Termine am frühen Morgen mag Andreas Wormser nicht. Wenn der 57-Jährige aufsteht, braucht er erst einmal eine Lucky Strike, einen Kaffee und dann noch eine Zigarette. Etwas verschlafen lässt er den Blick von seiner Terrasse über die unendlich scheinende Weite des Landes schweifen, aus dem alle wegwollen. Ausser ihm. Gut, später wird auch Wormser, der neuere vorderasiatische Philologie mit Hauptsprache Persisch studiert hat, sagen, es gebe schönere Länder als den Kosovo.

Kurz vor zehn Uhr steigt er an diesem Morgen die Betontreppe hinunter, die von seiner Wohnung in den Hof des hufeisenförmigen Hotelkomplexes führt. Mit den Trekkingsandalen und den olivfarbenen Stoffhosen wirkt der Zürcher eher wie ein Globetrotter als wie der Chef eines Hauses, das in Gästekommentaren als «Best place in Kosovo» bewertet wird.

Partnerinhalte
 
 
 
 
Das Land lag in Trümern

Die Sonne brennt bereits unbarmherzig vom Himmel herunter, im schattigen Hof des schneeweissen Gebäudes jagen Schwalben auf der hellblau schimmernden Wasseroberfläche des Swimmingpools Mücken. Der Hausherr organisiert sich erst einmal einen Aschenbecher.

«Damals», sagt Andreas Wormser auf die Frage nach seiner ersten Reise in den Kosovo, «war das hier anders, ganz anders.» Die Waffen ruhten erst ein paar Wochen, als er im Herbst 1999 nach Pristina flog. Die Zerstörungen waren immens. Trotzdem wollten die meisten, die vor dem Kosovo-Krieg in die Schweiz geflohen waren, möglichst schnell wieder heim. Wormser sollte im Auftrag des Bundes ihre Rückkehr überwachen und dafür sorgen, dass die Schweizer Aufbauhilfe in die richtigen Hände kam.

«Das Land lag in Trümmern, nichts funktionierte», erinnert er sich. Die meisten Häuser seien zerstört gewesen, und der harte kosovarische Winter stand vor der Tür. Auch für den Beamten aus Bern fand sich nur ein Zimmer in einer WG. Die Heizung lief, wenn es Strom gab, und das war selten. Wormser schlief bei minus 27 Grad in Mantel und Stiefeln. Bald stellte er fest, dass das Baumaterial, das die Schweiz zur Verfügung gestellt hatte, hinten und vorn nicht reichte. Viele Familien waren gezwungen, bei Verwandten unterzukommen, die selber zusammengepfercht in den letzten intakten Zimmern ihrer Häuser wohnten.

Autos, Häuser und Kirchen in Flammen

Sechs Monate nachdem Wormsers Einsatz in Pristina begonnen hatte, kam es zu den ersten Zwangsrückführungen kosovo-albanischer Familien. Zwei Jahre später sollten die ersten Romafamilien die Schweiz wieder verlassen. Als es darum ging, abzuklären, ob Rückschaffungen für Romafamilien zumutbar sind, warnte Andreas Wormser davor, sie in gewisse Regionen auszuschaffen. Inzwischen hatte der Zürcher Albanisch gelernt.

Wormsers Projekt klang für Kenner des Kosovo nach Utopia: ein Ökohotel mit Arbeitsplätzen für Roma, Serben, Albaner.

Am 17. März 2004, kurz vor Ablauf seines Auftrags und vor der geplanten Rückreise in die Schweiz, wurden Wormsers schlimmste Befürchtungen wahr. Er lebte damals in einem Dorf ausserhalb Pristinas. An diesem Abend hatte sich auf einem Hügel zwischen seinem Haus und seinem Büro ein Mob von 10'000 jungen, wütenden Albanern versammelt.

Während vor dem Büro in Pristina Autos brannten, brannten in den Dörfern bald Häuser und serbische Kirchen. Tausende Serben, Roma, Ashkali oder Ägypter – so bezeichnen sich die Albanisch sprechenden Roma – wurden während der drei Tage dauernden Pogrome aus ihren Dörfern vertrieben.

