Der Kunst-Magnet
In seiner Galerie in Wil SG, die zugleich sein Zuhause ist, hortet Walter Scheitlin Kostbarkeiten aus aller Welt. «Die Dinge finden den Weg zu mir», sagt der 83-Jährige. Von Stücken aus seiner kolossalen Sammlung trennt er sich nur sehr widerwillig.
Veröffentlicht am 26. Februar 2007 - 11:36 Uhr
Wil hat sich Mittagsruhe verordnet. Es geht gemächlich zu in der schmucken St. Galler Kleinstadt. Schulkinder trotten nach Hause, aus den Restaurants dringen Wortfetzen nach draussen. Unscheinbar inmitten einer langen Häuserreihe steht ein schmales Gebäude mit dem Namen «Galerie beim Rathaus». Das Gebimmel der vielen kleinen Glocken über dem Türrahmen erinnert beim Eintreten an die Atmosphäre eines Ladens aus den fünfziger Jahren, in dem man zu Kinderzeiten Süssigkeiten aus grossen Glasbehältern fischen konnte.
Die alte Holzstiege knarrt. Ein älterer Herr kommt die Treppe herunter - hellwach im Blick, freundlich, neugierig. Willkommen in der faszinierenden Welt des Sammlers Walter Scheitlin. Bis unters Dach ist das viergeschossige Haus voll gepackt mit Kunstwerken, zusammengetragen aus fast sämtlichen Erdteilen.
Woher, um Gottes willen, hat dieser Mann das alles? Der knapp 84-jährige Scheitlin schmunzelt milde: «Ich sammle seit fast 70 Jahren. Die Dinge finden eben ihren Weg zu mir und ich zu ihnen, auch wenn es manchmal etwas länger dauert.»
Das Resultat dieser Ausdauer ist beeindruckend. Eine kleine Führung gefällig? Die Wände sind voll gestellt mit Tausenden von kunsthandwerklichen Preziosen und Raritäten aus allen erdenklichen Epochen: mit antiken indischen Tempelschnitzereien, einer Vielzahl afrikanischer Masken, verwitterten, teils überlebensgrossen Statuen aus Indonesien, Skulpturen aus Japan oder China. Aus schummrigen Ecken grinsen furchterregende Dämonen, locken verführerische Tänzerinnen, strecken Buddhas den Besuchern ihre polierten Bäuche entgegen. Wer die Augen schliesst, kann die dumpfen Töne von Buschtrommeln hören und sich taumelnd entführen lassen in längst vergessene oder untergegangene Welten. Die Herzen vieler Völkerkundler würden Purzelbäume schlagen ob dieser einzigartigen Vielfalt, die einer unwirklichen Zeitreise gleicht.
Geboren wurde Walter Scheitlin 1923 im toggenburgischen Lichtensteig, wo seine Grosseltern eine Gerberei betrieben. Weil es in den zwanziger Jahren mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in der Schweiz nicht zum Besten bestellt war, reiste Vater Scheitlin mit seiner Familie durch halb Europa und landete schliesslich in Österreich. Aber auch dort war ihm das Glück nicht hold. Die Nazis bedrängten ihn, in die NSDAP einzutreten. Der Freidenker lehnte ab und kehrte mit seiner Familie 1939 wieder in die Schweiz zurück.
Nicht alles ist Gold, was glänzt Sohn Walter zog in die Westschweiz, machte eine kaufmännische Lehre in einem Internat und wurde anschliessend ins Militär einberufen. Er bat, man möge ihn zu einer Einheit versetzen, die über einen Sitzplatz verfüge - er habe so schwache Füsse. Scheitlins ungewöhnlichem Wunsch wurde nicht entsprochen, und er landete ausgerechnet bei der Gebirgsinfanterie. Rückblickend kann er darüber scherzen: «Es war das Beste, was mir passieren konnte, denn so wurden meine Füsse gesund.»
Als Galeriebesitzer und Kunsthändler machte sich Walter Scheitlin schon in jungen Jahren einen Namen. «Damals», erinnert er sich, «waren Brockenhäuser und Flohmärkte die besten Schulen und Akademien für einen wie mich. Da lernte man schnell, Gold von Messing zu trennen.» Zu seiner Sammlerkarriere trug auch die enge Verbindung zu seinem älteren Bruder Werner bei. Dieser war Kunstmaler und für Walter ein grosses Vorbild: «Ich hielt ihn für den besten aller Maler und wollte so sein wie er.» Doch Werner Scheitlin reagierte ausgesprochen grob auf den Wunsch seines kleinen Bruders, sich ebenfalls der Kunst zuzuwenden: «Du bist doch der grösste Trottel. Du kannst nicht malen, du kannst nicht singen, tanzen kannst du auch nicht - du kannst gar nichts.» Scheitlin lacht, denn er habe geantwortet: «Das stimmt alles, aber ich habe Ausdauer.»
