Ein Wurstzipfel geht um die Welt
Bis heute pilgern Protestanten zur Zürcher Froschaugasse, wo die Reformation mit einem verbotenem Wurstessen begonnen haben soll. Nur: Es ist der falsche Ort.
Veröffentlicht am 7. März 2022 - 11:23 Uhr
Die Magd hiess Elsie Flammer. Sie tischte den Gästen des Buchdruckers Froschauer in Zürich gekochte Würste auf. Die Gäste griffen munter zu. Der Anlass wäre kaum der Rede wert. Aber vor 500 Jahren war dieses Tun ein Skandal. Er teilt die Schweiz bis heute in Katholiken und Reformierte, also «Erneuerte». Warum?
Der Tag des Wurstessens war ein Sonntag, der 9. März 1522. Das Volk fastete, und es war damals streng katholisch. Der Konsum von Fleisch war 40 Tage vor dem Karfreitag verboten. Die Gäste im Haus des Buchdruckers wussten das.
Auch der Zürcher Pfarrer Huldrych Zwingli wusste das. Ihm wurde ein Stück Trockenwurst aufgetischt, scharf und hart. Zwingli lehnte ab, blieb aber bei seinen Kumpels sitzen. Und fragte zwei Wochen darauf von der Kanzel des Zürcher Grossmünsters, ob Speiseverbote für bestimmte Zeiten erlassen werden dürfen.
Der gotteslästerliche Genuss der Wurstzipfel flog als ermunternde Worte in die Ohren der Menschen, die auf eine Erneuerung der Kirche hofften. Die Zürcher Obrigkeit schritt unverzüglich ein.
In Zürich lebten nach der Pest von 1519 höchstens noch 5000 Menschen. Darunter der zugewanderte Bayer Christoffel Froschauer aus dem schwarzkatholischen Altötting und die Zürcherin Elise Rüegger, geborene Zimmermann.
Elise war verheiratet mit Hans Rüegger, einem kleinen Buchdrucker. Christoffel Froschauer war zwei Jahre Geselle bei Drucker Rüegger. Als Rüegger mit vermutlich 52 starb, war sein Geselle Froschauer 27. Er heiratete die Witwe Rüegger. Elises Alter lässt sich nicht festmachen.
Elise und Christoffel Froschauer lebten und arbeiteten im Haus «Zum Wyngarten». Das geräumige Haus mit Dachlaterne in alle vier Winde lag nahe der Zürcher Ringmauer. Im Zürcher Stadtplan 1576 von Jos Murer ist nur ein einziges Haus in der Gegend verzeichnet: das Haus «Zum Wyngarten». Dort muss das Wurstessen stattgefunden haben – nicht an der nach Froschauer benannten Froschaugasse. «Wikipedia hat nicht recht», bestätigt Zwinglis Nachfolger, der heutige Pfarrer des Grossmünsters, Christoph Sigrist.
Eine Tafel zur Erinnerung am Haus «Zum Wyngarten» an der Gräbligasse, Ecke Zähringerstrasse, findet sich nicht. Man wüsste auch nicht, wo die Tafel anschrauben. Das Haus «Zum Wyngarten» wurde in den 1950ern abgerissen. Lange davor, 1878, waren die Ringmauer und der Ketzerturm daneben geschleift worden.
Froschauer darf man zu den Gewinnern der Reformation zählen. Er druckte Tausende von Zwinglis Schriften und Zürcher Bibeln. 1551 kaufte er ein grosses Gebäude an der Brunngasse 18 in der Zürcher Altstadt. In jenem Haus hatten bis zur Reformation zwei Dutzend Nonnen des Klosters St. Verena gewohnt und gewirkt. Heute wohnt dort der Produzent des Films «Zwingli».
Das Fastenbrechen ist für Schweizer Reformierte, was den Lutheranern der Anschlag der Thesen an die Kirche ist.
Der Drucker Froschauer taufte sein neues Haus «Zur Froschau». Die Gasse ums Eck heisst heute Froschaugasse. Der Drucker starb 1564 an der Pest, 14 Jahre nach seiner Ehefrau Elise.
