Der Weg zum neuen Leben
Nach der Pensionierung die Beine hochlagern? Aber sicher nicht: Drei Rentner erzählen, wie sie sich ihr neues Leben eingerichtet haben.
Veröffentlicht am 15. Januar 2016 - 14:20 Uhr
Ein Leben lang arbeiten Sie und ziehen Kinder gross, Sie sind – bestenfalls – stolz auf das, was Sie tun, und fühlen sich von Ihrem Umfeld wertgeschätzt. Bis Sie in Rente gehen und plötzlich vor allem als eins angesehen werden: als Pensionierter oder als Seniorin.
«Dann kommt das Gespräch schnell auf belastete Sozialwerke durch die vermeintliche Überalterung», sagt Urs Haldimann, Leiter von Pensionierten-Seminaren. «Dabei bringen diese Leute nützliche Fähigkeiten aus ihrem Berufsleben mit und können der Gesellschaft viel weitergeben.» Tatsächlich wünschten sich die meisten beim Eintritt ins Pensionsalter weiter eine sinnvolle Tätigkeit und einen strukturierten Tagesablauf. Zudem sei der Grossteil beim Renteneintritt durchaus fit, so Haldimann. Das zeige etwa die Schweizerische Gesundheitsbefragung.
Gleichzeitig kommt bei nicht wenigen die Lust nach einer neuen Freiheit auf – danach, nichts mehr zu müssen, sondern nur noch zu dürfen. «Diesen Gegensatz muss jeder für sich in Einklang bringen», sagt Haldimann. Sein Rat: sich seine Bedürfnisse bewusst machen, sich mit anderen über Erfahrungen austauschen und austarieren, was für einen persönlich oder als Paar stimmt. Vor allem aber gelte: ausprobieren. Und sich auch eingestehen, wenn etwas zu viel werde. Dass die Kräfte nachlassen, gehöre zum Älterwerden. «Das ist keine Niederlage», sagt Haldimann, «das ist der Lauf der Zeit.» Für die Mehrheit kommt ein gesundheitlicher Einschnitt aber nicht vor achtzig, sagt die Statistik. Und die Zeit bis dahin, dieser dritte Lebensabschnitt, der so einschneidend beginnt wie der Eintritt ins Berufsleben, bietet den auch finanziell nicht selten gut gestellten Rentnern so viele Gestaltungsmöglichkeiten wie noch in keiner Epoche zuvor.
Ihre beste Zeit hatten sie ab 63, sagt Anne-Marie Holenstein über sich und ihren Mann. Damals kündigte sie ihre Stelle als Direktorin eines Hilfswerks. Ihr Umfeld kommentierte: Willkommen in der Pensionierung! Holenstein konterte: «Pensioniert bin ich noch lange nicht. Für mich hat das Zeitalter der Freiheit begonnen.» In diesem lebt die Zürcherin bis heute, in sich ruhend, voller Energie.
«Ich musste mir als Frau gegen Widerstände meinen Weg suchen», sagt Holenstein. Während ihrer Pubertät in den fünfziger Jahren begann sie sich gegen vorherrschende Frauenrollen zu wehren, 2009 erhielt sie einen Ehrendoktortitel als originelle und innovative Vordenkerin. Die studierte Germanistin wirkte etwa bei der Erklärung von Bern und damit der Etablierung des fairen Handels mit und machte sich im entwicklungspolitischen Umfeld einen Namen. Das kam ihr zugute.
Nach dem Eintritt in die Pensionierung wurden ihr Projekte zugespielt. Gemeinsam mit ihrem Mann arbeitete sie von zu Hause aus, tauschte sich mit ihm aus über die Themen, die sie bewegte. Über ihre Entwicklungsprojekte, über Kulturen, Religionen, Herausforderungen.