Obwohl Andreas Wormser zu jenen gehörte, die immer vorsichtig waren, wenn es darum ging, die Sicherheitslage einzuschätzen, war das Ausmass dieser Ausschreitungen auch für ihn ein Schock. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Rückreise vorzubereiten und ein paar befreundeten Romafamilien Geld für die Flucht zuzustecken. Einen Schlepper, der ihnen die Ausreise ermöglicht hätte, fanden diese nicht. Nur einmal schien einer seriös, am vereinbarten Fluchtdatum erschien er aber trotzdem nicht. Die Freundschaft zu den bedrohten Roma hielt, auch dann noch, als Wormser längst wieder in Bern lebte und nach der Tsunamikatastrophe als Stabsmitarbeiter für das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) wirkte. Irgendwann waren die letzten Tsunamiopfer versorgt, die Hilfe vor Ort organisiert. Im EDA schlich sich Routine ein.

«Es wurde langweilig», sagt Wormser und schmunzelt – im Gespräch merkt man schnell, dass er das weit mehr fürchtet als strube Zeiten. In dieser Situation wuchs der Wunsch, in den Kosovo zurückzukehren und etwas zur Verbesserung der Situation der Roma im Land beizutragen. Doch diesmal wollte Wormser nicht als Helfer zurück, sondern als Unternehmer.

Eine Erbschaft macht es möglich

Das Projekt, das er mit zwei seiner Freunde aus der Romagemeinschaft plante, klang für Kenner der Region nach Utopia: ein Ökohotel, das architektonische Massstäbe setzen und Arbeitsplätze für Roma, Serbinnen und Kosovo-Albaner schaffen sollte. 
 

Bei der Umsetzung seines Projekts traf Wormser auf viele Herausforderungen.

Quelle: Ursula Markus

Eine Erbschaft machte aus Wormsers Vision ein Bauvorhaben und aus seinem Leben wieder eine Herausforderung. Nichts lief wie geplant: Der kosovarische Architekt schrieb grosse Rechnungen statt grosser Entwürfe, das Wort, das Wormser von Handwerkern und Lieferanten am häufigsten hörte, war «morgen», und auch auf die Baubewilligung wartete er monatelang. Ein Samsung Galaxy unter der Hand hätte die Sache beschleunigt, aber so weit war Wormsers Wandel vom korrekten Schweizer Beamten zum kosovarischen Unternehmer dann doch nicht fortgeschritten.

«Ohne meine beiden einheimischen Partner hätte ich den Bau nicht realisieren können», sagt er. Den Architekten ersetzte er trotzdem durch einen, der beide Kulturen in sich trägt: Bujar Nrecaj wurde im Kosovo geboren, ist aber in der Schweiz aufgewachsen und hat auch dort studiert.

«Ich war zu naiv»

Im April 2013 war es so weit: Wormser eröffnete mit seinen beiden Partnern das Dreisternehotel mit 15 Zimmern. Es wirbt mit Schweizer Gastfreundschaft, Komfort und Design und steht dort, wo bisher kaum ein Tourist seinen Fuss hingesetzt hat: in Gracanica mitten in einer serbischen Enklave im Herzen des Kosovo.

Schweizer Gastfreundschaft an einem Ort, wo kaum ein Tourist den Fuss hingesetzt hat: Gracanica.

Der Bürgermeister des Dorfs blieb der Einweihungsfeier fern, das elektronische Türschliesssystem machte Probleme, aber schon bald meldete die kosovarische Präsidentin das diplomatische Korps zum Mittagessen an. Mitarbeiter von Hilfswerken buchten Zimmer, und Touristen aus aller Herren Länder erfreuten sich am Sonntagsbrunch, zu dem Birchermüesli und luftgetrocknetes Lamm aus den serbischen Bergen serviert werden. Wormser organisierte Lesungen von Schweizer Autoren und Ausstellungen lokaler Fotografen – und ist auch zwei Jahre nach Eröffnung von der Gewinnschwelle weit entfernt.

