Ein Messerstich beendet 30 Jahre Ehe
Er wollte sie verlassen und bückte sich vor der Tür zur Tasche. Da stiess ihm seine Frau einen Dolch in den Rücken.
aktualisiert am 7. Juli 2017 - 16:02 Uhr
Es sei ein Schock, ihn zu sehen, sagt die Frau. Ihr Mann blickt weg. 30 Jahre Ehe liegen hinter ihnen. Und dann der Stich. Um den geht es hier im Bezirksgericht Baden. Und um Schuld und Urteil.
Der Dolch steckte sieben oder neun Zentimeter tief im Rücken, sagt der Gutachter, er ist Arzt. «Man kann das nicht so genau messen wie bei einer verstorbenen Person.» Der Mann habe viel Blut verloren, etwa so viel wie bei einer Blutspende. Ins Spital sei er selber gefahren, und er sei ansprechbar gewesen.
Der Tag der Verhandlung ist der 59. Geburtstag des Mannes, seine Frau ist 65. Zwei Jahre sind seit dem Stich vergangen.
«Wohin mit der Rechnung?», fragt der Gutachter. Er hält den Umschlag hoch. «Die können Sie im Sekretariat abgeben, beim Eingang rechts», sagt der Gerichtspräsident.
Er wendet sich der Frau zu.
Verstehen Sie Schweizerdeutsch?
Lieber Hochdeutsch.
Beruf?
Ich bin kein Mensch, der 30 Jahre in einem Job sein kann.
Sie habe in sechs Ländern gewohnt und arbeite als Fitnessinstruktorin. Manchmal mit einer Männerriege, aber auch im Altersheim. Zudem trage sie Zeitungen aus.
Kinder?
Keine.
Sie lebe jetzt allein.
Mit Hund?
Ja, nur wir zwei.
Sie bekomme 750 Franken AHV, 920 Franken fürs Austragen der Zeitungen. Und 2100 Franken Unterhalt von ihrem Mann.
Seit zwei Jahren sei sie in Therapie. Ihre Ärztin sitzt im Gerichtssaal. Sie ist Allgemeinpraktikerin.
Der Alkoholkonsum. Wie sieht das aus?
Nein, gar nicht mehr.
Körperlich gehe es ihr «blendend», aber sie habe extreme Schuldgefühle. Die würden mit Alkohol nur stärker. Sie nehme Xanax (ein Medikament, das Ängste dämpft). «Das ist das Einzige, was mir hilft. Ich werde bis zu meinem Tod bereuen, was ich getan habe.» Sie habe gehofft, ihr Mann würde ihr in diesen zwei Jahren verzeihen. «Aber es gab keine Vergebung.»
Der Rücken der Frau ist durchgedrückt, ihr schulterlanges Haar hat sie mit Spangen hochgesteckt, der Pony fällt auf ihre getuschten Wimpern, sie knetet ein Papiernastuch.
Woran erinnern Sie sich? Sie haben Ihren Mann ins Schienbein getreten und zwischen die Beine, ihn mit einem Messer am Bauch verletzt, Sie haben ihn geohrfeigt und an den Haaren gerissen?
Wir haben uns gestritten. Er war arrogant, das machte mich wütend … Warum hat er sich so verändert? Was ich kochte, hat er ja gegessen … Er war nicht bei mir, hatte auch nicht im Auto geschlafen, sondern bei seiner Freundin. Ich war auf 180, ich war nicht ich selber, ich sagte: Verschwinde! Ich nahm das Messer. Er wollte die Tasche nehmen und gehen. Er war vornübergebeugt … Dann bin ich ins Koma gefallen.
Sie habe nicht aufhören können zu trinken, drei Tage lang, Rotwein, italienischen. «Ich bin nicht mehr jung», sagt die Frau unvermittelt. Und dann: «Warum hat er das Messer nicht versorgt? Das tut man doch, wenn man merkt, da hat ein Mensch einen Blackout.»
