Beobachter: Welcher Fall hat Sie als Patientenschützerin am meisten erschüttert?
Margrit Kessler: Vor etwa zehn Jahren kam eine Patientin zu mir, die Brustkrebs hatte. Ihr Onkologe hatte ihr eine Therapie verordnet, für die es auf der ganzen Welt keine Zulassung gab. Er verabreichte ihr die Substanz Lipoteichonsäure, die er selbst zubereitet hatte. Nach einem Jahr war sie voller Metastasen. Die Lipoteichonsäure hatte der Mediziner an fast 200 Brustkrebspatientinnen abgegeben. Im Prinzip war das ein Menschenversuch ohne jegliche Grundlage; auch die Ethikkommission wusste nichts davon. Die Frau klagte gegen den Arzt. Er wurde in erster und zweiter Instanz verurteilt, doch vor Bundesgericht bekam er Recht. Es hiess, er habe an seine Säure geglaubt. Für mich ist das der blanke Horror, dass so etwas möglich ist. Die Frau ist später gestorben.

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Beobachter: War das ein Einzelfall?
Kessler: Wo denken Sie hin! Vor Gericht sind Patientinnen und Patienten auch heute kaum erfolgreich. Ihre Klagen werden zu 90 Prozent abgewiesen. Nach meiner Einschätzung liegt das an den Richtern. Viele sind der Überzeugung, Ärzte seien wichtiger als Patienten, die zu Schaden gekommen sind.

Beobachter: Sie sagen, die Patienten sitzen noch immer am kürzeren Hebel. Haben Sie nicht viel erreicht?
Kessler: Vor Gericht haben Patientinnen und Patienten nach wie vor einen sehr schweren Stand. Da habe ich leider wenig erreicht. Eine Schwierigkeit ist, dass keine Sammelklagen möglich sind. Jeder Betroffene muss einzeln klagen, das ist aufwendig und kann teuer werden. Gegen Sammelklagen kämpft eine mächtige Lobby: Ärzte, Pharmaindustrie und andere Wirtschaftszweige. Auch bei den medizinischen Gutachten liegt noch vieles im Argen. Es ist unglaublich schwierig, objektive Gutachter zu finden, die nicht einfach zugunsten der Ärzte entscheiden. Eine Krähe hackt halt der anderen kein Auge aus.

«Dieser Arzt wollte nur seine Kollegen schützen, obwohl sie die Situation total falsch eingeschätzt hatten.»

Margrit Kessler, Präsidentin der Stiftung SPO Patientenschutz

Beobachter: Enttäuscht Sie das?
Kessler: Das ist in der Tat manchmal sehr enttäuschend. Aber es gibt zwischendurch auch immer wieder Erfolge. Ich erinnere mich an den Fall eines Buben, der eine Hodentorsion erlitten hatte, eine Drehung des Hodens. Die Blutzirkulation war unterbrochen. Die Ärzte haben das Kind zweimal nach Hause geschickt, ohne den Notfall zu erkennen. Der behandelnde Urologe meinte danach, der Hoden sei schon vorher abgestorben gewesen. Himmel nochmal! Dieser Arzt wollte nur seine Kollegen schützen, obwohl sie die Situation total falsch eingeschätzt hatten. Die Eltern des Buben kamen schliesslich doch noch zu ihrem Recht. Meine Abklärungen und meine Stellungnahme haben geholfen.

Beobachter: Sie haben ständig mit Schicksalen zu tun. Da ist der Schwerkranke, der von der Versicherung im Stich gelassen wird, da der Familienvater, der nach einer Operation gestorben ist. Können Sie eigentlich noch gut schlafen?
Kessler: Ja. Ich kann diese Schicksale offenbar gut wegstecken, obwohl ich eine emotionale Person bin. Am Abend kann ich abschalten und schlafe sehr gut. Natürlich gibt es belastende Momente. Es kommt vor, dass mir Passanten am Bahnhof ihre Krankengeschichte erzählen, wenn ich auf den Zug warte. Manchmal kann ich einen Tipp geben, manchmal verweise ich die Leute an eine unserer Beratungsstellen.

Beobachter: Ein Klassiker ist die Operation am falschen Fuss. Passiert das immer noch, trotz Checklisten im Spital?
Kessler: Ja, leider, Fehler gibt es immer. Und Checklisten sind nur nützlich, wenn man sie auch ausfüllt und einsetzt. Ausserdem sind sie noch nicht in allen Spitälern Standard. Es gibt zwar Richtlinien, wonach Spitäler mit Checklisten arbeiten sollen. Gesetzlich ist das aber nicht vorgeschrieben. Wenn nur eine der involvierten Personen den falschen Fuss anzeichnet, ist das Unglück unter Umständen schon geschehen. Wo Leute arbeiten, passieren Fehler.

«Blindes Vertrauen ist nicht angebracht»

Margrit Kessler, Präsidentin der Stiftung SPO Patientenschutz

Beobachter: Das klingt nicht sehr optimistisch.
Kessler: Doch, doch. Ich stelle grundsätzlich fest, dass man bei der Patientensicherheit grosse Fortschritte gemacht hat. Indem man etwa den Patienten selber ankreuzen lässt, welcher Fuss operiert werden soll, wenn er dazu in der Lage ist. Manchmal sehen zwei kranke Füsse gleich schlimm aus. Wichtig ist, die Patienten zum Nachfragen zu motivieren, wann immer sie das Gefühl haben, etwas stimme nicht. Auch das kann Fehler verhindern.