«Schönes Hotel, aber am falschen Ort», sagen die Albaner, die Serben ebenso. Und weil Plattformen wie Tripadvisor und Booking sich weigern, sein Hotel, das zehn Minuten von Pristina entfernt steht, unter «Hauptstadt» zu führen, finden viele Touristen die Herberge nicht.

«Ich war zu naiv», sagt Wormser, der inzwischen auch Romani, die Sprache der Roma, spricht, und steckt sich eine weitere Zigarette an. Er sagt es nicht resigniert, er stellt es einfach fest.

Dem Gast fällt auf, dass die Hierarchie flacher ist als in anderen Gasthäusern im Land. Wormsers Freund und Teilhaber Hisen Gashnjani macht sich bereits auf der Fahrt vom Flughafen über den klapprigen Lada-Jeep lustig, den sein Schweizer Partner unbedingt importieren musste, an der Rezeption wird viel gelacht. Und in der Küche schüttelt man schmunzelnd den Kopf, wenn man sich nach dem Chef erkundigt. Er sei ein «good guy», aber ein bisschen streng, heisst es. Dass er darauf besteht, dass nur natürliche, regionale Produkte verwendet werden, will hier nicht allen in den Kopf. Was denn so schlecht sei am Schlagrahm aus der Sprühdose?

An guten Tagen sind es nur die Lebensmittelzusätze, an denen sich die kulturellen Unterschiede manifestieren. An schlechten ist Wormsers Job ein Eiertanz. «Ich habe unterschätzt, was es heisst, hier Chef zu sein und Standards durchsetzen zu müssen», sagt er. Er habe grossartige Mitarbeiter, aber der Aufwand, der immer wieder in die Lösung von Konflikten fliessen müsse, sei enorm.

Oft gehe es um Fragen der Ehre, Empfindlichkeiten, die man als Immigrant wohl nie verstehen werde. Oder um die geheimen Codes, die eingehalten werden müssen, damit die Gäste im Hotel nichts als Parteinahme für oder gegen Serben oder Albaner deuten können, vom Stellenbeschrieb über die Auswahl in der Bibliothek bis zu den Farben der Kelims in der Hotellobby.

Wormsers Frau, eine gebürtige Deutsche, weigerte sich übrigens, da mitzumachen. Sie kann sich bis heute nicht vorstellen, in einem Land zu leben, in dem, wie sie findet, Gleichberechtigung ein frommer Wunsch ist. Alle sechs Wochen besucht sie ihren Mann in Gracanica, alle sechs Wochen fliegt er zu ihr.

Viele gehen, Wormser bleibt

Im Hotelgarten sitzen inzwischen Mitarbeiterinnen von Schweizer Hilfswerken, ein britischer Journalist und zwei Rucksacktouristen im Schatten der Bäume, essen überbackene Paprika oder trinken einen Cappuccino. Hisen Gashnjanis 13-jährige Tochter feiert heute mit ihren Geschwistern am Pool Geburtstag und verteilt grosszügig Tortenstücke. Andreas Wormser feiert mit. Dann macht er sich auf, dem neuen Nachtportier das Reservationssystem zu erklären.

Die Lage der Roma hat sich seit Wormsers Auswanderung in den Kosovo nicht verbessert, dafür die Situation jener, die im Hotel Gracanica ausgebildet werden. Bereits zwei Mitarbeiterinnen haben einen zweiten Job ausserhalb des Hotels gefunden. Ein kleines Wunder in einer Region, in der 60 Prozent der Bevölkerung ohne Arbeit sind; in der Romagemeinschaft sind es gar 98 Prozent. Zehntausende Kosovaren haben letzten Winter das Land verlassen. Andreas Wormser, der ehemalige Migrationsbeamte aus der Schweiz, ist geblieben. Sein Haus steht, die Zeit der Grundsatzfragen ist vorbei, und dorthin, wo kleine Wunder geschehen, werden irgendwann auch die Touristen pilgern.