Jedes Jahr vor dem Karfreitag klopfte es an der Tür von Josef Gottpreis, und der Mann, der Einlass begehrte, rief: «Herr Doktor, Herr Doktor, ich bitte Sie, geben Sie mir wieder einen Schock!»

Gottpreis, ein junger Arzt in der damaligen Tschechoslowakei, erfüllte ihm den Wunsch. Man legte dem Mann Elektroden an die Schläfen und drückte auf den Knopf. Der Apparat versetzte ihm Stromstösse. Der Mann beruhigte sich. Und fürchtete nicht mehr, man würde ihn am Karfreitag kreuzigen. «Er litt unter wahnhaften Depressionen», erinnert sich Josef Gottpreis, der seit fast 50 Jahren als Psychiater wirkt, zuletzt als Oberarzt an der Klinik Königsfelden AG.

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Elektrokonvulsionstherapie ist in der Schweiz wieder salonfähig, spätestens seit das Sanatorium Kilchberg, eine private Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit 174 Betten, sie «neu» und damit als zwölftes Schweizer Spital anbietet. 40 Jahre hat es gedauert, bis die EKT, wie Ärzte sie nennen, erneut ins öffentliche Bewusstsein rückte – diesmal aber als Segen: als Behandlung von Depressiven, denen keine andere Therapie zu helfen vermag. Die Fachgesellschaften für Psychiatrie und Psychotherapie aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol setzen sich gemeinsam ein für den rechtzeitigen Einsatz der EKT, da sie «selbst bei schwerkranken Patienten oft hervorragende Ergebnisse zeigt». 

«Langjährige Studien zeigen klar, dass die Wirksamkeit der EKT höher ist als die von Medikamenten», sagt Mario Etzensberger, langjähriger Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Königsfelden. «Eigentlich müssten wir jedem schwer Depressiven zuerst EKT empfehlen – und danach Antidepressiva. Aber der Zeitgeist ist eben so, dass EKT etwas ganz Grauenvolles ist.» 

1995 entschied Etzensberger, die EKT in Königsfelden wieder einzuführen. Er löste in den Medien einen Sturm der Entrüstung aus. Die Zahl der Behandlungen stieg trotzdem. 2005 waren es rund 100 EKT-Patienten, heute sind es doppelt so viele. Psychiater in Grossbritannien, Schweden oder Dänemark setzen EKT gegen Depressionen deutlich öfter ein als ihre Schweizer oder deutschen Kollegen.

Wie wirkt EKT? Was gibt es für Nebenwirkungen?

Es gibt zwei Haupttheorien. Die eine besagt, der elektrische Strom selbst bewirke eine Änderung, die andere geht davon aus, dass der ausgelöste Anfall dazu führt, dass sich die chemische Balance im Gehirn des Patienten stabilisiert. «Dazu wissen wir, dass das Hirn mit zahlreichen Botenstoffen – Neurotransmittern – geflutet wird, und das in viel höherer Konzentration, als es ein Antidepressivum tut», sagt Heinz Böker. Er war bis Ende 2015 Chefarzt des Zentrums für Depressionen, Angsterkrankungen und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) in Zürich.

«Eine wichtige Funktion hat zudem die Aktivierung des Nervenwachstumsfaktors. Die veränderten neurologischen und neurochemischen Bedingungen haben wir erforscht. Sie stellen offenbar die Grundlage für den gewünschten klinischen Effekt dar», sagt Böker.

Was auftreten kann: Kopfweh und Gedächtnislücken

Ein Risiko kann die zwölfminütige Narkose darstellen. Für eine einzelne EKT-Behandlung ergibt sich eine Mortalitätsrate von 1 zu 50'000, was dem allgemeinen Narkoserisiko bei kleineren chirurgischen Eingriffen entspricht. Das Risiko bei der EKT sei «sogar geringer als bei einer Therapie mit trizyklischen Antidepressiva», schreibt die deutsche Ärztin Yvonne Steng in ihrer Dissertation.

