Du kannst nicht immer 17 sein...
Partys feiern ist nicht mehr das Privileg der Jugend: Auch ältere Semester wollen Spass haben und abtanzen. Ein Stimmungsbericht aus einer Biodisco und einem Agglo-Tanzpalast.
Veröffentlicht am 6. April 2006 - 14:38 Uhr
Samstagabend, 21.30 Uhr. Im Touringhaus in Solothurn steigt die Disco Rainbowdance, die unter einem biologischen Stern steht: Getanzt wird ohne Schuhe und meist auch ohne Socken. Die Party ist strikt alkohol- und rauchfrei - statt Bier und Glimmstängel gibt es Speis und Trank aus der Bioecke: Säfte, Sirupe, Suppen, Reformhauskost. Hier hängt eine Friedensfahne, dort raschelt eine Schilfpflanze, gegenüber wartet eine Magnumflasche mit energetischem Wasser auf die durstigen Kehlen.
«Das Ganze entspricht meinem Lebensgefühl», sagt Elisa Hofer gut gelaunt und lässt sich auf den Kissenstapel fallen. «Ich tanze gern, aber in normale Discos gehe ich nicht.» Die 46-Jährige war vor sechs Jahren erstmals in einer Barfussdisco und wünschte sich eine solche Veranstaltung auch in Solothurn. Zwei Jahre lang organisierte die Kindergärtnerin die «Rainbowdance»-Partys in viel Fronarbeit und baute ein Stammpublikum auf. Inzwischen hat sich die allein erziehende Mutter aus dem Team zurückgezogen und kann die Disco wieder als Tänzerin geniessen.
«Ich trinke keinen Alkohol, rauche nicht und esse kein Fleisch», sagt Elisa Hofer, die auch in der Erwachsenenbildung aktiv ist. Viele Discogäste hätten ähnliche Interessen, machten Ausdruckstanz oder Kontaktimprovisation. «Standardtanz ist hier kaum gefragt», sagt sie. «Jeder darf so aus sich herausgehen, wie er will, ohne dass jemand mit dem Finger auf ihn zeigt.» Und es sei angenehm entblössend, die Schuhe abzulegen: «Barfuss tanzend sind alle Menschen gleich - von der Anwältin bis zum Putzmann.»
Ihren gesunden Lebensstil werten die Barfusstänzer nicht als Verzicht, im Gegenteil: «Es geht mir um ein bewussteres Leben, um eine Verbundenheit mit etwas Grösserem», sagt Hans Hänni, 42. Der Postangestellte aus Stutz am Bielersee ist regelmässig in der Biodisco anzutreffen. In normalen Klubs würden Türsteher auf Kleider und Aussehen achten, hier hingegen geniesse man viel Freiheit: «Jeder kann sich so geben, wie er ist.» Vorausgesetzt, er hält sich an die Hausordnung: kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Schuhe! Ist das überhaupt noch Freiheit?
Batikhosen und Stirnglatzen
«Ich fühle mich um ein Vielfaches wohler in dieser Atmosphäre, mit diesen Menschen», sagt Hänni. «Die verqualmten Lokale, in denen oft Angeheiterte oder Verladene abfeiern, sind schon lange nicht mehr meine Welt.» Aus den Boxen röhren Didgeridoos und poltern Buschtrommeln - bei Tribal aus Australien zieht es Hans Hänni auf die Tanzfläche. Anschliessend noch «Black Magic Woman» von Santana, dann gönnt er sich eine Trinkpause an der Wasserflasche.
Um 23 Uhr ist die Schuhreihe an der Garderobe bereits ziemlich lang, etwa 50 Gäste schlendern zwischen dem Tanzraum und der Buffet-Lounge auf dem roten Spannteppich hin und her, der von einer Bodenbelagsfirma gesponsert ist. Darunter einige Familien mit Kindern, ein paar Jugendliche, doch die meisten Besucher sind zwischen 40 und 50. Manche Männer tragen Batikhosen mit Gummizug, ärmellose Shirts und Stirnglatzen, die Frauen Jeans, Woll- und Samtsachen. Dazu gibt es flackernde Kerzen und wallende Tücher. Nur der Gang zur Toilette ist nicht gar so romantisch: An der Kellertreppe müssen sich die Besucher Badelatschen überstreifen, damit sie auf dem nackten Beton nicht plötzlich kalte Füsse bekommen.
