«Auch ich kenne die Angst vor dem Tod»
Die Philosophin Denise Battaglia beschäftigt sich mit ethischen Fragen am Lebensende. Die Buchautorin spricht im Interview darüber, was sie in ihrer Arbeit über das Leben gelernt hat – und was übers Sterben.
Veröffentlicht am 22. Dezember 2016 - 11:45 Uhr
Zur Person
Denise Battaglia (45) arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Medizinethikinstitut Dialog Ethik und als freie Autorin und Referentin. Sie hat an der Universität Basel Philosophie studiert und befasst sich unter anderem mit ethischen Fragen am Lebensende. Sie ist Autorin des Buches «Leben, Tod und Selbstbestimmung», das vor kurzem in der Beobachter Edition erschienen ist.
Beobachter: Ich habe Angst vor dem Tod. Sie auch?
Denise Battaglia: Diese Angst kenne ich auch. Die Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Tod hilft mir aber, dass ich manchmal etwas weniger Angst habe. Ich hoffe trotzdem, dass ich noch eine lange Weile leben darf und loslassen kann, wenn es Zeit ist. Ob mir das gelingen wird, weiss ich nicht.
Beobachter: Das beruhigt mich noch nicht so wirklich.
Battaglia: Zuerst einmal geht es extrem vielen Menschen so wie Ihnen. Der moderne Mensch hat den Tod fast vollständig aus seinem Leben verdrängt, es ist ein Tabuthema. Und viele sind überfordert, wenn er im nahen Umfeld doch plötzlich einmal eintritt. Auf jeden Fall hilft es, mit nahestehenden Personen über diese Angst zu reden. Doch die Aufgabe der Philosophie ist es nicht, Ratschläge zu erteilen, sondern zum Nachdenken anzuregen. Wieso sollten sich die Menschen vermehrt mit der eigenen Endlichkeit befassen? Wie erreicht man ein selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter? Solche Fragen beschäftigen mich.
Beobachter: War früher der Umgang mit dem Tod unbeschwerter?
Battaglia: Er war präsenter im Alltag. Unsere Grosseltern und Urgrosseltern glaubten oft an ein Jenseits, glaubten daran, dass das Leben auch nach dem Tod weiter geht und haben darauf hingearbeitet. Sie sind in der Kirche immer wieder mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert worden. Wir modernen Menschen hingegen glauben nicht mehr an ein Leben nach dem Tod. Es dominiert das Gefühl, dass wir möglichst alles in dieses eine Leben packen müssen – und oft erreichen wir damit nur, gestresst zu sein. Die deutsche Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer spricht in diesem Zusammenhang von der «brünstigen Hündin», die wie eine Getriebene durchs Leben eilt in der Angst, etwas zu verpassen.
«Wir eilen wie eine brünstige Hündin durchs Leben, getrieben davon, nichts zu verpassen.»
Denise Battaglia, Philosophin, zitiert Marianne Gronemeyer
Beobachter: Was haben Sie beim Schreiben übers Leben gelernt?
Battaglia: Mir ist bewusst geworden, wie zentral Beziehungen für uns Menschen sind. Sie begleiten uns durchs ganze Leben. Sie helfen mir, wenn es mir schlecht geht, und sie bereichern mich, wenn es mir gut geht. Egal ob jung oder alt, arm oder reich: es geht dem Menschen besser, wenn er Beziehungen hat.
Beobachter: Sind Freundschaften sogar wichtiger als eine erfolgreiche Partnerschaft?
Battaglia: Jeder Mensch braucht Menschen, bei denen er sich wohl fühlt – Freunde, Familie und der Partner. Der Begriff der Freundschaft ist für mich umfassender: Unter Freundschaft verstehe ich auch eine Gemeinschaft, die ihre Mitglieder bei Bedarf unterstützt, die Gesunden die Kranken, die Jungen die Alten, die Reichen die Armen und so weiter.
Beobachter: Es entsteht eher den Eindruck, dass diese Beziehungen verloren gehen. Jeder schaut für sich.
Battaglia: Und trotzdem vermisst jeder Beziehungen, wenn er diese nicht mehr hat. Jeder braucht Geborgenheit und Vertrautheit, auch wenn er noch so eigenständig und selbstbestimmt unterwegs zu sein glaubt. Beziehungen gehören zu einem menschlichen Leben.