Der Zürcher Psychiater Heinz Böker nennt nach Hunderten von EKT-Serien Kopfweh, Schwindelgefühle und Unruhe als mögliche Beschwerden – doch «diese klingen bereits nach sehr kurzer Zeit wieder ab». Bei 30 Prozent der mit EKT Behandelten können vorübergehende Gedächtnisstörungen auftreten – sie betreffen die Zeit vor und nach der EKT-Anwendung.

Josef Gottpreis hat Aufstieg und Fall mehrerer Behandlungsmethoden erlebt. Auch die Verdammung der EKT. Er bringt dafür durchaus Verständnis auf: «Als man mir sagte, ich müsse einen Patienten mit EKT behandeln, sagte ich, das tue ich nicht.» Es erschien ihm zu brutal. Worauf sein Vorgesetzter antwortete: «Reden Sie mit den Patienten!» Die sagten: «Wie? Ich habe nichts gespürt. Mir geht es besser.» Es sei ein Problem für die Belegschaft und allenfalls für die Angehörigen gewesen, sagt Gottpreis, aber nicht für die Patienten. Die hätten sich ohnehin oft an nichts erinnert.

Tatsächlich ist der Ruf der EKT vor allem in der Öffentlichkeit schlecht, nicht aber bei Patienten, die mit Schocks behandelt worden sind. Einer Studie zufolge hielten 40 Prozent der Patienten die EKT für «schmerzhaft» oder «grausam» – bevor sie behandelt worden waren. Nach der EKT waren es: null. Sämtliche Patienten hielten die Methode gar für «sicher». (Lesen Sie hierzu unten das Interview mit einer Patientin)

Der «verheerende» Einfluss eines Films

An der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich – dem ehemaligen Burghölzli – werden seit 1940 ununterbrochen EKT-Behandlungen gemacht. «Aber man redete nicht viel darüber, aus Angst vor dieser klischeebesetzten Haltung in der Öffentlichkeit», sagt Heinz Böker.

Heute weiss man: Auch langfristig wirkt die EKT stabilisierend. «Es gibt häufig Post von dankbaren Angehörigen», sagt Böker. «Uns schrieb der Mann einer Patientin: ‹Danke, dass Sie meine Frau auf die EKT aufmerksam gemacht haben, die Behandlung hat ihr das Leben gerettet.›» 

Schwer Depressive – Patienten, die acht bis zehn oder mehr Antidepressiva einnehmen – warten oft jahrelang vergeblich, bis man sie über die Behandlungsmöglichkeit EKT informiert. «Man muss sich vorstellen, wie das Leben aussieht, wenn der Patient in einem chronisch depressiven Zustand verharrt», sagt Böker. «Weil wir es aus ethischen Gründen nicht vertreten können, einem Patienten eine derart wirksame Therapie vorzuenthalten, vertreten wir die Bedeutung der EKT in den vergangenen Jahren offensiver.» 

Das ist nötig, denn zwei Generationen von Schweizer Fachärzten fehlt das Wissen über die EKT. «Es wurde ihnen ja gar nicht mehr vermittelt, weder im Studium noch in den Kliniken, noch in der fachlichen Weiterbildung», bedauert Böker. 

«Ich schätze den Schauspieler Jack Nicholson sehr, aber ich habe ihm diese Rolle nie verziehen. Das ist eine Diffamierung der Psychiatrie.»

Heinz Böker, ehemaliger Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) in Zürich

Schuld daran ist auch ein oscargekrönter Film von 1975, der bis heute das Image bestimmt: «Einer flog über das Kuckucksnest». Die Wirkung war «verheerend», sagt Etzensberger. «Der Film ist nichts anderes als eine Zusammenstellung von allem, was in der Psychiatrie möglich ist. An ein und demselben Patienten. Von der Medikation über das Reden zu EKT bis hin zur Operation. Alles, was man in der Geschichte der Psychiatrie tat, wurde an Jack Nicholson demonstriert. Als würde man ein und demselben Patienten das Bein amputieren, das Hirn operieren und das Herz ebenso – und die Gallenblase raus und den Darm fort und den Schwanz auch: Wenn man so einen Film sehen würde, ginge kein Mensch mehr in die Chirurgie!» 

