Es schmerzte, als ihr 77-jähriger Vater im vergangenen November starb. So, wie es schmerzen soll, wenn der eigene Vater geht. «Wir mochten uns und pflegten die Beziehung – obwohl wir immer eine etwas spezielle Familie waren», sagt Verena Müller*.

Der Vater durfte die Mutter nicht heiraten. Sie war 17, als sie die Tochter 1972 zur Welt brachte, der Vater fast doppelt so alt. Ein Zusammenleben kam nicht in Frage, schon gar nicht im streng katholischen Luzerner Napfgebiet. So wuchs Verena Müller bei ihrer Grossmutter auf.

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«Ich war halt eine ‹Uneheliche›». Manche nannten sie eine «Unehrliche», erinnert sie sich. Heute lacht sie darüber, damals fühlte sie sich ohnmächtig. «Wie hätte man sich als Kind auch wehren können?»

Die Mutter war einfach sehr jung

Trotzdem, es war eine schöne Jugend. Die Grossmutter war das Zentrum der Familie, es gab auch den Vater, der sie regelmässig besuchte und die Familie finanziell unterstützte. Und eine Mutter, die einfach sehr jung war.

Verena war sieben, als man sie fragte, ob sie zur Mutter ziehen wolle. Die hatte inzwischen einen anderen Mann geheiratet, die Tochter wäre aber willkommen gewesen. «Ich wollte nicht. Meine Grossmutter war längst zu meinem ‹Mami› geworden.»

Die Jahre zogen ins Land, Verena Müller machte ihren Weg, verliess das Luzerner Napfgebiet, heiratete und hat heute drei Töchter. Mit ihrer Familie blieb sie in regem Kontakt. Auch mit dem Vater. Er war ledig geblieben, hatte keine weiteren Kinder und lebte inzwischen mit seiner Partnerin. Für seinen Tod hatte er vorgesorgt, 2015 verfasste er ein Testament. Darin begünstigte er seine Lebenspartnerin und «meine Tochter», die den gesetzlich vorgesehenen Pflichtteil Nachlass Wer erbt was? erhalten sollte. Wenn seine Partnerin vor ihm gestorben wäre, hätten auch «meine Enkelkinder» – also die Kinder von Verena Müller – einen Teil erhalten.
 

«Schon als uneheliches Kind war es nicht immer einfach. Jetzt sollte ich plötzlich gar keinen Vater haben? Wie können Behörden so etwas Absurdes behaupten?»

Verena Müller*


Verena Müller meldete den Tod ihres Vaters auf der Gemeinde und erwähnte das Testament. Weihnachten stand vor der Tür. Das Testament sollte darum erst im Januar eröffnet werden. Müller wartete auf einen Termin. Doch sie hörte nichts mehr von der Gemeinde. Am 10. Januar fragte sie nach. Die Antwort war ein Schock: «Der Verstorbene habe gar keine Kinder, sagte man mir.» Müller dachte an einen Behördenfehler und hakte nach. Doch wieder hiess es, «er sei kinderlos und ledig. Im Zivilstandsregister sei nichts anderes vermerkt. Vaterschaft Werdende Väter – Rechte und Pflichten »

Konstrukt aus dem Jahre 1912

Verena Müller war erst verwirrt, dann wütend. «Schon als uneheliches Kind war es nicht immer einfach. Jetzt sollte ich plötzlich gar keinen Vater haben? Wie können Behörden so etwas Absurdes behaupten?» Zum ersten Mal hörte Verena Müller den Begriff «Zahlvaterschaft». Ein von 1912 bis Ende 1977 angewandtes Konstrukt aus dem Zivilgesetzbuch. Es erlaubte Vätern, ein uneheliches Kind nicht registrieren zu lassen. Sie mussten sich lediglich zu monatlichen Unterstützungszahlungen verpflichten. Mit einschneidenden Folgen für das Kind: Zwischen ihm und dem Vater entstand rechtlich kein Verwandtschaftsverhältnis. Das Kind erhielt weder das Bürgerrecht noch den Namen des Vaters, und es ist nicht erbberechtigt, wenn der Vater stirbt.

In vielen Fällen war das ein willkommener Ablasshandel für Väter, die eine bestehende Ehe nicht mit einem unehelichen Kind gefährden oder «beflecken» wollten.