Bis ihr Mann vor vier Jahren starb. Nach 48 Jahren Ehe. Holenstein hütete die grösser werdenden Enkel, die jetzt 13 sind. Sie pflegte ihren Garten, aus dem sie Besuchern gern selbst getrockneten Kräutertee serviert. Sie traf Freunde, ging wandern, zum Aquafit und ins Krafttraining. Ihre entwicklungspolitischen Projekte liefen langsam aus. Ich fand dann, ich habe Fähigkeiten, die brachliegen», erklärt die Frau, die so viel Wert auf Selbständigkeit legt. Der Umstand, sich selbst so viel erarbeitet
zu haben, habe sie fit gehalten. So beschloss sie, ihr Sachwissen im interkulturellen Bereich einmal anders zu nutzen. «Ich fand, es wäre an der Zeit, etwas Praktisches zu tun, im unmittelbaren Umfeld.»
Sie las im Frühjahr 2015 vom Projekt «Copilot» der Caritas – und machte mit. So trifft Holenstein alle zwei Wochen eine Witwe aus dem Senegal, die mit zwei Söhnen in Zürich lebt. Dann hilft sie als Copilotin Unterlagen für den Kindergarten zu verstehen, das Zürcher Schulsystem näherzubringen und Schweizer Kultur.
«Für mich ist berührend zu sehen, wie sich die junge Mutter für ihre Kinder engagiert», sagt Holenstein. «Aber wie sie auch an Grenzen stösst.» So hat Anne-Marie Holenstein ihren Fokus von den interkulturellen Themen zum praktischen Helfen vor der Haustür verlagert. Ihrer Grundmotivation bleibt sie aber treu: als Frau etwas zu bewegen, im sozialethischen Umfeld. Solange sie Sinn sieht in dem, was sie tut, sagt die 78-Jährige, so lange ist sie glücklich.
Fred Krauss ist pensioniert und arbeitet doch 120 Prozent. Er liebt die Musik, er liebt die Operette, er liebt es, kreativ zu sein. Während seines Berufslebens beriet der studierte Betriebswirt Grossfirmen in IT-Angelegenheiten. Seit gut acht Jahren hat sich das geändert. Krauss befindet sich im «Unruhestand», wie er sagt. Er ist nun Präsident der Operettenbühne Hombrechtikon ZH und zudem fürs Bühnenbild zuständig. «Das ist mein Zückerchen», sagt er.
Mit zwanzig hatte er Architekt werden wollen, zudem singt er schon seit langem in einem Chor. «Nun schliesst sich der Kreis.» Er geniesst es, mit Regisseur, musikalischer Leitung, Chor und professionellen Solisten zusammenzuarbeiten. Sein aussergewöhnlichstes Bühnenbild: ein aufgeklapptes Buch, acht mal sieben Meter, für eine Operette über Boccaccio. Bei jedem Umblättern erschien eine neue Welt, das Panorama von Florenz etwa.
Wenn Krauss solche Ideen hat, skizziert er – als ehemaliger IT-Mensch – gern direkt im Programm Excel. Den Zeitpunkt der Pensionierung wählte Krauss nicht selbst – sein Körper setzte ihn. Mit 63 erlitt er in den Ferien einen epileptischen Anfall. Diagnose: Hirntumor, bösartig. Trotz erfolgreicher Operation gehörten für den Ebmatinger von da an Besuche bei Neurologen und Onkologen, zum Alltag. Seine positive Einstellung behielt er dennoch: «Wieso sollte ich mir meine Jahre kaputt machen?»
Stattdessen geniesst Fred Krauss sein Leben. Wenn man ihn nicht gerade in der Operettenbühne antrifft, reist er mit seiner Frau in Musikstädte. Dort besuchen sie Opern und Operetten, und manchmal, wie zuletzt in Dresden, entdecken sie fast vergessene Stücke. Dann besorgt Krauss die Originalnoten und legt sie zu Hause dem Regisseur und dem musikalischen Leiter vor. Und dann geht es für ihn los, sich um Sponsoring, Besetzung, Öffentlichkeitsarbeit und vor allem um das Bühnenbild zu kümmern. Jedes Jahr von neuem – nie vor zehn Uhr morgens. Vielleicht sei er bald gebrechlich, sagt er. Reiten – ein weiteres Hobby – könne er bereits nicht mehr. Aber die Musik, die könne ihm niemand nehmen, sagt Fred Krauss und lächelt.