Das bewusste Fastenbrechen ist für Schweizer Reformierte etwa das, was den Lutheranern der Anschlag der Thesen an die Kirche der deutschen Stadt Wittenberg 1517 ist. Der Bruch mit der römisch-katholischen Lehre und ihrer Institution.
Zwinglis Predigt «Fryheit der Spysen» gilt als erste reformatorische Schrift. Sie war ein «Schlüsselereignis», schrieb der Zürcher Autor Helmut Meyer. Zwingli verteidigt die Wahl der Speisen von der Kanzel, kurz: Er wurde wegen des Wirbels zur öffentlichen Person. Die Reformation war in aller Leute Munde. 1524 wurde das Fastengebot in Zürich vollständig aufgehoben.
Einige der Gäste des Wurstessens machten Karriere in der protestantischen Kirche, die sich zu bilden begann. Anderen erging es weniger gut. Einer wurde aus Zürich verbannt, ein weiterer nach St. Gallen ausgewiesen, ein dritter in Luzern hingerichtet. Zwingli starb 1531 mit 47 auf dem Schlachtfeld im Religionskrieg.
Ein anderer Teil der Gäste schloss sich den Täufern an. Sie setzen sich für die Taufe von Erwachsenen (und nicht von Kleinkindern) ein. Sie lehnen das Tragen von Waffen ab, ebenso das Fasten oder das Freikaufen von Sünden, den Ablass.
Manche der Täufer und Weggefährten Zwinglis landeten ausgerechnet an dem Ort, wo das Wurstessen stattgefunden hatte. Im Ketzerturm neben dem Haus «Zum Wyngarten». Mit Wissen und Billigung von Zwingli, der die Erwachsenentaufe ablehnte.
Ursprünglich als Wehrturm gebaut, trug der Bau am Seilergraben inzwischen andere Namen: Gräbliturm, Neuer Turm oder Hexenturm. Auf elf mal elf Meter Fläche schob sich der Bau 38 Meter hoch in den Himmel. Der Ketzerturm war so mächtig, dass die alte Uhr der Zürcher Kirche St. Peter an der Front zur Stadt ihren Platz fand.
«Im Turme erhoben die Gefangenen einen unheimlichen Lärm mit Singen und Schreien.»
Gottfried Keller in der Erzählung «Ursula»
Im Turm mit seinen vier Etagen und über drei Meter dicken Mauern wurden Täufer wie Täuferinnen im selben Raum eingesperrt. Manche wurden in der Limmat ertränkt wie ihr Anführer Felix Manz. «Sie lagen blass und verwahrlost durcheinander», schreibt Gottfried Keller in der Erzählung «Ursula».
Mehrere entwichen am 5. April 1525. Keller erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der seine Geliebte befreit. Die Geliebte ist Täuferin, sie heisst Ursula. Keller schreibt: «Im Turme erhoben die Gefangenen, besonders in stiller Nacht, einen unheimlichen Lärm mit Singen und Schreien, das zuweilen in ein weithin schallendes Geheul von furchtbaren Verwünschungen und Ausrufungen ausartete, von Angst und Not, Blitz und Donner, Jammer, Tod und Teufel, Untergang und Zerknisten, worauf zuweilen plötzlich wieder ein Siegesgesang ertönte.» Die Flucht gelingt.
Wann und wo die Reformation in der Schweiz Fahrt aufnahm, mit Calvin, Vadian oder Zwingli, ist das eine. Feiern sind das andere. Zur 500-Jahr-Feier der Kirche in Turbenthal ZH fragte das Organisationskomitee den lokalen Metzger Brunner, ob er eine Zwingli-Wurst herstellen würde.
Seither stellt er eine Wurst nach einem Rezept aus dem Zürcher Staatsarchiv her. Neben Fleisch und Lauch und Knoblauch sind Salz und Pfeffer drin. «Die dürfen wir exklusiv verkaufen», sagt Metzger Georg Brunner. Und? Isst man sie mit oder ohne? «Eine gute Wurst braucht keinen Senf», sagt der Metzger.