«Ich schätze den Schauspieler Jack Nicholson sehr», sagt Böker, «aber ich habe ihm diese Rolle nie verziehen. Das ist eine Diffamierung der Psychiatrie als repressive Institution, die Individuen, die um Autonomie kämpfen, das Rückgrat bricht.» 

Manche Schweizer Kliniken setzen die EKT nicht ein. Das Genfer Unispital etwa verzichtet seit den 1980er Jahren darauf – «wegen der kontroversen Seite der Behandlungen und der damaligen Polemik», wie der Presseverantwortliche schreibt. Zu den Kritikern der EKT zählen auch Vertreter von Scientology. Sie halten die Psychiatrie generell für missbräuchlich. 

«Wenn Medikamente und alles andere nichts nützen, spricht man von Resistenzen. Das tritt relativ häufig auf. Man macht sich und den Patienten in der Psychiatrie etwas vor, wenn man etwas anderes behauptet», sagt Etzensberger. Die Ansprechrate von Antidepressiva betrage etwa 60 Prozent. 40 Prozent reagieren also nicht. «Ich kann Medikamente ändern, kombinieren, Schilddrüsenhormone dazugeben und weiss Gott was alles, Vitamine, Omega-3-Fettsäuren… Doch manche sind weiterhin depressiv. Von diesen sprechen 60 bis 70 Prozent auf die EKT an, 30 bis 40 Prozent nicht.» 

«EKT allein ist nicht die Lösung»

Die Hürde, EKT zu erhalten, ist hoch. «Es ist eigentlich pervers», sagt Etzensberger. «Man will, dass sich ein Patient für die EKT entscheidet, obwohl wir wissen, dass sich ein Depressiver nicht entscheiden kann. Daher ziehen wir immer die Angehörigen bei und fragen, ob sie ebenfalls zustimmen.» 

«EKT allein ist nicht die Lösung des Problems», sagt Josef Gottpreis. «Es braucht das Zusammenspiel von Körper und Psyche – bei schwer Depressiven also eine psychotherapeutische Begleitung. Stellen Sie sich vor, was in einem Menschen vorgeht, der jahrelang von einer Depression geplagt wurde und sich nach der EKT in einer neuen Lebenssituation wiederfindet.»

Rückfälle treten ebenso häufig auf wie bei Antidepressiva. «EKT ist kein Heilverfahren, es ist ein Behandlungsverfahren», sagt Etzensberger. Das Problem ist: «Es gibt keine Heilverfahren bei Depressionen. EKT ist eine Behandlung zur Verminderung der Symptome einer Depression. Das ist bei Antidepressiva nicht anders. Es gibt viele Patienten, die immer wieder zur EKT-Behandlung kommen, ambulant, nach einer gewissen Zeit, weil sie gelernt haben, dass sie mit den EKT-Behandlungen stabil sind, genauso wie andere, die mit Lithium stabil sind oder mit anderen Medikamenten. Damit aufhören heisst: Rückfallrisiko.»

Geforscht wird gegenwärtig im Bereich der schonenderen «tiefen Magnetstimulation», bei der das Gehirn eines Depressiven mit Magneten angeregt wird. Sie gilt aber als eine Ergänzung der EKT, nicht als Ersatz.

Das Vertrauen in die EKT ist in Fachkreisen gross:

«Sollte ich je an einer Altersdepression erkranken, bestünde ich auf EKT, wenn alle Medikamente nichts nützen.»

Josef Gottpreis, Psychiater

Wie der hoffnungslose Fall überlebte

Zu den Leuten, die der EKT ihr Überleben verdanken, zählt sich Sherwin B. Nuland, ein US-Chirurg. Mit 43 Jahren war er nach seiner Scheidung schwer depressiv geworden. Alle Therapien nützten nichts. Ein junger Arzt empfahl eine Behandlung mit einem Gerät, das man nur noch für Notfälle aus dem Keller holte – wenn ein Patient in einer skurrilen Pose erstarrte und gestorben wäre: EKT.  