«Unsere Gäste geniessen bewusst die alkohol- und rauchfreie Atmosphäre», sagt «Rainbowdance»-Leiterin Simone Hertner. Die 30-Jährige ist Köchin und Atemtherapeutin, hat den Sirup für den Abend selber gemacht und nennt sich «Ernährungskünstlerin». Sie glaubt, dass die Biodiscotheken Raum bieten für Begegnung mit sich selbst und mit anderen: «Es ist ein viel natürlich-kreativeres Sein möglich, wenn man barfuss ist.» Die 46-jährige She-DJ Milna, die eigens aus Zürich angereist ist, bestätigt das: «Hast du weder Bierglas noch Zigarette in der Hand, um dich daran festzuhalten, und fehlen auch die Schuhe, dann bist du total nackt. Das macht das Tanzen viel intensiver.» Sagts und schiebt den Regler hoch fürs nächste Stück: «Aquarius» aus dem Musical «Hair».
Die Musik ist nicht so wichtig
Discos für Oldies sind gross in Mode. In Bern etwa, wo die Barfussidee seit Anfang der neunziger Jahre gleich in zwei Lokalen zelebriert wird, gibt es nun auch eine Ü38-Party: Nur wer älter ist als 38, kommt rein - die Ausweise werden kontrolliert. Im Februar war Premiere, Mitte März folgte die zweite Veranstaltung; das Lokal sei an beiden Abenden «total ausgebucht» gewesen, wie Organisator Remo Neuhaus sagt. Der Gastronom begann vor fünf Jahren, Ü21-Partys zu veranstalten. Zwei Jahre später lancierte er die Ü28-Discos, die nun unter dem Label Celebreighties in Bern und Zürich etabliert sind. Das Erfolgsrezept des 38-Jährigen: «Das Wichtigste ist nicht die Musik, sondern dass die Leute mit Gleichgesinnten feiern können.» Das gilt auch für den Biotrend in den Discos: Die Anhänger vernetzen sich. Inzwischen gibt es Barfussveranstaltungen in Basel, Bern, Schaffhausen, Solothurn, Winterthur und Zürich.
Magnetkarte als Flirthilfe
An ein älteres Publikum richtet sich auch jene Party, die jeden Donnerstag im «Musikpark A1» in Dietikon ZH steigt. Der Name des Lokals ist Programm: Die 1'500 Quadratmeter grosse Discothek liegt direkt an der Autobahn A1, hat Hunderte von bewachten Parkplätzen und lockt motorisierte Gäste aus der halben Deutschschweiz an. Der Schuppen gehört zum MPC-Konzern, der in Deutschland und Österreich über 40 Filialen betreibt. Sechs Millionen Franken verschlang die Glitzerwelt in Dietikon - 1'600 Leute drängeln sich hier an guten Abenden.
Beim Eintritt wird jeder Gast fotografiert, und sein Bild kommt auf eine Magnetkarte, mit der er den ganzen Abend lang konsumieren kann. Abgerechnet wird zum Schluss. Die Karte ist aber auch ein Hilfsmittel zum Flirten: An Terminals kann man die Besucherinnen und Besucher begutachten und bei Gefallen eine kurze Mail verschicken. Und wer einmal den Eintritt gelöst hat, kann frei zwischen den drei aufwändig dekorierten Sektoren pendeln: dem Rittersaal mit Bar und Snackküche, dem Tanzlokal im Barockstil mit viel House und Techno und der Talstation, die mit ihren Berghütten an eine Après-Ski-Disco erinnert.
