Einsteigen verboten
Eine Fahrt mit der Centovallibahn hat ihre Reize, aber auch Tücken. Wegen der verwirrenden Fahrpläne und skurrilen Vorschriften brauchen Reisende Nerven.
Veröffentlicht am 19. Januar 2004 - 13:52 Uhr
«Fahrplan ist Fahrplan!», erklärt der Capostazione im italienischen Santa Maria Maggiore den Reisenden unmissverständlich. Weil an diesem Tag keiner aussteigen will, braust der fast leere Diretto Numero 50 um 13.56 Uhr ohne Zwischenhalt Richtung Domodossola.
Santa Maria, der malerische Hauptort des Valle Vigezzo, ist eine Reise wert. Bloss: Wer mal da ist, muss damit rechnen, nicht mehr rechtzeitig wegzukommen. Zwar halten hier täglich die Schnellzüge der Centovallibahn zwischen Locarno und Domodossola. Doch für viele Züge gilt, dass die Passagiere nur aus-, aber nicht einsteigen dürfen. Und die wenigen Regionalzüge zwischen Santa Maria und Domodossola sind für Schweizer Passagiere keine brauchbare Alternative: Sie kommen meist dann an, wenn der Schnellzug von Domodossola Richtung Schweiz gerade abgefahren ist.
Ganzer Katalog von Unmöglichkeiten
Nicht nur die schlechten Anschlüsse und absurden Ein- und Aussteigebestimmungen machen die mit dem Qualitätsprädikat von Schweiz Tourismus versehene Centovallibahn mit ihren beiden unterirdischen Kopfbahnhöfen zum Spezialfall: Auch eine Sitzreservation ist nicht möglich und der Velotransport grundsätzlich verboten.
Seit 1923 teilen sich zwei Gesellschaften den Betrieb auf der insgesamt 53 Kilometer langen Strecke: Auf Schweizer Seite bis Camedo sind es die Locarneser Verkehrsbetriebe Ferrovie autolinee regionali ticinesi (FART), die sich grösstenteils im Besitz der öffentlichen Hand befinden; auf italienischer Seite ist es die im Familienbesitz befindliche Società subalpina di imprese ferroviarie (SSIF). Zwei Dutzend Züge verkehren pro Tag.
Dafür leisten sich die Gesellschaften je eine Direktion, eigenes Rollmaterial, eine eigene Werkstätte und zwei gedruckte Fahrpläne, in denen die Lokalzüge der Gegenseite jeweils nur zum Teil erscheinen. Beiden gemeinsam sind die italienisch abgefassten Zeichenerklärungen: Wer die Sprache nicht beherrscht, erfährt nicht, dass das Halbkreissymbol bei den Ankunfts- und Abfahrtszeiten «Halt nur zum Aus- respektive Einsteigen» bedeutet.
Die Doppelspurigkeiten verschlingen viel Geld: Umgerechnet knapp vier Millionen Franken bezahlt der italienische Staat ans Defizit der SSIF. Der Bund und der Kanton Tessin haben in den letzten Jahren jeweils rund fünf Millionen Franken an die Betriebskosten sowie zwei Millionen Franken für die Infrastruktur beigeschossen – bei Einnahmen von nur 2,8 Millionen Franken jährlich. Pro Passagier beträgt die Subvention mehr als zehn Franken.
Hochfliegende Pläne für die Bahn
Eine Fusion der beiden Gesellschaften ist für beide Seiten kein Thema. «Eher fusionieren wir mit der Rhätischen Bahn als mit der SSIF», erklärt der scheidende FART-Direktor Dirk Meyer. Trotzdem schmiedet er hochfliegende Pläne. Nach der Eröffnung des Lötschberg- und später des Gotthardtunnels träumt er von direkten Zügen von Visp bis in die Magadinoebene – ohne Halt in Santa Maria.
Doch dafür müssten die Gleise der Centovallibahn vom unterirdischen FART-Bahnhof Locarno wieder ans Tageslicht geführt werden. Die Chancen für ein solches Vorhaben sind nicht allzu gross. Noch erinnert man sich im Tessin und in Bern an die horrenden Kostenüberschreitungen beim Bau des Tunnels unter Locarno: Statt der veranschlagten 38 verschlang die «Metro» gegen 130 Millionen Franken.