Ein Geschenk fürs Leben
Wird heutzutage eine Niere transplantiert, stammt sie öfter von einem lebenden als von einem verstorbenen Menschen. Wie läuft eine solche Lebendspende ab?
Veröffentlicht am 5. Februar 2013 - 09:25 Uhr
«Schon früh wusste ich, dass ich einem meiner Brüder eine Niere spenden würde», sagt Adrian Zemp. Und Ruth Mokrani erinnert sich, sie habe «sehr spontan» entschieden, ihrer Schwiegertochter eine Niere zu schenken. Die Geschichten des 39-Jährigen und der 66-Jährigen könnten unterschiedlicher nicht sein, doch sie haben eins gemeinsam: Beide leben seit einigen Jahren mit nur einer Niere – und fühlen sich wohl und vollkommen gesund.
Das kontrastiert mit Medienbeiträgen über Leute, die nach einer Nierenspende gesundheitliche Probleme haben und ihre grosszügige Geste bereuen. In Deutschland wollen einige wenige sogar Klage einreichen, weil sie ihrer Meinung nach nicht umfassend über die Risiken der Organentnahme aufgeklärt worden seien. Ruth Mokrani ärgert sich über diese Art von Berichten. «Da wird anhand von Einzelfällen etwas aufgebauscht, was für die grosse Mehrheit gar nicht stimmt.»
Tatsächlich würden laut einer Studie 95 Prozent aller in der Schweiz befragten Lebendspender wieder eine Niere spenden. «Oft sehen sie diesen Entscheid sogar als einen der positivsten in ihrem Leben», sagt Irene Geiger, Psychologin an der Universitätsklinik Basel, wo sie für Abklärungen von Lebendspenden zuständig ist. In internationalen Studien gaben zwischen 87 und 97 Prozent der Befragten an, sie würden sich erneut für den Eingriff entscheiden.
Dass die Entnahme nur einmal möglich ist, stellte Spender Adrian Zemp vor eine schwierige Entscheidung. Aufgewachsen mit einer Mutter, die an einer erblich bedingten Zystenniere litt und dreimal wöchentlich in die Dialyse musste, war für ihn klar: Wenn er selber von dieser Erbkrankheit verschont bliebe, würde er dem Bruder, mit dem es das Schicksal weniger gut meinte, eine Niere spenden. Doch die Krankheit, die bei fast jedem Betroffenen irgendwann zu einem Nierenversagen führt, wurde bei beiden seiner Brüder diagnostiziert. Wie sollte er sich da entscheiden? «Ich habe sehr lange überlegt und schliesslich beschlossen, dass derjenige die Niere bekommt, der sie zuerst braucht.» Als die Ärzte dem einen Bruder im Herbst 2007 mitteilten, dass er in Kürze regelmässige Blutwäsche oder eine Organspende brauche, veranlasste Zemp sofort alle notwendigen Untersuchungen (siehe «Niere spenden: Das muss man wissen»).
Seit 1994 wurden in der Schweiz rund 1400 Nierenlebendspenden verzeichnet. Potentielle Spender werden im wahrsten Sinn des Wortes auf Herz und Nieren geprüft, denn nur Gesunde kommen überhaupt in Frage. Mussten sie früher mit den Empfängern blutsverwandt sein, so ist das seit gut 20 Jahren nicht mehr notwendig. Das führte dazu, dass heute etwa ein Drittel aller Nierenspenden von den Partnern der Nierenkranken stammen (siehe Grafik unten). Oft geschieht das nicht nur aus reiner Selbstlosigkeit: Das Leben mit einem Menschen, der von der Dialyse abhängt, ist voller Einschränkungen, die selbstverständlich immer beide Partner betreffen.
Vor der Spende wird neben dem Gesundheitscheck auch eine psychosoziale Abklärung durchgeführt, in der versucht wird, die Motive des Gebers herauszufinden. Denn um Organhandel auszuschliessen, darf die Spende nicht aus finanziellen Interessen erfolgen. Zudem soll geklärt werden, ob der Spender sich völlig frei und ohne äusseren Druck zur Operation entschieden hat und sich der Konsequenzen seines Tuns bewusst ist.