Nach den ersten acht Behandlungen spürte Nuland – nichts. Nach der neunten regte sich in seinem Hirn etwas, nach der zehnten ging es aufwärts; nach der 20. stand er, der hoffnungslose Fall, aufrecht in der Kaffeeküche und wusste: «Ich finde hier raus.» Vier Monate darauf verliess Nuland die Klinik, heiratete erneut, wurde zweifacher Vater und begann eine Karriere als Autor wissenschaftlicher Bücher.

Über seine Wiedergeburt sagte Nuland: Natürlich sei er nicht frei von Depressionen geblieben, das habe er auch nicht erwartet. Doch die EKT sei für ihn die letzte Rettung gewesen. Er habe das nicht für möglich gehalten: «Aber es gibt so etwas wie den Phönix, der aus der Asche steigt.»

Interview mit einer Patientin: «Eine Art positive Gehirnwäsche»

Als Antidepressiva und Lithium nicht mehr halfen, entschloss sich eine Patientin zur Elektrokrampftherapie. Sie erzählt von ihren Erfahrungen.

Beobachter: Sie haben eine Elektrokrampftherapie (EKT) hinter sich. Wie kam es dazu?
Selina Hug (Name geändert): Mein Psychiater hatte mir die EKT vorgeschlagen, und ich war völlig dagegen. Alles, was ich darüber wusste, war: Es sei extrem, und man verliere das Gedächtnis. Mein Gedächtnis ist alles, was ich bin; was gibt es denn sonst? Warum sollte ich meine Persönlichkeit aufgeben, um die Depression loszuwerden? Dann las ich das Buch «Ein Engel an meiner Tafel», wo eine Frau ihre Krankheitsgeschichte erzählt, und eines Tages sagte ich dem Psychiater: Ich würde es gern versuchen.

Beobachter: Wie muss man sich die EKT vorstellen?
Hug: Zuerst bist du wochenlang auf einer Warteliste. Dann kommst du in den Behandlungsraum, ziehst dich bis auf die Unterwäsche aus und steigst in ein Spitalhemd. Du legst dich aufs Bett. Anwesend sind zwei Pflegerinnen, ein Narkosearzt, sein Assistent und der Psychiater. Man steckt dir eine Nadel in den Handrücken und fixiert sie. Der Psychiater klebt dir ein paar Dinge auf die Stirn. Du bekommst eine Sauerstoffmaske, man sagt: «Atmen Sie tief!» Dann tauchst du ab, und man steckt dir eine Art Schaumstoffkissen in den Mund. Ich wurde fast süchtig nach der Narkose, sie war so angenehm. Als ich aufwachte, wurde ich manchmal von Weinkrämpfen geschüttelt. Aber die dauerten nicht ewig.

Beobachter: Warum? Hat es weh getan?
Hug: Nein, überhaupt nicht. Ich war bloss etwas verängstigt und orientierungslos.

Beobachter: Wie viele Behandlungen hatten Sie?
Hug: Ich denke zwölf, über zwei Monate verteilt.

Beobachter: Wie kann der Psychiater wissen, wie viele Behandlungen genügen werden?
Hug: Während der EKT wird man öfter getestet. Es gibt einen Fragebogen, mit dem man den Grad der Depression misst. Ich kam auf 45 oder 46 von 63 Punkten. Nach der EKT waren es 15. Man beginne erst bei 18, von einer Depression zu sprechen, sagte mir der Arzt. Vielleicht bin ich nicht mehr depressiv. Vielleicht bin ich bloss noch pessimistisch.

Beobachter: In einer SMS schrieben Sie: «Bin gerade ziemlich verwirrt. Ich weiss nicht einmal, wie ich mit zweitem Vornamen heisse.»
Hug: Echt?

Beobachter: Während der Zeit der EKT-Behandlung schauten Sie sich stundenlang Fotos aus Ihrer Kindheit an.
Hug: Hab ich das?

Beobachter: Ja. Und dann haben Sie mich gefragt, welches Jahr wir haben.
Hug: Oh. Ich kann mich nicht daran erinnern.

