«Europa schaut einfach weg»
Die Schweiz ist das einzige Land, das im Osten der Ukraine auf beiden Seiten der Frontlinie hilft. Das ist weitgehend Didier Burkhalters Engagement zu verdanken. Der Beobachter traf den scheidenden Bundesrat in Mariupol.
aktualisiert am 21. Juni 2017 - 13:50 Uhr
Sonntag, kurz nach sechs Uhr abends. Vlad und seine Mutter sind auf dem Heimweg. Sie waren am Nachmittag zu Besuch bei einer Bekannten. Jetzt sind sie in grosser Eile. Denn je später am Tag, desto unsicherer ist dieser Stadtteil von Donezk, der neuen Hauptstadt des abtrünnigen Teils der Ukraine, die als unabhängige Volksrepublik anerkannt werden will.
Zwischen 10 und 16 Uhr halten die Beobachtungspatrouillen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Angriffe an der nahen Frontlinie so gut sie können in Schach. Wenn sie Feierabend machen, wird es am Stadtrand von Donezk gefährlich. Auf den Strassen sind dann kaum noch Menschen. Einschusslöcher an den Hauswänden, eingedrückte Dächer und zerdepperte Fensterscheiben zeigen, dass man hier nicht einmal in den eigenen vier Wände sicher ist. Nur die Keller bieten Schutz vor dem, was in den kommenden Stunden passiert.
Ein Schuss kracht. Die Mutter sackt zu Boden. Dann Vlad. Nachbarn eilen zu Hilfe, alarmieren die Militärärzte. Normale Krankenwagen wagen sich nicht hier hinaus. Für Vlads Mutter kommt jede Hilfe zu spät. Der Junge wird in das nahe Kinderspital gebracht. Dreieinhalb Stunden kämpft der Leiter der Notfallstation um das Leben des Achtjährigen. Er versorgt die Wunden an Darm und Leber. Wenn der Bub überlebt, wird er Vollwaise sein.
Seit über einem Jahr ist es kaum noch möglich, Hilfsgüter in die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete von Donezk und Luhansk zu liefern. Ausser für die Schweiz. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) schafft es als einzige staatliche Hilfsorganisation, bis heute Hilfsgüter auf beide Seiten der Front zu bringen.
Das ist auch das Verdienst von Bundesrat Didier Burkhalter. Als die Schweiz 2014 den OSZE-Vorsitz innehatte, hat er das Engagement in der Ukraine massgeblich geprägt und vorangetrieben. In der Woche bevor er seinen Rücktritt ankündigte, reiste der Aussenminister noch einmal in das Land, um sich ein Bild vor Ort zu machen. «Es war mir ein Anliegen, die wichtige Arbeit, die unser Team hier leistet, mit eigenen Augen zu sehen», sagte er Anfang Juni in Mariupol dem Beobachter. Die Stadt liegt nur wenige Kilometer von den Separatistengebieten entfernt.
Im grössten Spital Mariupols löst der Besuch des Bundesrats Hektik aus. Die Chefärztin der Klinik tauscht ihren Operationskittel gegen ein pastellgelbes Kleid. Sie führt Burkhalter durch die Geburtsklinik. Im Schlepptau sind vier Bodyguards der ukrainischen Regierung, eine Schar lokaler Journalisten und die Entourage des Bundesrats, die säckeweise Farbstifte, Malbücher, Schoppenflaschen und gebügelte Babykleider von Burkhalters Kindern mit sich herumschleppt.
Der Pulk schiebt sich durch die engen Spitalgänge, hinein in winzige Zimmer, wo Mütter ihre Neugeborenen stillen. Burkhalter grüsst höflich, fragt nach den Namen der Kinder, zückt ein Kleidungsstück oder einen Schoppen als Präsent. Als er ein Findelkind hochhebt, gibt es für die Medienleute kein Halten. Es wird geschubst und gestossen, jeder will das beste Bild, keiner die Linse eines anderen vor seinem Objektiv. Burkhalter lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. «Dieses Findelkind zu sehen berührt mich wirklich sehr, und es zeigt nochmals, wie dringend nötig die Hilfe hier ist», sagt er.
Nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei. Die Menge verschiebt sich vor das Spital, wo mit warmen Worten ein Teil der medizinischen Hilfsgüter übergeben wird. Die Schweizer Fahne und der Aufkleber «gespendet von der Schweiz» fehlen nirgends. Auf Tischen stehen Lachs, Steaks, Erdbeeren, Kirschen, Wein und viel Wodka bereit. Man stösst auf die humanitäre Hilfe an, bevor die 33 Lastwagen hupend losfahren. Sie werden tags darauf die Frontlinie passieren und die Hilfsgüter auf die andere Seite der Grenze bringen.
Ein Mann in roter Weste mit Schweizer Kreuz beobachtet das Geschehen aus sicherer Distanz. Es ist hauptsächlich ihm zu verdanken, dass die zwölf Spitäler in der Region dringend benötigte medizinische Apparaturen erhalten und vier Millionen Menschen ein weiteres Jahr Trinkwasser haben. Selbst sagen würde Projektleiter Dietrich Dreyer das allerdings nie. Sein Team wird das später für ihn tun. Dass Burkhalter persönlich vorbeigekommen ist, macht Dreyer aber stolz. So nah kommt er dem obersten Chef sonst nie.
«Ich stehe dieser Präsentation der Hilfeleistung gespalten gegenüber», sagt er. «Einerseits muten Fähnli, Empfangskomitee und Aufkleber etwas merkwürdig an. Anderseits ist Sichtbarkeit doppelt wichtig: Die Fahnen auf den Lastwagen dienen in erster Linie der Sicherheit im Konfliktgebiet, aber auch um den Menschen zu zeigen, woher die Hilfe kommt.» Es gehe aber auch darum, der Schweizer Bevölkerung zu zeigen, wohin die Steuergelder fliessen. Tue Gutes und sprich darüber, damit du weiterhin Gutes tun kannst, lautet seine Devise. Ein Projekt zwischen Nothilfe und Sichtbarkeit, um auch in Zukunft die Akzeptanz von Bürgern und Politik zu sichern.
«Es geht doch darum, dass wir als reiches Land diesen ‹arme Cheibe› unter die Arme greifen.»
Rolf Streuli, Arzt.
«Die Kür ist vorbei, jetzt wartet die Pflicht», sagt der Sicherheitsbeauftragte Raoul Forster, bevor es am nächsten Tag mit dem Konvoi Richtung Donezk geht, es ist seine sechste Mission. Während Wochen hat er die Situation in der Konfliktregion überwacht und in einem sechsseitigen Dokument alle Risiken und Massnahmen akribisch festgehalten. Am wahrscheinlichsten seien medizinische Notfälle, Verkehrsunfälle, physische und verbale Bedrohung an Checkpoints, Minen sowie scharfe Geschütze oder Beschuss.
Angst hat das sechsköpfige Deza-Team trotzdem nicht. «Beide Konfliktseiten akzeptieren uns. Zudem halten uns andere Organisationen auf dem Laufenden, was gerade in der Region passiert. Bei der kleinsten Unruhe verschieben wir die Lieferung», so Forster.
Es wäre ein folgenschwerer Entscheid. Das Wasserwerk Voda Donbasa, das vier Millionen Menschen auf beiden Seiten der Konfliktlinie beliefert, steht vor der Schliessung. Die Chemikalien, um das Grundwasser aufzubereiten, reichen nur noch für vier Tage.
Doch Dreyer ist Optimist. Sein Logistiker hat zwei Nächte durchgearbeitet, alle eventuell benötigten Papiere sind bereit. Bescheinigungen darüber, was geliefert wird, in welchen Mengen, von welchen Fahrern, aus welchen Regionen, an welche Institutionen. In Englisch, Ukrainisch, Russisch. Mehrfach kopiert, unterschrieben, gestempelt und mit schweizerischer Präzision vom ukrainischen Logistiker in Mäppchen abgelegt.
«Eigentlich kann nichts schiefgehen», sagt Dreyer. Eigentlich. Denn helfen heisst auch hoffen. Hoffen, dass keine der Konfliktparteien kurzfristig die Bestimmungen geändert hat. Oder auf die Gunst der Checkpoint-Mitarbeiter. Sie haben es letztlich in der Hand, dass die über Monate geplante, akkurat dokumentierte anderthalb Millionen Franken teure Hilfslieferung am Ende nicht doch noch blockiert wird.
«Der mit der Kalaschnikow hat immer recht», sagt Fahrer Sergej Stefan ungerührt. Er führt die 33 Lastwagen an. Sich aufzuregen oder ungeduldig zu sein, bringe nichts. «Die Grenzlinie zu überqueren dauert eben, so lange es dauert.» Er packt den Campingstuhl aus und raucht erst mal eine Zigarette.
