Design, das Menschenleben rettet
Brutkästen aus Autowracks oder Schuhe, die mitwachsen: Immer mehr Designer helfen mit pfiffigen Ideen und Produkten, Probleme in den Entwicklungsländern zu lösen.
Veröffentlicht am 15. Januar 2016 - 09:54 Uhr
«Warum nicht?»
Diese Frage klingt unscheinbar, steht aber am Anfang jeder bahnbrechenden Erfindung. Von der Schrift («Warum nicht Gesprochenes festhalten?») bis zum Internet («Warum nicht alle Computer dieser Welt miteinander verbinden?»).
Auch der US-Designer Kenton Lee hat «Warum nicht?» gefragt. Beim Besuch eines Waisenhauses in Nairobi fiel ihm ein Mädchen auf, dessen Plastiksandalen viel zu klein waren. Ein grösseres Problem, als man denkt, denn in Entwicklungsländern kann schon die kleinste Verletzung der Fusssohlen zu Erkrankungen durch Wurmeier führen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass 880 Millionen Kinder von Parasiten befallen sind, die sie über den Boden aufgenommen haben. Darum fragte sich Kenton Lee: Warum nicht einen Schuh erfinden, der immer die richtige Grösse hat?
So entstand «The Shoe That Grows» – der Schuh, der wächst. In Zusammenarbeit mit einem Designerkollegen, der früher Turnschuhe entworfen hatte, entwickelte Lee eine Sandale aus Leder und Hartgummi, die nicht nur fünf Jahre hält – dank Druckknöpfen lässt sich auch ihre Grösse anpassen. Der innovative Schuh wird in Kenia, Vietnam und Nicaragua verteilt. Für die Erschliessung weiterer Länder sucht Lee Spender.
«Practical compassion» nennt Lee das – nützliches Mitleid. Er ist nicht der einzige Designer mit dem Ziel, die Welt ein wenig besser zu machen. Immer mehr Gestalter verstehen sich nicht mehr nur als Stylisten, dank denen Produkte hübscher und begehrenswerter werden. Stattdessen wollen sie mit smarten, kreativen Problemlösungen Menschen in der Dritten Welt helfen.
Wie der Schweizer Yves Béhar, der für Kinder in Entwicklungsländern den äusserst günstigen Laptop «XO» entwarf. Schon drei Millionen der Geräte mit innovativen Lernprogrammen wurden kostenlos verteilt.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie Béhar seine Kreativität in den Dienst einer guten Sache stellt, ist die Brille «VerBien». Sie wurde für sehschwache Schulkinder in Mexiko entwickelt und gibt ihnen die Wahl zwischen fünf verschiedenen Gestellen und sieben kombinierbaren Farben.
Das Resultat: Die Kinder haben an ihrer selbst designten Brille so viel Freude, dass sie sie auch wirklich tragen – im Gegensatz zu den hässlichen Kassengestellen, die ihnen die mexikanische Regierung früher zur Verfügung stellte. «Ein Kind, das endlich sieht, was auf der Wandtafel oder im Lehrbuch steht, wird ein besserer Schüler», ist Yves Béhar überzeugt. «Das zeigt die Kraft von gutem Design und zugleich die Aufgabe von uns Designern: Wir müssen die Welt verändern.»
Mit der Hilfe der Sonne
Neben Béhar wollen weitere Schweizer mit kreativen Problemlösungen helfen. So wurde etwa an der Berner Fachhochschule in Biel für Kleinbauernfamilien in Entwicklungsländern eine Solarwasserpumpe entwickelt. Sie ermöglicht eine Bewässerung und Trinkwasserversorgung ohne Diesel – und folglich auch ohne CO2-Ausstoss.
Ebenfalls die Kraft der Sonne nutzt eine am Zürcher Wasserforschungsinstitut Eawag entwickelte Methode, Wasser zu entkeimen und trinkbar zu machen. Dazu wird das verschmutzte Wasser einfach in durchsichtige PET-Flaschen gefüllt und während sechs Stunden an die Sonne gelegt.