Man kann zwar ohne Einschränkungen mit nur einer Niere leben, weil das verbleibende Organ nach einigen Monaten die Funktion für beide übernimmt. Dennoch gibt es wie bei jeder Operation ein Restrisiko, und nicht jeder Spender fühlt sich danach genauso gesund wie vorher. So ist das Risiko, später an Bluthochdruck zu erkranken, leicht grösser, und manche haben das Gefühl, nach dem Eingriff weniger leistungsfähig zu sein. Und natürlich: Wird etwa bei einem Unfall die Niere geschädigt, gibt es keine zweite mehr.
«Was würden Sie tun, wenn Sie in ein paar Jahren selbst an der Dialyse hängen?», wollte die Psychologin von Ruth Mokrani wissen. Abschrecken konnte sie die damals 63-Jährige mit dieser Frage nicht. Sie habe ein gutes Leben geführt und wolle das auch ihrer Schwiegertochter, die an einer Immunschwächekrankheit leidet, ermöglichen, antwortete sie. Der Gedanke, dass die junge Frau nur mit regelmässiger Blutwäsche leben konnte, beschäftigte sie mehr als die Aussicht darauf, eines Tages vielleicht selbst davon abhängig zu werden. Auch wenn das Risiko besteht, ist bisher in der Schweiz kein Spender in diese Situation gekommen.
Das weiss man so genau, weil seit 20 Jahren sämtliche Spender alle 24 Monate zu einem gründlichen Untersuch aufgeboten werden. Aufgebaut hat das dazu notwendige, weltweit einmalige Register ein Pionier der Lebendspende, der inzwischen verstorbene Basler Professor Gilbert T. Thiel. Heute ist das Register ein fixer Bestandteil des 2007 in Kraft getretenen Transplantationsgesetzes und eine Pflichtleistung. «So könnten allfällige Probleme früh erkannt werden», sagt Ruth Mokrani. Sie hält es für zentral, dass die Spender offen und kompetent über sämtliche Risiken aufgeklärt werden. Denn der Mehrheit geht es wie ihr: Gedanken darüber macht man sich erst, wenn man unmittelbar betroffen ist.
Mokranis Umfeld reagierte positiv – und «teilweise mit zu grosser Bewunderung. Wenn man den Empfänger kennt und gern hat, finde ich das gar nicht so bewundernswert.» Als unglaublich grosszügig empfindet sie hingegen die Handvoll Menschen, die bisher eine anonyme Spende geleistet haben und nicht wissen, wer ihre Niere bekommen hat.
Bei diesen selbstlosen Organspendern finden sich laut der Basler Psychologin Irene Geiger einige Gemeinsamkeiten: Viele helfen nicht zum ersten Mal, häufig haben sie sich bereits Blut abzapfen und sich als Knochenmarkspender registrieren lassen. Ausserdem sind sie oft alleinstehend.
Die Spender, die einem Menschen aus ihrem näheren Umfeld eine Niere geben, seien hingegen sehr unterschiedlich, hätten verschiedene Lebensläufe, Berufe und auch Charaktere. Und doch stellt die Psychologin auch bei ihnen Berührungspunkte fest: Die meisten verbindet eine grosse Hilfsbereitschaft und Empathie. Ausserdem seien Frauen deutlich stärker vertreten als Männer – ein Phänomen, das sich weltweit beobachten lässt.
