Auf der Polizeiwache Meiringen klingelt das Telefon. Es ist ein Freitagmorgen kurz vor zehn Uhr. «Mir werden meine Kristalle gestohlen. Aus meiner eigenen Kluft», meldet Bergführer Andreas von Bergen. Kantonspolizistin Daniela K. erfährt von einem möglichen Diebstahl auf 3000 Metern über Meer. Von zwei Strahlerduos, die um eine Kristallkluft am Gärstenhorn streiten. Zwei Cousins aus demselben Weiler am Grimselpass sind heftig aneinandergeraten.

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Das Berner Bergdorf Guttannen zieht Strahler aus ganz Europa an. Beim Dorfeingang lockt das Kristallmuseum Kristella. Zwei Buben werfen zwischen den Holzchalets mit Schneebällen. «Regula’s Dorfladen» ist über Mittag geschlossen. Hinter dem Gemeindehaus endet die Passstrasse im Schnee. Das Dorf mit 300 Einwohnern ist im Winter die letzte erreichbare Siedlung im Tal. 

Andreas von Bergen wohnt ein paar Autominuten unterhalb des Dorfkerns. Der Hobbystrahler legt zwei Bergkristalle auf den Küchentisch – und einen Ordner voller Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft. «Mein Cousin und sein Kumpan nahmen mir meine Kluft am Gärstenhorn», sagt der 60-jährige Bergführer und Lastwagenchauffeur. Deshalb habe er die Polizeiwache angerufen. «Der Fund ist mindestens eine halbe Million Franken wert. Da bin ich mir sicher. Das ist perfekte Qualität.»

Der erbitterte Streit beginnt im Sommer 2008 mit einem Gerücht. Im Dorf wird über eine sagenhafte Kristallkluft am Gärstenhorn geredet. «Mein Cousin gab damit an, was für ein Siebensiech er sei. Bierflaschengrosse Kristalle habe er gefunden», sagt von Bergen. «Mit mir redete er aber plötzlich nicht mehr. Als er mit dem Jeep hier am Haus vorbeifuhr, hielt er nicht an wie sonst immer. Er tat, als wäre ich nicht da. Da hätte ich eigentlich merken müssen, dass etwas nicht stimmt.»

Eisiges Schweigen

Das Chalet des Cousins liegt nur ein Bachbett entfernt von Andreas von Bergens Haus. Trotzdem sprechen die beiden nicht mehr miteinander. Cousin Hans* ist eine Grösse in der Strahlerszene. Wo andere nichts finden, birgt er haufenweise Zapfen, heisst es. Meist arbeitet Hans mit seinem Strahlerkollegen Alfredo Tedeschi* aus Meiringen zusammen. Andreas von Bergens Partner am Berg ist sein Bruder Fritz*. Seit Kindertagen suchen die Brüder nach «Strahlen», wie Kristalle im Fachjargon heissen. Das Duo sorgte einst mit einer grossen Kluft am Scheuchzerhorn für Furore.

Alle vier Strahler wussten, dass es am Gärstenhorn einen Schatz zu holen gab. Die Frage war nur: Wer ist schneller? «Im Geröll, das der Gletscher freigab, fand ich massenhaft kaputte Kristallspitzen. Ich wusste, unter dem Eis musste eine Kluft sein. Das haben auch andere gemerkt», sagt Andreas von Bergen. 2005 markiert er seinen Fundort. Mit oranger Farbe sprayt er seine Initialen auf einen Stein am Gletscherrand und deponiert Pickel und Schaufel, wie es der Ehrenkodex der Schweizer Strahlervereinigung vorschreibt.

Damit signalisiert der Bergführer: Das hier ist mein Revier. Solange von Bergen jeden zweiten Sommer seine Fundstelle bearbeitet, gehören die wertvollen Zapfen rund um die Markierung ihm – gemäss Ehrenkodex. Zumindest in der Theorie. In der Praxis kommt es immer wieder zu Streitereien und Diebstählen. Denn der Ehrenkodex ist schwammig. Darf eine Kluft, die mehrere Meter neben einer Spraymarkierung liegt, von einem fremden Strahler bearbeitet werden? Selbst das Bundesgericht, das mit Hilfe des Kodex einen anderen Streit entschied, schweigt zu diesem Punkt.

Vergebliche Suche

Der Gletscher hütet seinen Schatz. Zwei Jahre lang findet Andreas von Bergen keinen Eingang zu einer Kluft. Im dritten Jahr geht er nicht aufs Horn. Ein tödliches Bergsteigerunglück im Freundeskreis nimmt ihm die Lust am Strahlen. 

Doch genau in dieser Zeit lüftet der Gletscher sein Geheimnis. Cousin Hans und sein Kollege Tedeschi entdecken die Kluft und beginnen sogleich mit dem Abbau. Als von Bergen im Oktober 2009 erstmals wieder auf dem Gärstenhorn steht, sieht er, dass seine Konkurrenten ihm zuvorgekommen sind. «Ich blickte vom Grat aus 200 Meter nach unten und sah, dass Leute an meiner Kluft arbeiteten. Ich ging aber nicht runter. Sonst hätte ich einem den Pickel in den Grind geschlagen. Ich wusste, es würde eskalieren, wenn ich runterginge.» Für Bergführer von Bergen ist das Rennen aber nicht gelaufen. Er wartet auf den nächsten Sommer.

Sobald der Schnee weg ist, klettert er zum Gärstengletscher hoch. Ein Helikopter lärmt an diesem Augusttag über der Fundstelle. Er fliegt zentnerschwere Kisten voller Kristalle ins Tal. Den Schatz vom Gärstenhorn. Andreas von Bergen sieht einige Meter neben seiner Spraymarkierung ein metertiefes Loch im Berg. Er stellt seinen Cousin zur Rede. «Du bearbeitest eine Kluft, die mir gehört», ruft er aus. «Du musst nicht blöd tun. Wir können belegen, dass das unsere Kluft ist», antwortet Hans. 
 