Beobachter: Junge Erwachsene kommen doch ganz gut alleine klar, denn man lernt sowieso immer wieder neue Menschen kennen.
Battaglia: Auch junge Menschen profitieren enorm von Beziehungen, ohne es vielleicht zu merken. Denken Sie zum Beispiel an die Lehrmeister oder Lehrer, die jungen Menschen Orientierung oder Rat bieten, ihnen Mut machen oder sie auf Fehler hinweisen.
Beobachter: Und was haben Sie beim Schreiben übers Sterben gelernt?
Battaglia: Während ich am Buch geschrieben habe, ist mein bester Freund gestorben. Er war noch jung, etwas über 50 Jahre alt. Da habe ich gemerkt, dass man auf eine solche Situation trotz aller philosophischen Überlegungen nicht vorbereitet ist. Man sitzt mit einem Gefühl der Ohnmacht am Sterbebett und kann nichts mehr machen. Ich habe gelernt, dass man manchmal auch nichts machen muss, ausser da zu sein, vielleicht die Hand zu halten, etwas vorzulesen.
Beobachter: Das Perfide am Tod ist ja, dass er erst zum Thema wird, wenn im engen Umfeld etwas passiert.
Battaglia: Genau. Wir sollten das Sterben wieder etwas mehr in unser Leben einbetten. Tabuisieren scheint mir kontraproduktiv zu sein.
«Viele, die Mitglied bei einer Sterbehilfeorganisation werden, sagen, dass sie anderen Menschen nicht zur Last fallen wollen. Ich frage mich: Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?»
Denise Battaglia, Philosophin
Beobachter: Ab wann sollen Kinder mit dem Thema Tod konfrontiert werden?
Battaglia: Früher war es selbstverständlich, dass Kinder bei der Verabschiedung eines Toten dabei waren. Mit einem natürlichen Umgang können Kinder ganz gut umgehen. Ein 7-Jähriger erzählte mir auf berührende Art, wie er sich den Tod vorstellt: «Man kommt in den Himmel, dort hat es ganz viele Sterne, es ist hell und schön dort», sagte er. Er hatte keine Hemmungen, darüber zu reden. Wenn Kinder fragen, wo Grosspapa hin sei, dann sollte man der Frage nicht ausweichen.
Beobachter: Mehrere Seiten Ihres Buches widmen Sie der «Palliative Care». Was ist so wichtig daran?
Battaglia: Die moderne Medizin hat die Tendenz, alles zu versuchen, um das Leben eines Patienten zu verlängern. Doch ein längeres Leben heisst nicht immer auch ein besseres Leben. «Palliative Care» betrachtet das Sterben als einen normalen Prozess, der zum Leben gehört und verzichtet auf diesen «medizinischen Lärm» am Lebensende, wie es ein Palliativmediziner ausdrückte. Stattdessen konzentriert sich «Palliative Care» darauf, dem Patienten bis zum Schluss eine gute Lebensqualität zu ermöglichen. Palliare und Pallium bedeuten sinngemäss «einen Mantel umlegen», das trifft es sehr schön.
Beobachter: Immer mehr Menschen lassen es gar nicht so weit kommen und entscheiden sich für die Sterbehilfe.
Battaglia: Palliativmediziner sagen, dass sie rund 90 Prozent der Schmerzen lindern können. Für die anderen rund zehn Prozent kann die Sterbehilfe am Lebensende eine Erlösung sein. Was mir Sorgen macht, ist die Ausweitung der Sterbehilfe auf alte Menschen und die steigende Anzahl. Viele, die Mitglied bei einer Sterbehilfeorganisation werden, sagen, dass sie anderen Menschen nicht zur Belastung fallen wollen. Ich frage mich: Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Beobachter: Der Tod fasziniert, die Angst aber bleibt...
Battaglia: Dann empfehle ich, philosophische Bücher zu lesen (lacht). Mir selbst helfen Texte der Stoiker, die sich in Gelassenheit übten, zum Beispiel von Mark Aurel oder Montagne.
Fünf Dinge, die Sterbende bereuen
Es ist die wohl wichtigste Frage für uns alle: Wann ist das eigene Leben erfüllt gewesen?