Vermutlich ist es dieses Einfühlungsvermögen, das Menschen dazu veranlasst, sich für diesen Eingriff zu entscheiden und danach Schmerzen und Einschränkungen hinzunehmen. Man rechnet – je nach beruflicher Tätigkeit – mit immerhin drei bis acht Wochen, bis der Spender wieder voll erwerbstätig sein kann. «Während der Erholungsphase ist mir zu Hause schon manchmal die Decke auf den Kopf gefallen», erinnert sich Adrian Zemp. Es sei eben merkwürdig, als kerngesunder Mann ins Spital zu gehen und mit gesundheitlichen Einschränkungen wieder nach Hause zu gehen. Dieses Gefühl wird in der Literatur als «Nierenblues» beschrieben und scheint relativ verbreitet zu sein. Auch Ruth Mokrani hatte in der Erholungsphase daran zu kauen, dass sie wochenlang nicht voll leistungsfähig war.
Doch bereut haben sie beide die Spende keinen Moment. Beiden Nierenempfängern geht es heute gut. «Meine Schwiegertochter fühlt sich so gut, dass sie abklären lässt, ob ihr Körper den Strapazen einer Schwangerschaft gewachsen wäre», sagt Ruth Mokrani. Ohne ihr grosszügiges Geschenk wäre das undenkbar gewesen.
Wer darf wem spenden?
- Grundsätzlich kann jeder volljährige Mensch mit zwei gesunden Nieren ein Organ spenden.
- Auch eine «nicht gerichtete» Spende – also die Spende an einen Unbekannten – ist in der Schweiz zulässig. Voraussetzung dafür ist völlige Anonymität: Der Spender wird nie erfahren, wer seine Niere bekommen hat, und der Empfänger nicht, von wem das Organ kommt.
Vorbereitung
- Die ersten Abklärungen, in denen der allgemeine Gesundheitszustand des Spenders überprüft und die Blutgruppe bestimmt wird, finden ambulant statt. Dabei handelt es sich um übliche medizinische Untersuchungen wie Blutdruckmessung, EKG, Analysen von Urin und Blut. Im Idealfall sind die Blutgruppen von Spender und Empfänger kompatibel. Aktuelle Behandlungskonzepte ermöglichen aber manchmal auch dann eine Transplantation, wenn das nicht der Fall ist.
- Erlaubt der erste Gesundheitscheck des Spenders eine Nierenentnahme, folgt eine zweitägige Testreihe in einem Transplantationszentrum. Sie dient weiteren Abklärungen über die Nierenfunktion und ihre Versorgung mit Blutgefässen sowie diversen Blutanalysen, betrifft aber auch Herz, Leber und Lunge. Die psychologische Abklärung findet ebenfalls in dieser Zeit statt. Bis sämtliche Resultate vorliegen, vergehen rund drei Wochen.
Eingriff und Erholung
- Damit die Niere möglichst rasch übertragen werden kann, treten Spender und Empfänger am selben Tag ins Spital ein. Die Entnahme dauert zwei, drei Stunden.
- Wie lange der Spender im Spital bleiben muss, hängt unter anderem von der Operationstechnik ab. In der Regel ist mit 7 bis 14 Tagen zu rechnen.
- Die eigentliche Erholung dauert länger. Spender, die körperlich schwer arbeiten, müssen mit mehreren Wochen Arbeitspause rechnen, leichtere Arbeiten sind frühestens nach zwei bis drei Wochen wieder möglich. Den Erwerbsausfall wie auch die Kosten für Untersuchungen und Transplantation übernimmt in der Regel die Krankenkasse des Nierenempfängers.
Nachsorge
- Eine Nachkontrolle der Nierenfunktion findet üblicherweise noch im Spital statt.
- Im Rahmen des Lebendspender-Registers kontrolliert der Hausarzt den Verlauf alle zwei Jahre.
- Die Transplantationszentren stehen den Spendern auch Jahre nach dem Eingriff bei gesundheitlichen oder psychologischen Problemen zur Seite.
Erfahrungsaustausch
- Im «Schweizerischen Organ Lebendspender Verein» treffen sich Spender in regionalen Gruppen zum Erfahrungsaustausch und sprechen mit Menschen, die sich mit dem Gedanken an eine Spende auseinandersetzen. Weitere Informationen: www.lebendspende.ch