Mehr mit weniger – diese Philosophie verfolgt auch Design That Matters. Das Gestalterkollektiv aus dem US-Bundesstaat Massachusetts entwickelte «NeoNurture», einen Brutkasten aus Teilen eines ausrangierten Toyota-Trucks, mit einem Scheinwerfer als Heizelement und einem Lüfter für die Wärmezirkulation. Der Gedanke dahinter ist nicht Recycling: Die Designer haben festgestellt, dass Hilfsorganisationen zwar regelmässig Brutkästen zur Verfügung stellen, diese jedoch rasch kaputtgehen und niemand weiss, wie man sie repariert. Was es aber in Entwicklungsländern immer zu geben scheint, ist eine Person, die einen Toyota-Truck wieder zum Laufen bringt, wenn nötig mit Ersatzteilen vom Schrottplatz.
Der von Design That Matters entwickelte «Autobrutkasten» bewahrt nun jedes Jahr potenziell zwei Millionen Frühchen vor dem Tod.
Eine clevere Innovation, genau wie die Brille «FocusSpecs», eine Art «Shoe That Grows» für die Augen: Über zwei Drehräder lassen sich die Gläser auf die richtige Korrektur einstellen, wie beim Scharfstellen eines Feldstechers.
«Aquaduct» und «FireFly»
Gleich zwei Probleme auf einmal löst das Fahrrad «Aquaduct», das von der US-Designagentur Ideo entworfen wurde: Zum einen transportiert man damit Wasser viel bequemer, als wenn man es kilometerweit in einem Eimer auf dem Kopf tragen muss; zum anderen befreit man es beim Pedalen von Verschmutzung und Krankheitskeimen, indem man es durch einen Filter pumpt. Allerdings existiert «Aquaduct» erst als Prototyp.
Auch der US-Designer Dean Still schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Er hat mit «FireFly» eine Laterne entwickelt, auf deren Flamme man kochen kann – und zwar ohne die Schadstoffe einzuatmen, die ein offenes Feuer freisetzt. Eine gute Nachricht für die fast drei Milliarden Menschen, die täglich mehrmals über offenem Feuer kochen – und von denen geschätzte vier Millionen jährlich an eingeatmeten Schadstoffen sterben.
Man könnte dieses Design-Engagement für die Dritte Welt als Ausdruck einer Sinnkrise betrachten. Jahrzehntelang waren Gestalter in erster Linie Produktkosmetiker, die zum Beispiel dafür sorgten, dass das neuste Modell eines Autos auch wirklich neu wirkte, obwohl es gar keine technischen Verbesserungen aufwies. «Alles, was ich je gestaltet habe, ist absolut unnötig», meinte selbstkritisch der Franzose Philippe Starck, der mit seiner legendär unpraktischen Saftpresse Design um des Designs willen produzierte.
Tatsächlich jedoch ist für den Schweizer Yves Béhar das Bestreben, mit kreativen Problemlösungen die Welt zu verbessern, nur eine logische Konsequenz von gutem Design: «Ein inspirierter Gestalter sucht nach neuen Lösungen für alte Probleme, sieht in Design ein Werkzeug des positiven Wandels.» Design ist für Béhar mehr als ein Job, es ist eine Haltung, eine Vision. «Wenn Design nicht verantwortungsvoll ist, kann es nicht ästhetisch sein», sagt er. «Ein guter Designer ist grosszügig, er will der Welt etwas schenken. Etwas Neues, etwas Nützliches. Besseres Design bedeutet eine bessere Zukunft.»
2000 Milliarden Dollar Hilfsgelder sind in den vergangenen 50 Jahren von den reichen zu den armen Ländern geflossen, mit fraglichem Erfolg. Designer wie Yves Béhar sind überzeugt:
Die Dritte Welt braucht mehr als unser Geld – sie braucht unsere Ideen.