Auch das Schweizer Team hat sich daran gewöhnt, dass selbst Hilfe für die eigene Bevölkerung die Checkpoint-Mitarbeiter nicht zwangsläufig wohlwollend stimmt. So hat jeder seine eigene Strategie entwickelt, die Stunden am Checkpoint rumzukriegen. Auf einem Nebenarm der Autobahn, zwischen Minenfeldern und Mohnblumen, holt der Logistiker etwas Schlaf nach, der Sicherheitschef futtert Gummibärchen und Erdnüsschen mit Speckgeschmack, der Teamarzt liest auch den hinterletzten Artikel der «Neuen Zürcher Zeitung», der Fahrer trinkt Kaffee mit den Chauffeuren.
Das Team hat Glück. Es schafft die 130 Kilometer lange Strecke, die durch fünf Checkpoints unterbrochen wird, in nicht einmal acht Stunden. In Donezk wartet angespannt der Chef des Wasserwerks auf die Lieferung des Aluminiumsulfats und Pulverchlors. «Die Lieferung rettet unzählige Leben», sagt Gennadij Grigorewitsch Balitschkij.
Ein Problem ist gelöst. Eines von vielen. Erst Anfang Woche war jenes Werk unter Beschuss geraten, das exakt auf der Frontlinie steht. 50'000 Menschen hatten drei Tage lang kein Wasser. Soeben wurden die Reparaturarbeiten abgeschlossen. Was Balitschkij nicht weiss: Das Wasserwerk gerät Stunden später erneut unter Beschuss. Die Reparaturarbeiten werden von vorn beginnen.
Der Schweizer Hilfstransport fuhr von der Hafenstadt Mariupol aus in die von den Separatisten gehaltenen Gebiete.
Auch das Donezker Kinderspital hat endlich die benötigten medizinischen Apparaturen erhalten. Zuvor hatten zwölf Spitäler angegeben, was sie dringend brauchen. Nach einem Besuch entschied Rolf Streuli, wer was erhält. Der Ex-Chefarzt des Spitals Langenthal kann das. Er hat nach über 30 Auslandseinsätzen die nötige Erfahrung.
Die Zustände in Donezk erschrecken ihn auch diesmal. «Und jedes Mal wenn ich aus einem Konfliktland zurückkomme, bin ich über den Luxus in Schweizer Spitälern schockiert.» Man könne auch mit einfacheren Mitteln gute Medizin machen. Warum er sich so engagiert? «Letztlich geht es doch einfach darum, dass wir als reiches Land diesen ‹arme Cheibe› etwas unter die Arme greifen.»
Spitaldirektor Sergej Jewgenjewitsch Markov ist dankbar. Und sagt doch, dass alles in Ordnung sei. «Wir haben sehr gute Ärzte und eigentlich alles, was wir brauchen. Es gibt hier keine Probleme. Nur Herausforderungen.» Hastig zeigt er den renovierten Bereich des Spitals, die weissen Wände, den neuen Laminatboden. «Wir sind arm, aber stolz», erklärt die Übersetzerin.
Walerij Alexandrowitsch Kowaljow, der Leiter einer Notfallstation, dagegen will nichts kaschieren. «Seit drei Jahren leiden Menschen hier. Sie wohnen in Kellern, müssen ihre Kinder beerdigen.» Kowaljow war der Arzt, der vor wenigen Tagen den achtjährigen Vlad operiert hat. Dessen Zustand sei noch kritisch, aber stabil. Dass seine Mutter am Vortag beerdigt wurde, habe man ihm noch nicht erzählt. «Der Junge muss zuerst wieder auf die Beine kommen, bevor wir ihm diese schreckliche Nachricht zumuten können.»
«Menschen sterben hier. Kinder. Doch Europa interessiert sich nicht für unser Leid. Es schaut einfach weg», sagt Kowaljow mit zittriger Stimme. Spitaldirektor Markov versucht, seinen Kollegen zu beruhigen: «Und genau darum ist diese Hilfslieferung so wichtig. Sie gibt uns nicht nur die nötigen Apparaturen, damit wir Leben retten können. Sie zeigt uns auch, dass wir nicht ganz alleine sind. Die Schweiz hat uns nicht vergessen.» Wenigstens nicht ganz.