einem Sturm der Entrüstung bei vielen Kundinnen. Ich stellte es wieder auf. Die Leute haben das Bedürfnis, mit dem Trinkgeld zu zeigen, wenn sie zufrieden sind.»