Krebsveranlagung: Interview mit der Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle
Die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle über die Diagnostik von Krebsveranlagungen, heikle Entscheide der Betroffenen und Leitplanken für die Beraterinnen und Berater.
Beobachter: Mit Hilfe von Gentests können heute gewisse Veränderungen im Erbgut erkannt werden, die auf ein erhöhtes Krebsrisiko hindeuten. Doch was macht eine Patientin mit dem Wissen, dass sie mit etwa 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit irgendwann in ihrem Leben an Brustkrebs erkranken wird?
Ruth Baumann-Hölzle: Die betroffene Frau kann mit dieser Information wohl nicht sehr viel anfangen. Die Frage ist doch: Wie können wir mit dem Wissen um unser persönliches Erkrankungsrisiko die Krankheit beeinflussen? Bei Krebs sind die möglichen Präventionsstrategien begrenzt. Zurzeit lassen sich nur bei bestimmten Darmkrebsarten Massnahmen ergreifen, mit denen man dem Krebs vorbeugen kann. Eine weitere ist die Brustamputation, die aber einen äusserst schwerwiegenden Eingriff in das Leben einer Frau darstellt, ohne dass sie damit Sicherheiten gewinnen würde.
Beobachter: Bedeutet das, dass die Gendiagnostik nur dann angewendet werden soll, wenn den Betroffenen auch konkrete Massnahmen zur Prävention zur Verfügung stehen?
Baumann-Hölzle: Ja, das wäre vernünftig. Es darf kein Mensch zu einem Gentest überredet werden, niemandem darf ein Resultat aufgezwungen werden. Umgekehrt dürfen Menschen Gentests nicht vorenthalten werden, wenn damit Schaden vermieden werden kann. Zum Glück gibt es noch kein Test-Set zu kaufen, um sich zu Hause mit einem Tropfen Blut auf eine Anzahl Erbkrankheiten zu prüfen ähnlich wie man mit ein paar Tropfen Urin einen Schwangerschaftstest macht.
Beobachter: Menschen, die um ihr erhöhtes Krebsrisiko wüssten, könnten Früherkennung und Prävention intensivieren, sagen Ärzte.
Baumann-Hölzle: Das ist möglich. Aber wir dürfen nicht vergessen: Die überwiegende Mehrheit der Krebserkrankungen wird nicht vererbt.
Beobachter: Ein Gentest könnte verunsicherten Menschen Klarheit über ihre genetische Veranlagung bringen. Die Betroffenen könnten ihr Leben nach dem Ergebnis ausrichten.
Baumann-Hölzle: Das ist einfacher gesagt als getan. Soll man auf Kinder verzichten, wenn man weiss, dass man eine gewisse Veranlagung für Magenkrebs hat? Soll man heiraten? Lohnt sich eine teure Ausbildung? Die Freiheit, in unsere Zukunft blicken zu können, bezahlen wir mit neuen Zwängen. Die Betroffenen kommen mit dem Wissen über ihr Krebsrisiko in ein persönliches Dilemma und sie werden wohl auch subtilen gesellschaftlichen Druck zu spüren bekommen. So wie eine Mutter, die ein Kind mit «Trisomie 21» zur Welt bringt, gefragt wird, wieso sie nicht abgetrieben habe, muss sich bald auch eine Mutter mit genetischem Krebsrisiko viele Fragen gefallen lassen. Die Gesellschaft überlässt es dem Individuum, aufgrund seines Risikos eine Entscheidung zu treffen. Unter dem Deckmantel der Freiheit delegieren wir auf diese Weise schwierige ethische Fragen an die Einzelnen. Das ist unfair.
Beobachter: Der Gesetzesentwurf über genetische Untersuchungen beim Menschen betont die Beratung vor, während und nach einem Gentest. Heisst das: Beratung gut, alles gut?
Baumann-Hölzle: Ein gutes Beratungsangebot ist ein ganz wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem verantwortlichen Umgang mit Gentests. Doch für diesen Schritt muss noch viel getan werden, denn es fehlt derzeit sowohl an personellen als auch an finanziellen Ressourcen. Anderseits sollten die Beratenden unabhängig sein: Es darf einfach nicht sein, dass Beraterinnen und Berater an diesen Tests Geld verdienen.