Wir müssen ein Urteil fällen. Ich will Sie weder plagen noch blossstellen. Aber wer hat was wann gesagt, dass es zu einer solchen Messerattacke führte?
Ich lüge nicht, wenn ich sage, ich kann mich kaum erinnern.
Sie haben Valdoxan abgesetzt (ein Mittel gegen Depression).
Ich konnte nicht mehr stehen und liegen, ich hatte Schwindel und Durchfall und Panik. Wir waren eine Stunde in der Ehetherapie, bei einem Russen. Ich habe gehofft, dass wir einen Weg finden. Er hat mich fünf, sechs Jahre lang nicht berührt, er konnte nicht neben mir schlafen... 30 Jahre ... egal ... Der Therapeut sagte mir in der zweiten Stunde, mein Mann wolle nicht zu mir zurück. Ich wollte ihn nicht verlieren, weil ich ihn liebe. Ich musste die volle Therapiestunde bezahlen, obwohl ich nur 25 Minuten dort war. Ich habe mich verändert, ich denke, dass eine Ehetherapie doch helfen könnte.
Dass da keine Hoffnung mehr besteht, ist Ihnen bewusst?
Ja.
Akzeptieren Sie heute die Trennung?
Ja ... muss ich ja.
Können Sie Ihren Mann heute in Ruhe lassen?
Ja.
«Ich hatte Angst vor ihr», erzählt der Mann beim Kaffee zwei Wochen vor der Gerichtsverhandlung. Dort wird er nicht zu Wort kommen.
Er blickt im Gartenlokal immer wieder nach hinten. Seit der Messerattacke habe er nur mit dem Rücken zur Wand sitzen können, sagt er. Bis heute schlafe er schlecht, höchstens drei, vier Stunden und davon zwei bis drei Stunden am Stück. Er war schon vor dem Stich bei einer Psychiaterin in Behandlung.
Er habe einen sehr verständnisvollen Chef, dafür sei er dankbar, er arbeite seit über 30 Jahren in derselben Firma, als Vorarbeiter. «Ich wäre ihr körperlich überlegen. Aber wenn ich zurückgeschlagen hätte, sässe ich heute im Gefängnis.»
Als er nach der Operation mit genähtem Rücken erwachte, stand ein Polizist an seinem Spitalbett. Er, das Opfer, solle auf die Anzeige verzichten.
Der Mann unterschrieb.
Seine Psychiaterin war anderer Ansicht: «Schwere Körperverletzung ist ein Offizialdelikt.» Die Tat muss also verfolgt werden, wenn die Strafbehörden von ihr Kenntnis haben. Die Ermittlungen wurden aufgenommen.
Die Aargauer Polizei wollte zum Fall nicht Stellung nehmen. Schweizweit standen letztes Jahr 198 Männer und 8 Frauen wegen schwerer Körperverletzung vor dem Richter wie in Baden. Eine solche liegt bei einer lebensgefährlichen Verletzung vor oder wenn ein Schaden dauerhaft besteht.
Zwei Tage nach dem Stich wurde die Ehefrau verhaftet. «Es war ein Schock, ich wurde in Handschellen abgeführt, alle Nachbarn haben das gesehen», sagt sie vor Gericht. Nach 24 Stunden Untersuchungshaft schickte man sie nach Hause.
Der Mann wurde eine Woche im Spital behalten. Zurück zur Frau konnte und wollte er nicht. Er übernachtete bei der Mutter im Alterszentrum. Dann zog er in ein Männerhaus und blieb ein halbes Jahr. Bis heute geht er jede Woche dorthin zurück. Er sagt: «Letzten Donnerstag erzählte mir ein Mann seine Geschichte. Sie war genau wie meine. Bloss habe ich mich inzwischen befreit. Ich bin wieder wie früher, aber es gab eine andere Zeit.»
