Öl gegen Stress (1)
Ayurveda ist das älteste Medizinsystem der Welt. Die indische Lehre vom langen Leben heilt nicht nur Krankheiten, sondern gilt als Wundermittel gegen den Stress im Westen. Ein Selbstversuch im Ursprungsland.
Veröffentlicht am 9. März 2015 - 17:53 Uhr
Willkommen im Ayurveda-Blog «Pillen unter Palmen» von Tanja Polli.
In diesem Blog hat die Autorin den Verlauf ihrer dreiwöchigen Ayurveda-Kur in Indien dokumentiert.
Episode 1: Öl gegen Stress
Episode 2: «Du bist, was du verdaust»
Episode 3: Tschüss Chili - grüezi Schoggistängeli
Episode 4: Fleisch oder nicht Fleisch, das ist hier die Frage
Episode 5: Morgenstund hat Gold im Mund
Episode 6: Mit Ayurveda gegen Krebs?
Episode 7: Der Tag der Tage: Cleaning Day
Episode 8: Das Ende vom Anfang
Plötzlich traf ich sie überall, in Yogaklassen, an Geburtstagsfesten, an geschäftlichen Meetings: Die Frauen und Männer, die nach den Ferien aussahen, als seien sie in einen Jungbrunnen gefallen. Ayurveda lautet ihr Zauberwort, und sie sagen Dinge wie «innerlich total gereinigt», «voller Energie», «viel weniger gestresst».
Die ersten zwei, drei Mal hört man sich das an – aber irgendwann will man das selber auch. Die Auswahl an Kurorten ist riesig. Meine Wahl fällt auf das Nattika Beach Ayurveda Resort in Kerala. Weil ich Indien kenne und liebe. Und weil ich – wenn schon, denn schon – ans Meer will. Was wird mich darüber hinaus erwarten? «Einläufe», prophezeien Freundinnen, «bittere Pflanzenliköre» und «flüssige Butter in Weingläsern».
Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht so richtig entspannt bin, als ich ins Flugzeug steige. Nach neun Stunden Flug sind die Ängste aber erst einmal vergessen. Ich wohne in einem Bungalow mitten in einem Palmengarten, wenige Meter davor liegt ein endloser Strand, ein paar Fischer holen gerade ihre Netze ein.
Aber schnell wird klar: Das hier sind keine Ferien, das hier ist eine Kur. Wenige Stunden nach der Ankunft folgt die erste Konsultation bei einer ayurvedischen Ärztin. Frau Doktor Hema hat freundliche Augen, langes, graumeliertes Haar und behandelt erst seit ein paar Jahren westliche Patienten. Sie hat einen umfangreichen Fragebogen vor sich: Welches Essen ich bevorzuge, will sie wissen. Welches Klima? «Wenn Sie in einen Raum mit fremden Menschen kommen, sprechen Sie oder hören Sie zu?» , fragt sie. Und: «Denken Sie erst und sprechen dann oder sprechen Sie zuerst und denken danach?»
Die Fragen sollen helfen, Doshas zu bestimmen, also herauszufinden, welches der Elemente Feuer, Luft oder Erde am ehesten mein Dasein bestimmt. Auch soll die Anamnese Disbalancen aufzeigen. Frau Doktor sieht mich an, als kenne sie diese längst. «Kopfschmerzen?», fragt sie. «Unruhiger Geist?» Yep. Auch dass mein Iliosakralgelenk manchmal schmerzt, wundert Doktor Hema nicht. «Die Westler und der Sport», sagt sie und schüttelt sanft den Kopf, «too much, too much...»
Tatsächlich empfiehlt Ayurveda längst nicht jedem Menschen intensive sportliche Betätigung:
- Vata-Typen, also feingliedrige, schlanke Menschen, die sich von Natur aus gern und schnell bewegen, sollten sich nicht zu stark verausgaben.
Heisst: langsame, leichte Sportarten, die den Körper kontinuierlich in Bewegung halten – sanftes Yoga, Wandern, Schwimmen oder Tai Chi.
Oft streben Vata-Typen aber genau zum Gegenteil. Sie powern sich gerne aus, empfinden schnell Langeweile und wechseln alle paar Monate vom Tanzkurs in die Kletterhalle und von dort zur neuesten Trendsportart. Das kann zu einem Überschuss an Vata führen und zum Beispiel Gelenkprobleme verursachen.
Genauso kontraproduktiv ist für Vata-Menschen ein Übermass an Bewegung. Besser als Power Yoga und Body Combat wären für sie also Spaziergänge, Schwimmen in warmem Wasser. Und immer wieder mal eine beruhigende Ölmassage.
- Pitta-Typen mit ihrem mittleren bis kräftigen Körperbau sind in der Regel diszipliniert und zielstrebig.
Sie haben den Biss, sich auf Wettkämpfe vorzubereiten und in einem Wettbewerb alles zu geben, wobei laut Ayurveda auch für sie 20 Minuten Sport pro Tag ausreichend sind. Geeignet sind Sportarten, die an der frischen Luft ausgeführt werden: Schwimmen oder Surfen, Skifahren, Klettern und Ball- und Teamsportarten.
Wenn Pitta zu dominant wird, macht sich übertriebener Ehrgeiz breit und die Tendenz, die eigenen Grenzen zu übergehen. Ein klarer Trainingsplan und realistische Ziele helfen, nicht übers Ziel hinaus zu schiessen.
- Die von Natur aus kräftigen Kapha-Typen neigen zu Übergewicht und sind oft nicht sehr motiviert, Sport zu treiben.
Wie das Leben so spielt: Genau die eher trägen Kapha-Typen profitieren am meisten von regelmässigem Sport. Sie sind belastbar, intensives Krafttraining hilft ihnen, ihre Rundungen in Form zu halten. Dazu verbrennt Ausdauersport überschüssiges Fett.
Kapha-Menschen sind Geniesser. Von daher sind Sportarten, die Bewegung mit Genuss verbinden, ideal für sie: Tanzen, Nordic Walking in der Gruppe oder eine schöne Wanderung mit anschliessendem Gourmetmenü im Gipfelrestaurant.
«Vata» spuckte einen Online-Test aus, den ich kurz vor der Abreise ausgefüllt habe. Frau Doktor Hema schweigt. Erst in zwei Wochen will sie sich eine Meinung zu meiner Konstitution gebildet haben. Das hier sagt sie mir schon heute: Mein Vata ist erhöht und das Pitta dazu. Heisst: Ich bin gestresst. Das Blutdruckmessgerät gibt Frau Doktor recht, und auch mein Puls galoppiert mehr als dass er ruhig fliesst. Frau Doktor drückt mir ein kleines Fläschen mit einer dickflüssigen, dunkelbraunen Flüssigkeit in die Hand und schickt mich in die erste Massage. Endlich!
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Transparenz beim «Beobachter»: Tanja Polli's Reise nach Indien wurde ermöglicht durch Insight Reisen, Zürich. Die redaktionelle Unabhängigkeit war jederzeit gewährleistet.