Alles gewusst, nichts getan – Regierungsrat räumt Versagen des Kantons ein
Junge Frauen wurden in der Ostschweiz ohne Gerichtsbeschluss weggesperrt. Der Kanton habe versagt, sagt der heute zuständige Appenzeller Regierungsrat.
Veröffentlicht am 10. Mai 2022 - 21:25 Uhr
Junge Frauen mussten in der Ostschweiz Zwangsarbeit für Industriebetriebe leisten: Das deckte der Beobachter vor kurzem auf – und bewegt damit die Politik im Kanton Appenzell Ausserrhoden. «Es ist zwar immer heikel, mit heutigen Massstäben die Vergangenheit zu beurteilen. Doch was im Töchterheim Sonnenberg geschehen ist, ist höchst verwerflich», sagt Regierungsrat Yves Noël Balmer.
Gegenüber der SRF-Sendung «Schweiz aktuell» hatte er noch geäussert: «Wir wissen, dass Missstände geherrscht haben. Dafür brauchen wir keine Beobachter-Artikel.» Nun buchstabiert Balmer zurück: «Es ist völlig klar, dass der Regierungsrat Kenntnis hatte von den Missständen im Heim Sonnenberg. Dennoch hat er sich vor seiner Verantwortung gedrückt. Das ist besonders stossend.» Man habe die Fürsorgebehörden, die die jungen Frauen ins Heim einwiesen, in der Pflicht gesehen und weggeschaut. «Es handelt sich hier insofern um ein Aufsichtsversagen des Kantons, als man keine Aufsicht wollte.»
Die einweisenden Gemeinden anderer Kantone und die Industrie stehen laut Regierungsrat Balmer aber genauso in der Verantwortung wie Ausserrhoden. «Die Industrie hat profitiert von der Zwangsarbeit. Wenn man das Geschehene aufarbeiten will, muss auch geklärt werden, was der monetäre Mehrwert für die Industrie war. Ausserrhoden hat als Aufsicht versagt, aber die Fürsorge und die Industrie haben profitiert.»
Eine Aufarbeitung könne so oder so keine Entschuldigung sein für die Betroffenen. «Dass Jugendliche ohne Gerichtsbeschluss so weggesperrt worden sind, ist nicht entschuldbar. Auch nach damaligen Werten war das nicht korrekt.»
Unzulässige Arrestzelle
Der Ausserrhoder Regierungsrat muss damals gewusst haben, wie fragwürdig der Arbeitszwang im Heim Sonnenberg war, sagt Staatsrechtsprofessor Markus Schefer von der Uni Basel. «1973 hat man in der Schweiz über den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention debattiert. Spätestens da hätte allen klar sein müssen, dass solche Massnahmen ohne Rechtsgrundlage nicht gehen.»
Schefer, der aus Ausserrhoden stammt, kritisiert insbesondere die Arrestzelle im Privatheim Sonnenberg, die es bis 1975 gab. «Da hat man faktisch Zwangsbefugnisse an eine Privatperson übertragen – ohne Aufsicht. Das war schon damals unzulässig. Kein Gesetz kann einem Privaten die Zuständigkeit einräumen, eine Arreststrafe zu verhängen. Jemanden einzusperren, ist eine strafbare Handlung.»
«Es braucht eine Aufarbeitung»
Der ehemalige Zürcher Justizdirektor Markus Notter fordert Ausserrhoden zum Handeln auf. Er präsidierte die Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen des Bundesrats. Sie kam 2019 zum Schluss, man müsse einige Aspekte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vertieft behandeln, «insbesondere die Frage der Zwangsarbeit, der Verantwortung von Privatunternehmen».
«In diesem Sinn ist eine Aufarbeitung der Geschichte der ‹Fabrikheime› durch die entsprechenden Kantone mehr als wünschbar. Sie stehen da auch in einer Pflicht», sagt Notter.
Der Ausserrhoder SP-Präsident Jens Weber will nun Druck machen: «Es braucht eine Aufarbeitung.» Seine Partei diskutiere, ob sie eine Interpellation im Kantonsrat einreiche. «Dieses Unrecht muss transparent gemacht werden, damit wir nicht mehr in dieselben Fallen tappen.»
Man werde abklären, ob eine Studie zu Zwangsarbeit in Privatheimen wie dem «Sonnenberg» möglich sei, sagt Regierungsrat Yves Noël Balmer.
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