Beobachter: Wo sehen Sie die grössten Missstände in unserem Gesundheitswesen?
Kessler: Dazu gehört sicher die Überversorgung, die wir heute haben. Jeder Kanton will alle medizinischen Spezialdisziplinen anbieten; im Grunde haben wir 26 verschiedene Gesundheitswesen. Und alle müssen schwarze Zahlen schreiben, die Geräte amortisieren. Meiner Meinung nach eskaliert diese Situation. Dann die Medikamentenpreise: Für eine Krebsbehandlung muss eine Krankenkasse jetzt schon bis zu 200'000 Franken pro Jahr zahlen. Ein Medikament, das neu auf den Markt kommt, wird anscheinend eine halbe Million kosten. Wenn wir so weitermachen, fahren wir unser Gesundheitswesen an die Wand.

Beobachter: Aber die Patienten ziehen mit. Jeder will für sich die beste Versorgung. Haben Sie dafür kein Verständnis?
Kessler: Wissen Sie, die Patientinnen und Patienten sind zu wenig gut aufgeklärt. Da muss man ansetzen. Jeder muss für sich überlegen, was gut und vernünftig ist. Nur wer aufgeklärt ist, kann Selbstverantwortung übernehmen. Heute werden Gesunde therapiert. Am Schluss sind sie kränker, als sie es waren, bevor sie zum Doktor gingen. Es muss sich jeder an der eigenen Nase nehmen: Man muss nicht wegen jedem Hafenkäse zum Arzt rennen. Das muss sich ändern.

Beobachter: Sie sprechen von schlechter Aufklärung. Dabei könnte man meinen, dank Internet und Google wüssten Patienten heute so viel wie noch nie.
Kessler: Das stimmt, aber mit Google kann ein Patient seine Krankheit nicht richtig einordnen. Zudem kann es gefährlich sein, sich aufs Internet zu verlassen. Es braucht eine fachkundige Begleitung.

Beobachter: Es gibt viele ungelöste Probleme. Hand aufs Herz: Sie sind eine grosse Kämpferin – sind Sie trotzdem zu sanft?
Kessler: Ich glaube nicht, dass ich zu sanft war. Sonst wäre ich ja nicht von Gerichten verurteilt worden. Ich habe in den letzten Jahren ziemlich viel vorbereitet, um den Patientenschutz in objektivere, weniger emotionale Bahnen zu lenken. Unterdessen kann man mit den meisten Ärzten reden. In meinen Anfängen glaubten viele Ärzte noch nicht, dass eine Krankengeschichte dem Patienten gehört. Auch Aufklärung war für viele ein Fremdwort. Es wurde so behandelt, wie es der Doktor für gut befand. Da hat sich einiges geändert. Die Stiftung SPO Patientenschutz ist heute breit akzeptiert.

Beobachter: Apropos Krankengeschichte: Empfehlen Sie Patientinnen und Patienten, dass sie sich diese bei einem Arztwechsel aushändigen lassen?
Kessler: Auf jeden Fall. Der Patient darf wissen, was in seinen Akten steht. Dagegen sträuben sich immer noch viele Ärzte. Blindes Vertrauen ist jedoch nicht angebracht. Verantwortungsvolles Handeln heisst, gewisse Dinge zu kontrollieren. Ich rate Patienten zum Beispiel auch, jede Arztrechnung genau zu überprüfen.

Beobachter: Schüren Sie dadurch nicht ein Klima des Misstrauens?
Kessler: Überhaupt nicht. Ich finde, dass die Patienten den Ärzten generell zu viel Vertrauen schenken. Da braucht es eine Veränderung. Der Patient und die Patientin müssen den Ärzten noch viel mehr Fragen stellen.

Beobachter: Was hat Sie all die Jahre angetrieben?
Kessler: Ich habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ich stamme aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Später habe ich einen Akademiker geheiratet, einen Arzt. Da merkte ich schnell, dass die Situation für diese Schicht ganz anders ist. Ich nutzte meine Stellung immer für die Schwächeren, denn es ist nicht selbstverständlich, dass es mir und meiner Familie so gut geht – auch gesundheitlich.

Beobachter: Sind Sie ein Ärzteschreck?
Kessler: Für gewisse Ärzte war ich das, ja. Viele haben aber unterdessen eingesehen, dass es wichtig ist, dass auch die Patienten eine Stimme haben. Heute sehen die meisten Ärzte ein, dass die Stiftung SPO Patientenschutz eine wichtige Organisation ist.

Beobachter: Was geben Sie Ihrer Nachfolgerin mit auf den Weg?
Kessler: Sie braucht sehr viel Geduld und Einfühlungsvermögen für die Patientinnen und Patienten, Charme für die Leistungserbringer wie die Ärzte und eine Portion Hartnäckigkeit.

Margrit Kessler, 68, war 18 Jahre lang Präsidentin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz. Sie ist gelernte Kranken- und Intensivpflegefachfrau und war 2011 bis 2015 für die GLP im Nationalrat. Sie ist verheiratet und hat vier erwachsene Söhne. 

Susanne Hochuli (Bild) wird die SPO ab 2018 präsidieren. Die 52-jährige Grünen-Politikerin war von 2009 bis 2016 Gesundheitsdirektorin des Kantons Aargau.

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Matthias Pflume, Leiter Extras
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