«Ich habe versucht, die Streithähne an einen Tisch zu bringen. Doch das hat nicht geklappt.» 

Charles Handschin, Schiedsgerichtspräsident der Strahlervereinigung


Andreas von Bergen meldet den Vorfall dem Präsidenten der Strahlervereinigung. «Ich dachte, er würde einen Abbaustopp verordnen. Doch es passierte nichts. Also ging ich zur Polizei.» Doch auch das hilft nicht. Die Staatsanwaltschaft entscheidet, nicht zu ermitteln. Es liege kein Diebstahl vor.

Die Nichtanhandnahmeverfügung der Thuner Staatsanwältin vom Juni 2011 kommt einem Urteil gleich. Die Kluft gehöre Cousin Hans, heisst es darin. Denn der Abstand zwischen von Bergens Markierung und der Kristallkluft betrage «rund 15 Meter». Das gehe aus Fotos hervor, die der Cousin vorgelegt habe. Und alles, was mehr als 12 Meter von einer Spraymarkierung entfernt sei, dürften andere abbauen. Das stehe zwar nirgends im Berner Gesetz. Doch weil es in Uri so geregelt sei, orientiere man sich ebenfalls an der 12-Meter-Regel. Das Schiedsgericht der Strahlervereinigung kommt gleichzeitig zum selben Schluss.

Andreas von Bergen akzeptiert das nicht. «Der Präsident des Schiedsgerichts hat mich nie zusammen mit den anderen Strahlern zu einer Aussprache eingeladen. Er hat geurteilt, ohne vor Ort gewesen zu sein. Als ob man aufgrund der Fotos einer Partei wissen kann, wie gross der Abstand ist. Der Befund der Schlichtungsstelle ist komplett falsch», schimpft er. Der damalige Schiedsgerichtspräsident Charles Handschin verteidigt seinen Entscheid. «Ich habe versucht, die Streithähne an einen Tisch zu bringen. Doch das hat nicht geklappt.» 

«Ich hätte eigentlich merken müssen, dass etwas nicht stimmt.»

Andreas von Bergen

Andreas von Bergen.

Quelle: Salvatore Vinci
«Ich hätte es nicht getan»

Zwei unbeteiligte Strahler geben von Bergen jedoch recht. «Ich glaube, ich hätte mich nicht dafür gehabt, die Kluft zu belegen», sagt ein Zeuge bei der Einvernahme durch die Polizei. «Einfach weil ich wusste, dass Andreas von Bergen die Stelle angeschrieben hatte, auch wenn diese einige Meter von der jetzigen Kluft entfernt ist.» Ein anderer Kristallsucher sagt: «Für mich war klar, dass ich da in der näheren Umgebung nicht arbeiten darf.»

Um sich seinen Anteil am Schatz zu sichern, klettert von Bergen nach Feierabend zur Kristallhöhle hoch. Eine ganze Nacht lang schmilzt er mit einem Gasbrenner Zapfen aus der eisigen Kluft. Am Morgen trifft Bruder Fritz für den Abtransport ein. Doch als sie ihre gefüllten Rucksäcke schultern, erscheinen die Kollegen des Cousins. Ein Wort jagt das andere, aber niemand wird handgreiflich. Während die Brüder ins Tal absteigen, zeigen die Kollegen Andreas von Bergen bei der Polizei an – wegen Diebstahls von Mineralien im Wert von 10'000 Franken.

Von Bergen macht eine Gegenanzeige: Sein Cousin und Alfredo Tedeschi hätten ihm Zapfen im Wert von mehreren 100'000 Franken gestohlen. Polizistin Daniela K. ist gezwungen, erneut zu untersuchen. Sie fliegt per Helikopter zum Fundort, misst den Abstand, befragt acht Personen und beschlagnahmt bei den verfeindeten Parteien einen kleinen Teil der Kristallfunde. 

Die Kristalle sind weg

Strafrechtlich ändert sich jedoch nichts. Der gemessene Abstand betrage «mindestens 12 Meter». Deshalb sei es kein Diebstahl, schreibt die Staatsanwaltschaft auch diesmal. Die Anzeige gegen Andreas von Bergen bleibt zwar folgenlos. Doch die Polizei übergibt alle sichergestellten Kristalle seinen Gegenspielern.

Weil keine Partei nachgibt, folgt ein Verfahren vor dem Friedensrichter. 
Einen Vergleich lehnt von Bergen ab. «Das Angebot war, mit den Dieben zusammen die Restbestände meiner Kluft abzubauen. Ich wurde fünf Jahre lang bestohlen, sollte aber nichts erhalten von den bereits abgebauten Kristallen. Das geht nicht. Der Vorschlag zeigt, dass die zwei ein schlechtes Gewissen haben. Das ist ein Schuldeingeständnis.» 

«Die Staatsanwaltschaft hat zu unseren Gunsten entschieden», entgegnet sein Cousin. «Die Sache ist erledigt. Mehr gibt es nicht zu sagen.»

Andreas von Bergen fühlt sich betrogen. Auch von der Polizei. Die habe erst im vierten Abbausommer gemessen, als der Klufteingang bereits abgetragen gewesen sei. «Am Anfang betrug der Abstand viel weniger als 12 Meter.» Noch mehr Geld für Anwälte ausgeben will er aber nicht. Für ihn ist die Sache überhaupt nicht gelöst.


* Name geändert

Andreas von Bergen hält Kristalle in der Hand

Ein Kristall aus der Sammlung von Andreas von Bergen.

Quelle: Salvatore Vinci
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