Er hätte alle Voraussetzungen, sich zurückzulehnen: Bruno Gschwind hat ein gut laufendes Immobiliengeschäft mit aufgebaut. Stattdessen engagiert er sich für Hilfsprojekte in Kambodscha. Seinen Anteil an der Firma hat er verkauft, das Luxusauto gegen ein günstigeres Modell getauscht, er ernährt sich vegetarisch bis vegan und macht täglich Yoga, wohnt am Brienzersee.
«Ich will kein Heiliger sein, aber ich will das leben, was ich predige», sagt er. Die Arbeit in Kambodscha hat ihn verändert. Vor sechs Jahren begann er zu recherchieren, wo er seine Energie als Rentner einsetzen könnte. «Mein Ziel war, mit 65 in Pension zu gehen, um noch mindestens zehn Jahre lang etwas bewegen zu können.»
Inspiriert von einem Freund, der seinerseits ein Hilfswerk aufgebaut hat, reduzierte Gschwind mit 60 Jahren sein Arbeitspensum auf 50 Prozent. Die freie Zeit nutzte er für erstmalige Reisen in asiatische Länder, um sich über die Gegebenheiten zu informieren. Warum fiel die Wahl auf Kambodscha? «Dort war die Not am grössten.»
So gründet Gschwind Changing Lives – ein Verein, der Hilfe zur Selbsthilfe bietet und den er selbst finanziert. Er vernetzt sich mit Hilfswerken in Kambodscha, arbeitet an diversen Projekten mit und sammelt Spenden. Sein ursprüngliches Ziel, Bildung zu unterstützen, weitet er aus. Er versucht dort zu helfen, wo er die grössten Probleme sieht. «Kinder laufen barfuss durch Abfallhalden, Frauen werden morgens in Lastwagen zu Fabriken gefahren, wie Vieh zusammengepfercht.» Gschwind baut eine Musikschule auf.
Er organisiert Seminare zu Themen wie Gesundheit oder Gewalt, baut Schulen neben Slums auf oder verteilt Gummistiefel. «Schön denken kann jeder, aber man muss auch tatsächlich etwas tun», sagt er. Vielleicht sei es nur ein Tropfen auf den heissen Stein – «aber auch die kleinen Dinge bringen den Menschen etwas für die Seele».
Und wenn die Projekte in Kambodscha Früchte tragen – wie die Musikschule, die sich schon fast selbst finanziert –, übergibt er sie an Kambodschaner. «Ich zeige ihnen Wege auf für ein menschenwürdigeres Leben, aber gehen müssen sie selbst.»
Tipps für das Leben nach der Pensionierung
Vorbereitung ist alles
- Setzen Sie sich bereits zwei Jahre vor der Pensionierung damit auseinander, wie Sie Ihr späteres Leben als Rentnerin oder als Rentner gestalten wollen.
- Stellen Sie ein Budget auf: Auf budgetberatung.ch, www.ahv-iv.info, bsv.admin.ch finden Sie Vorlagen.
- Lesen Sie einen Ratgeber zur Pensionierung oder besuchen Sie eine Beratungsstelle oder ein Seminar (zum Beispiel über pro-senectute.ch).
Probieren Sie aus
- Lassen Sie Ihre alten Träume und Wünsche aufleben. Wann wollen Sie diese umsetzen, wenn nicht jetzt?
- Planen lässt sich vieles. Letzlich gilt: Probieren Sie aus, was Ihnen gefällt, seien Sie offen für Neues.
- Überprüfen Sie alle paar Monate, ob Sie zufrieden sind mit dem, was Sie tun, ob Ihnen etwas zu viel ist oder ob Sie sich zusätzlich für etwas einsetzen wollen.
- Geben Sie sich Zeit: Es kann ein, zwei Jahre dauern, bis Ihnen im Rentnerleben wohl ist.
Ideen für neue Aufgaben
- Werden Sie generationenübergreifend aktiv: Caritas, Gemeinschaftszentren oder in einigen Regionen die Verwaltung bieten die Vermittlung von Patengrosselternschaften an.
- Helfen Sie über «Senioren für Senioren» Rentnern, die weniger fit sind als Sie.
- Engagieren Sie sich in einem Bereich, der Ihnen wichtig ist. Infos dazu finden Sie auf wwf.ch.
- Bilden Sie sich weiter. Viele Unis heissen Rentner willkommen (seniorenuni.uzh.ch).