Auf Müllers Vater trifft das nicht zu. «Er kümmerte sich um mich. Und alle wussten, dass er mein Vater ist. Warum sonst hätte er mich als ‹meine Tochter› im Testament erwähnt? Und warum hätte er auf den Pflichtteil beim Erbe verweisen sollen, wenn ich nicht erbberechtigt wäre?»

Es war ihr damaliger Vormund, der mit dem Vater eine Zahlungspflicht an die minderjährige Mutter vereinbart hatte. Offenbar war dem Vater nicht bewusst, dass er als Zahlvater nie zu einem «richtigen» Vater würde. «Weder er noch meine Mutter oder meine Grossmutter kannten die Bedeutung der Zahlvaterschaft. Und wir redeten immer offen über alles. Es war nie ein Thema.» Offensichtlich machten die Behörden den Vater auch später nie auf die Möglichkeit einer formellen Anerkennung der Tochter aufmerksam.

Im Januar hörte Verena Müller auf Radio SRF einen Bericht über «Kind und Kegel». Die Wendung stammt aus der Zeit der Zahlvaterschaften. Kinder waren die ehelichen, Kegel nannte man die unehelichen Kinder. Im Beitrag schilderte der Zürcher Rechtsprofessor Peter Breitschmid, wie es zum heute als ungerecht empfundenen Konstrukt kam und warum dieses so lange überlebte. Zehntausende Kinder sind betroffen. «Ich war erschüttert, fühlte mich aber gleichzeitig nicht mehr allein», erinnert sich Verena Müller.
 

«Die meisten ‹Kegel› litten schon in der Kindheit, weil sie keinen ‹richtigen› Vater hatten. Ohne Anerkennung werden sie beim Erben noch einmal abgestraft.»

Peter Breitschmid, Rechtsprofessor


Sie fasste sich ein Herz, kontaktierte den Professor und bat ihn um eine juristische Einschätzung des Testaments und der Beziehung zu ihrem Vater. Breitschmid verfasste eine Stellungnahme mit einem eindeutigen Urteil: Verena Müller muss rechtlich als Tochter ihres leiblichen Vaters anerkannt werden. Obwohl im Testament das Wort «Anerkennung» nicht vorkomme, ergebe sich der Wille dazu aus dem Schreiben und aus der gelebten Vaterschaft, die ja weit über eine reine Zahlvaterschaft hinausgegangen sei.

Der damaligen Vormundschaftsbehörde wirft Breitschmid «krasse Versäumnisse» vor, weil sie sich nicht darum bemüht hatte, die unnötige Diskriminierung zu beseitigen.

Erfreuliche Nachricht

Verena Müller reichte die Stellungnahme und ein Gesuch um Anerkennung bei der zuständigen Behörde ein. Ende Mai die erfreuliche Nachricht: Es anerkannte die Vaterschaft, die jetzt auch im Zivilstandsregister nachgetragen werden muss. «Ich hatte Tränen in den Augen, als ich die Stellungnahme des Professors las. Und ich war überwältigt, als ich den Entscheid in den Händen hielt. Er brachte mir meinen Vater zurück», sagt Verena Müller.

Für Tausende andere dauert die Diskriminierung an. «Es liegt jetzt an jedem Zahlvater, diese Ungerechtigkeit endlich zu beseitigen», findet Breitschmid. Eine Anerkennung der Vaterschaft sei jederzeit möglich. «Die meisten ‹Kegel› litten ja schon in der Kindheit, weil sie keinen ‹richtigen› Vater hatten. Ohne Anerkennung werden sie beim Erben noch einmal abgestraft. Selbst wenn sie in einem Testament begünstigt würden, gelten sie in der Regel nur als Drittpersonen, die dann Erbschaftssteuern zahlen müssen.» Und die können je nach Kanton über 50 Prozent betragen. «Eine weitere Ungerechtigkeit, die man endlich hinterfragen muss», so Breitschmid.

Dass die Schweiz 65 Jahre lang ein geheimes Vatersein gesetzlich legitimierte, ist für ihn zwar stossend. Eines dürfe man aber nicht vergessen: «Zuvor war es für Mütter und Kinder noch viel schlimmer. Es war gesetzlich verboten, eine Vaterschaft überhaupt zu recherchieren. Aussereheliche Mütter waren finanziell und sozial völlig auf sich allein gestellt. Mit der Zahlvaterschaft waren sie zumindest wirtschaftlich minimal abgesichert.»

* Name geändert

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Peter Johannes Meier, Ressortleiter
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