Warum warten die Männer? «Manche gehen zurück zu ihrer Frau. Ein allerletztes Mal, sagen sie. Sie vermissen ihre Kinder. Sie hoffen, ihre Frau würde sich ändern. Diese reisse sich vielleicht eine Woche lang zusammen. Doch dann sei sie meist wie früher, sie werfe wieder Fensterscheiben ein und zerstöre Dinge, die dem Mann heilig sind. Seine Gitarre zum Beispiel. Die Bilder, die er gemalt hat. Sie zerschneidet seine Lieblingsjeans, seine alte Lederjacke. Oder sie isoliert ihn von den Kollegen. Der Mann rutscht ins alte Muster zurück, er schämt sich für das Leben, das er führt, verliert die Kontrolle», sagt er.
18 Frauenhäuser gibt es in der Schweiz und bis vor kurzem ein Männerhaus – im Kanton Aargau. In Bern wurde jüngst ein Haus für zehn, in Luzern eins für sechs Männer eingerichtet, die physisch, psychisch oder sexuell misshandelt wurden – oder aber mutmasslich Täter sind, die polizeilich weggewiesen wurden.
Die Frau blieb in der gemeinsamen Eigentumswohnung. Der Mann hat die Scheidung eingereicht, der Prozess steht an. Bis zum Urteil zahlt er ihr 2100 Franken Unterhalt. Der Mann wohnt bei seiner Freundin.
Hätte die Frau sein Vermögen geerbt, wenn der Stich tödlich gewesen wäre? Ja, das hätte sie, sagt ein Aargauer Gerichtsgutachter und Richter. Denn sie hatte nicht die Absicht, ihn zu töten. Bei Mord allerdings hätte sie nicht geerbt.
Zurück im Gerichtssaal in Baden. Der Präsident, die Richterin und zwei Richter tragen einen Ehering. Der fünfte nicht.
Der Anwalt des Mannes fordert zusätzlich zur Haft eine Genugtuung von 20'000 Franken samt fünf Prozent Zins vom Zeitpunkt der Tat an. «Eheprobleme sollte man nicht mit dem Messer lösen», sagt er. Auch nicht mit dem Dolch, den die Frau mitführte, wenn sie frühmorgens Zeitungen austrug.
Der Anwalt der Frau fordert, es seien sämtliche finanziellen Ansprüche abzuweisen, denn sie seien Mittel zum Zweck, beim Scheidungsverfahren zu punkten. Er betont, die Frau habe nicht die Absicht gehabt, jemanden schwer zu verletzen oder gar umzubringen.
Der Gerichtspräsident gibt der Angeklagten das letzte Wort.
«Ich habe alles gesagt.»
Zur Urteilsverkündung muss die Frau aufstehen. Das Gericht verurteilt sie zu 30 Monaten Freiheitsstrafe, abzüglich der 24 Stunden in U-Haft. Doch sie bleibt auf freiem Fuss.
Die Strafe wird aufgeschoben zugunsten einer sogenannten ambulanten Massnahme. Die Frau darf mindestens fünf Jahre lang keinen Tropfen Alkohol trinken. Das muss sie alle drei Monate mit Haarproben kontrollieren lassen.
Die Busse für die leichte Körperverletzung, also für die Tritte und Ohrfeigen, beträgt 800 Franken. Das Messer und das T-Shirt, das der Mann trug, als seine Frau zustach, werden vernichtet. Die Kosten für das Verfahren gehen zulasten der Frau. Die Genugtuung muss in einem separaten Prozess eingefordert werden.
«Sie können wieder absitzen», sagt der Gerichtspräsident.
Der Stich kommt die Frau teuer zu stehen. Schon jetzt sind über 14'000 Franken fällig – ohne Verfahrenskosten und die Honorare der beiden Anwälte. Letztere dürften sich auf 180 bis 250 Franken pro Stunde belaufen. Das Verfahren in Baden dauerte sieben Stunden, Mittagspause inklusive.
Wortlos packen die Frau und der Mann die Plastikflaschen ein, die sie zum Strafprozess mitgebracht haben.
Beide haben sie das Gleiche getrunken. Evian. Ohne Kohlensäure.