Die Talstation ist der Ort, an dem DJ Janosch jeden Donnerstag seinen Gratistanzkurs abhält. «Ich bin nicht nur DJ, sondern auch Entertainer», stellt er klar. Bei ihm gelte: «Der Gast ist König.» Vor allem für Leute, die nicht mehr 20 seien und trotzdem gern in den Ausgang gingen, sei das Angebot an Klubs dürftig, das Bedürfnis aber steigend: «Wer gern tanzt und nicht mehr ganz jung ist, fühlt sich in einer gewöhnlichen Disco rasch fehl am Platz.» Der 42-Jährige will das verhindern, indem er etwa die «Damenwahl» ausruft: «Jede Frau sucht sich einen Mann, und wenn sie einen Korb erhält, muss er ihr ein Cüpli zahlen.» Dann lässt er den ersten Heuler laufen: «Sex Bomb» von Tom Jones.
Im Gegensatz zur Biodisco in Solothurn fliesst hier reichlich Alkohol. So gibt es unter anderem Wodka im «Power-Tower» zu kaufen - drei Liter zu 99 Franken. Auch geraucht wird generös, und statt blanker Füsse sieht man Cowboystiefeletten und Turnschuhe. Und doch gibt es
eine Gemeinsamkeit: Gleichaltrige und Gleichgesinnte treffen sich.
Männerstrips und Beautytipps
Zum Beispiel der 47-jährige John Schnyder, ein Banker mit Arbeitsort Zürich und Wohnort im aargauischen Stetten. Fast jeden Donnerstag legt er nach Feierabend in der Tiefgarage den Anzug ab und schlüpft in Jeans und Freizeithemd. «Ich bin Stammgast hier, weil der Ort ideal an meinem Arbeitsweg liegt», sagt Schnyder, während «Celebration» von Kool & The Gang gespielt wird. Und er treffe meistens «dieselbe Clique» - alles Leute «im besten Alter». Die Atmosphäre sei ungezwungen, keiner schaue aufs Aussehen oder auf tänzerische Perfektion. «Stimmung ist hier das Wichtigste.» Derweil ertönt «Tausendmal berührt» von Klaus Lage.
Um 20.30 Uhr startet der Tanzkurs, rund 30 Männer und Frauen machen mit. Janosch erklärt übers Mikrofon, wie man Merengue, Salsa, Jive tanzt, und animiert die Gäste, Paare zu bilden. John Schnyder tanzt vorwiegend mit Andrea H. (Name der Redaktion bekannt), einer 45-jährigen Coiffeuse aus Wettingen, die oft ins «A1» kommt - «für meinen Frauenabend». Während ihr Freund am Freitag Billard spiele, gehe sie immer am Donnerstag weg. Im «A1» fühle sie sich auch als Frau sicher, vom Parking sei es nicht weit bis in den Klub. Öfter kommt sie schon um 19 Uhr, weil es dann ein Buffet für nur zehn Franken gibt. Manchmal werden im Lauf des Abends Männerstrips gezeigt, Horoskope gelesen oder Beautytipps abgegeben. Andrea H. hat eine Memberkarte, grüsst bekannte Gesichter, bewegt sich geübt durch die verwinkelten Räume.
«Ich fühle mich jünger, als ich bin», sagt sie, aufs spezielle Angebot für reifere Partygänger angesprochen. Gut sei es trotzdem, dass die «A1»-Leitung darauf achte, in der Talstation «nur Leute zuzulassen, die auch hineinpassen». So filtern Türsteher jene Jugendlichen heraus, die zu angeheitert sind und die Tanzschüler belästigen könnten. DJ Janosch erweist sich als wahrer Mister Wellness der Tanzfläche: Er bringt genau jene Hits, die das nostalgische Herz erfreuen, und er animiert exakt so weit, dass Paare zusammenkommen und ohne Peinlichkeit wieder auseinander gehen können. Und selbst für die einsamen Herzen, die sich schüchtern auf die hölzerne Balustrade stützen und sehnsüchtig den Lichtern der Discokugel nachblicken, hat Janosch Trost parat: «I won’t let the sun go down», lässt er Nik Kershaw singen: «Ich lasse die Sonne nicht untergehen.»