Beobachter: Hat man Sie auf den möglichen Gedächtnisverlust hingewiesen?
Hug: Ja. Der Arzt hat von einer Art positiven Gehirnwäsche gesprochen. Er riet mir vor der EKT, Passwörter und PIN-Codes zu notieren. Mein Gedächtnisverlust beschränkt sich übrigens auf die Zeit der EKT-Behandlung.

Beobachter: Sie haben über Jahre Psychopharmaka gegen Ihre Depression genommen.
Hug: Ja. Am Schluss sieben zugleich, danach Lithium, aber es half nichts.

Beobachter: Müssen Sie heute keine Antidepressiva mehr nehmen?
Hug: Doch, aber sehr viel weniger. Ich hatte mir erhofft, nach der EKT völlig auf Pillen verzichten zu können. Unglücklicherweise ist dem nicht so.

Beobachter: Was hat sich alles verändert?
Hug: Zur Zeit der Depression habe ich alles ertragen und dachte, es spielt keine Rolle, nichts spielt eine Rolle. Ich habe gute wie schlechte Gefühle einfach weggeschoben. Seit der EKT tue ich das nicht mehr. Das hat aber auch dazu geführt, dass ich viel leichter weine, auch wenn es nicht tragisch ist.

Beobachter: Hat sich Ihr Körpergefühl verändert?
Hug: Ich habe meinen Geist und meinen Körper immer kritisch betrachtet und nahm wegen der Medikamente, die ich jahrelang schluckte, an Gewicht zu. Inzwischen akzeptiere ich mich sehr viel mehr.

Beobachter: Konnten Sie während der EKT arbeiten?
Hug: Nein. Das ist unmöglich. Man ist zu orientierungslos. Ich bin nach dem EKT-Termin meist nach Hause gegangen und habe mich schlafen gelegt.

Beobachter: Würden Sie nach Ihrer Erfahrung die EKT anderen Depressiven empfehlen?
Hug: Ja, definitiv. Es ist ja weiterhin nur angebracht, wenn andere Behandlungen nicht anschlagen.

Historisches: Depressive mit Krämpfen zu behandeln hat Tradition

  • Hippokrates, der berühmteste Arzt der Antike, setzte vor rund 2300 Jahren Kampfer ein, um Verwirrte durch Krämpfe von ihren «bösen Geistern» zu befreien, die man für die Ursache von Geisteskrankheiten hielt.

  • Im Hochmittelalter empfahl die Äbtissin Hildegard von Bingen Kräuter zur Behandlung bei Verwirrtheit, hinzu Spruchformeln – oder eine Mütze zur Erwärmung des Kopfes.

  • Der Schwyzer Arzt Paracelsus schrieb im 16. Jahrhundert, er könne die Stärke der Krämpfe voraussagen – indem er Kranken eine klar definierte Dosis Kampfer gab, um ihr Leid zu lindern. Wer kein Geld für eine Behandlung der Psyche hatte – und das war die absolute Mehrheit –, dämmerte dahin.

  • «Im Mittelalter kettete man psychisch Kranke an und hielt sie etwa hinter der Zürcher Predigerkirche wie im Zoo. Nach der Messe gingen die guten Zürcher Familien hin und schauten sich an, wie die dort hinten aussehen. Gemacht hat man gar nichts», erzählt Etzensberger. «Da waren uns die Araber weit voraus. Die hatten bereits ums Jahr 1000 Hospize und behandelten psychisch Kranke mit dem, was sie kannten: mit Haschisch, Mohn oder auch Bädern. Man behandelte die Kranken gut.»

  • In der Schweiz wurde das erste Hospiz ein halbes Jahrtausend später eröffnet, in den Räumen des aufgehobenen Klosters Königsfelden. Es war ein «Toubhüsli», ein Haus für die Tobenden. Die Leute stellte man mit Schierling oder Scopolamin – Stechapfel – ruhig. «Es gab jahrelang nichts anderes», sagt Etzensberger. «Den Dichter Conrad Ferdinand Meyer, der zweimal in Königsfelden war, hat man mit Mo-Scopolamin sediert – Mo ist Morphium. Das tat man so lange, bis die Depression weg war. Depressionen haben die Tendenz – die meisten, nicht alle –, nach einer gewissen Zeit von allein zu vergehen.» 