Scheitlin hat zu fast allen seiner raren Stücke eine Geschichte zu erzählen, weiss über die Herkunft und die jeweilige Kultur Bescheid. Er zeigt auf einen Art-déco-Schrank: «Den habe ich in St. Gallen gekauft. Ein Schreiner aus Zürich hat ihn für den König von Württemberg gebaut. Elend schwer, aber ein schönes Stück und wunderbar verarbeitet, nicht wahr?» So ganz nebenbei macht er auf ein Landschaftsgemälde aufmerksam: «Ein Bild vom Bodenseemaler Adolf Dietrich. An diesem grossen Meister habe ich vor allem seine Bescheidenheit geliebt.»
«Ich freue mich über jedes Stück» Vor einer kleinen Jesusskulptur bleibt der Galerist abrupt stehen. Schon fast zärtlich gleitet sein Blick über diese Kostbarkeit. «Davon gibt es weltweit nur noch fünf Exemplare - und eines ist eben bei mir.» Dass ein früher Toulouse-Lautrec etwas versteckt um die Ecke hängt, ist dann auch keine besondere Erwähnung mehr wert. «Und die hier», Walter Scheitlin zeigt auf zwei hundsgrosse Elefanten, «die kommen aus dem chinesischen Kaiserpalast.» Neulich sei Chinas Botschafter hier gewesen und habe die beiden Werke auf 1730 datiert. Verschmitzt fügt er an: «Die sind aus einer Sammlung aus Ascona über die Alpen bis zu mir gewandert. Ich sagte doch: Die Dinge finden ihren Weg zu mir.»
Für den Sammler haben die Bilder von Eduardo Samartino einen besonderen Stellenwert. Scheitlin war mit dem italienischen Maler befreundet, teilweise arbeitete dieser sogar bei ihm in der Galerie. Samartino galt in den dreissiger Jahren als grosser Vertreter der Avantgarde. In ihrer Bedeutung werden seine Werke mit denen von Picasso verglichen. Einige seiner Bilder zieren die Wände der Galerie, andere stehen, sorgsam in Kisten verpackt, auf dem Dachboden, eingerahmt von alten Teppichen aus dem Iran oder aus Afghanistan.
Scheitlin ist wohl weit und breit der einzige Galerist, der in seiner Galerie auch wohnt. «Manchmal stehe ich nachts auf und schaue mir meine Sachen an, freue mich über jedes Stück. Das ist halt mein Leben.» Manchmal nimmt er dann eine Maske von der Wand. «Wenn sie Patina hat, dann weiss ich, dass sie einst betanzt wurde, und nur dann lebt sie auch.»
Höchst ungern trennt sich Scheitlin von einem seiner Werke. Und wenn, dann gibt er seinen ehernen Grundsatz nie auf: «Ich verkaufe nur, wenn ich feststelle, dass der Gegenstand zur Seele des potenziellen Käufers passt.» Oder wenn eine Reparatur am Haus fällig wird und die Haushaltskasse die anfallenden Kosten nicht deckt: «Dann gebe ich schon was weg, wenns unbedingt sein muss.»
Kein Herz für Schnäppchenjäger Oberflächlichkeit ist Walter Scheitlin ein Gräuel. «Wenn da einer mit gegeltem Haar im dicken Auto vorfährt und für seine Freundin rasch was erstehen will - nicht mit mir, den lasse ich gar nicht rein.» Dabei lächelt er so weich, dass man ihm diese Härte gar nicht abnehmen will.
Und was soll mit all den Raritäten später mal geschehen? «In meinem Alter», sagt Scheitlin, «muss ich mich beeilen, meine Sammlung einer Stiftung zu übergeben.» Leicht sei das nicht: «Die Leute schauen heutzutage nur noch aufs Geld, und ich hätte gern jemanden, bei dem auch Passion und Liebe dahinterstecken.» Er wolle nicht, dass seine Werke «irgendwo in einem Museumskeller verstauben oder in alle Winde verstreut werden».
Unter der Ladentür zeigt er noch schnell auf ein Bild: «Das hat der Schwester von Napoleon gehört.» Dann schliesst er behutsam die Tür seines Schatzkästchens. Leise erklingen die Glöckchen.