Willi Nafzger: «Wir stopfen alles nur noch in uns hinein»
«Genuss braucht geschärfte Sinne», sagt der Theologe, Psychotherapeut und bekennende Geniesser Willi Nafzger. Doch Stress, Zeitdruck und Ängste sind hinderlich beim Schwelgen. Antworten, was Genuss heute sein kann und soll.
Veröffentlicht am 4. Dezember 2001 - 00:00 Uhr
Beobachter: Herr Nafzger, was heisst für Sie geniessen?
Willi Nafzger: Geniessen bedeutet für mich, etwas auszulesen, mich damit zu befassen und es bewusst wahrzunehmen. Würde ich ein Glas Wein einfach runterschütten, wäre das kein Genuss, selbst wenns ein 76er «Château Lagrange» wäre.
Beobachter: Welchen Stellenwert hat der Genuss in Ihrem Leben?
Nafzger: Einen sehr grossen. Mensch sein heisst auch, dem Leben genussvoll zu begegnen.
Beobachter: Sie rauchen Pfeife, trinken gern Wein und essen gern gut – alles Dinge, die auch die Gesundheit schädigen können.
Nafzger: Es ist Mode geworden, das Negative zu betonen. Dabei hat alles im Leben auch positive Seiten. Kurz und bündig: Mich interessiert es nicht mehr, ob etwas gesund ist. Der Genuss etwa, der in einem Glas Wein liegt, ist Teil meiner Lebenskultur.
Beobachter: Was steckt hinter dem Trend, die Gefahren zu betonen?
Nafzger: Die meisten Menschen haben grosse Angst vor dem Sterben. Deshalb sind sie offen für vieles, das Risiken vermeintlich minimiert: Sie trinken Rüeblisaft, essen Spurenelemente, fahren Auto mit Airbag und Überrollbügel. Mit solch gesunder oder vorsichtiger Lebensweise kompensieren sie ihre Angst vor dem Sterben. Ich aber bin mir stets bewusst, dass ich einmal sterben muss. Also will ich meine Zeit möglichst genussvoll verbringen. Sollte ich morgen auf dem Sterbebett liegen, will ich sagen können: «Willi, dein Leben war lebenswert.»
Beobachter: Zeitdruck, Risiken, Angst: Sind wir noch genussfähig?
Nafzger: Tatsächlich ist es heute schwierig, weil vielfach die Beziehung zu dem fehlt, was man geniessen könnte oder will. Wenn es mir egal ist, was ich trinke, was ich esse, wie ich mich kleide, welche Menschen ich um mich habe, wie die Natur aussieht, dann ist Genuss schwierig. Die Fähigkeit, zu geniessen, verlangt Achtung und Respekt vor dem, was man geniessen möchte.
Beobachter: Behindern Schuldgefühle den Genuss?
Nafzger: Das spielt sicher mit: Jemand trinkt abends zu viel und nimmt es anderntags selber wahr. Oder er wird darauf angesprochen: «Das solltest du nicht machen, das schadet der Gesundheit.» Jetzt fühlt sich diese Person schuldig.
Beobachter: Wie lassen sich Schuldgefühle überwinden?
Nafzger: Indem wir wieder lernen, Werte zu erkennen und zu unterscheiden. Zwischen Gut und Böse. Zwischen Richtig und Falsch. Wenn ich abends zu viel getrunken habe, erbringe ich anderntags nicht die gleiche Leistung, vielleicht bin ich gereizt. Nehme ich das bewusst wahr, kann ich gelassen reagieren, ohne quälende Schuldgefühle: Du hast dir gestern geschadet, das nächste Mal passt du besser auf – es kann aber auch das nächste Mal schief laufen.
Beobachter: Wie kann man diese Fähigkeit zum Nachdenken über sich selbst fördern?
Nafzger: Indem man fünf Minuten pro Tag nichts macht. Nicht fernsieht. Nicht Radio hört. Nur dasitzt. Und sich beobachtet. Und Fragen stellt: «Willst du auf diese Weise alt werden, wie du heute lebst? Mit welchen Gefühlen bist du heute aufgestanden? Was hast du für eine Beziehung mit deiner Partnerin, deinem Partner?» Es braucht sehr, sehr wenig, um mit sich selber Kontakt aufzunehmen.
Beobachter: Angenommen, diese Beobachtungen führen zum Wunsch, den Alltag wieder mehr zu geniessen. Was lässt sich für mehr Genuss konkret tun?
Nafzger: Erstens: Genuss verlangt Zeit. Zweitens: Wir müssen unsere Sinne und damit unsere Sinnlichkeit schärfen. Nehmen wir einen Kaffee: Wie sieht er aus? Hat er ein Schäumchen? Wie riecht er? Ist er würzig? Leider vernachlässigen heute viele Menschen ihre Sinne, statt sie zu veredeln. Dadurch verlieren sie die Genussfähigkeit und stopfen alles nur noch in sich rein – vom Hamburger bis zu den Karibikferien.
Willi Nafzger, 59, ist Theologe und Psychotherapeut. Er arbeitet vor allem im Strafvollzug mit Opfern, Insassen und Mitarbeitern. Daneben hat er einen Lehrauftrag an der Uni Bern – und er ist bekennender Geniesser.