  • Die Zustände in den Irrenhäusern, wie sie lange Jahre hiessen, waren aus heutiger Sicht schlimm. Und zwar für alle. Wer in der 1842 eröffneten süddeutschen Vorzeigeklinik Illenau arbeiten wollte, musste ledig sein, gesund, kräftig, um die 30 und lesen wie schreiben können. Dann warteten 18-stündige Arbeitstage auf sie oder ihn. Vier Ärzte betreuten 400 Kranke. 

  • In Königsfelden schliefen noch Mitte des letzten Jahrhunderts eine Pflegerin auf der Frauenseite und ein Pfleger auf der Männerseite in einem Häuschen, das im selben Raum wie die Betten von 30 bis 40 Kranken stand. «Die Abteilung wurde verschlossen, sie konnten nicht hinaus, es gab keinen Notruf. Sie mussten fertig werden mit Patienten, die Wolldecken und Lederriemen zerrissen und die Wände mit Kot beschmierten», erzählt Etzensberger.

  • Später kam die Arbeitstherapie auf. Man sah, dass Beschäftigung, Strukturen und frische Luft den Verlauf der Krankheit stark verkürzen konnten. Kliniken setzte man ins Grüne, Männer schickte man aufs Feld oder in die Werkstatt, Frauen nähten oder verrichteten andere Handarbeiten. «Die Arbeit in der Spinnerei war so typisch für solche Institutionen, dass das Wort ‹spinnen› allmählich zum Inbegriff der Verrücktheit wurde», schreibt der deutsche Sozialpsychologe Burkhart Brückner in seiner 2010 erschienenen «Geschichte der Psychiatrie».

  • Mit der Entdeckung des Proteohormons Insulin begann schliesslich die Ära der sogenannten Schocktherapien. Man spritzte den Patienten den Blutzuckersenker und versetzte sie so ins Koma – in der Hoffnung, ihr Gehirn würde gewissermassen neu starten. In den 1930er Jahren war das in der Schweizer Psychiatrie eine verbreitete Methode. 

  • 1932 stellte der italienische Psychiater Ugo Cerletti fest, dass es Depressiven nach einem epileptischen Anfall deutlich besserging. Manche wurden nie wieder trübsinnig. Wie also liess sich so ein Krampf künstlich erzeugen?

    Cerletti versetzte Schweinen schwache Stromstösse. Alle überlebten. Die Ärzte fragten die Polizei, ob sie die Methode an einem der Verrückten, die sich am Bahnhof herumtrieben, ausprobieren dürften. Es fand sich ein 39-jähriger schizophrener Depressiver, der sich mit Kot beschmierte und wirres Zeug redete.

    Nachdem sie ihn ein paar Wochen beobachtet hatten, legten die Ärzte den Mann auf ein Bett und schlossen seine Schläfen an den Stromkreis. 55 Volt, zwei Zehntelsekunden lang, das würde nicht viel bewirken, dachten sie. Dem war nicht so. Der Mann setzte sich nach den Krämpfen auf und sagte: «Was versucht ihr Idioten hier überhaupt?» Er hatte in den Wochen davor keinen geraden Satz gesagt.

    Cerletti verfasste einen wissenschaftlichen Bericht, und das Echo war gewaltig: In der ganzen westlichen Welt wurden Patienten Schocks verabreicht. Die Methode war erfolgreich, doch es gab ein Problem: Die psychisch Kranken wurden zwar betäubt, aber es gab kein Mittel, um ihre Muskeln ruhig zu halten.

    «Es brauchte sechs Pfleger, um einen Patienten festzuhalten, zwei an der Schulter, zwei an der Hüfte und zwei an den Beinen», erinnert sich Psychiater Gottpreis. Die Patienten erlebten die Konvulsionen nicht bewusst, aber wegen der Krämpfe erwachten sie mit Muskelkater oder im schlimmsten Fall mit gebrochenen Knochen, vor allem geschwächte, ältere Patienten.