Im Schatten der Glitzerfassaden
Hunderte warten hinter den Gleisen des Zürcher Hauptbahnhofs auf ein warmes Essen. Jeden Abend. Stundenlang. Seit über einem Jahr. Ein Reporter des Beobachters half zehn Tage lang beim Verteilen.
«Sprich mit ihm», sagt Ariane. Es ist mein erster Tag als Helfer. Ich trage ein T-Shirt aus Baumwolle, dunkelblau. Darauf der Name des Vereins: Incontro.
Der Mann, mit dem ich sprechen soll, sitzt im Lokal an der Rotwandstrasse in Zürich. Es heisst Primero, und wer eintritt, muss die Temperatur messen, die Hände desinfizieren und eine Schnabelmaske überziehen. Die Tische sind mit Plexiglas getrennt, nur fünf Gäste zugelassen. Ein Gast trägt eine Schiebermütze, bestickt mit FEDERER.
«Hallo, ich bin René. Wie heisst du?» Der Mann nennt seinen Namen. «Was möchtest du trinken?» Ich bringe ihm Kaffee und ein Stück Hefekranz und setze mich zu ihm. Er kaut das Gebäck so vorsichtig, dass ich fürchte, er mag es nicht. «So etwas Gutes habe ich schon lange nicht mehr gegessen», sagt er. Ich hole ihm ein zweites Stück. Der Hefekranz kommt von einer Bäckerei. Er ist von gestern.
Der Mann ist Wanderarbeiter, letztes Jahr in der Schweiz gestrandet, da ging ihm das Geld aus. Keine Arbeit. Kein Obdach. Bis ihm Incontro ein Zimmer in einer der beiden WGs verschaffte. Ohne Adresse gibts keinen neuen Job. Auch bei der Arbeitssuche wird dem Mann geholfen.
Obdachlos zu sein, erfordert ein hohes Mass an Logistik. Man muss wissen, an welchem Tag es wo günstiges oder gratis Essen gibt. Wo man trocken schlafen und gratis duschen kann. Wie viele Socken und Trainer man tragen muss, um bei minus 5 Grad nicht zu frieren (drei). Ein Bart hilft. Die Kälte beisst dennoch in die Nasenspitze.
In die Apotheke
Ich spüre eine Hand auf der Schulter. «Begleite sie zur Apotheke an der Europaallee. Wenn es Probleme gibt, frag nach Natalia», sagt Ariane und zeigt zur Tür. Wer ist Natalia? «Die Apothekerin.» Vor dem Lokal stehen zwei Frauen, deren Smartphone nicht zu läuten aufhört. Sie sind aus Nigeria. Die eine reist nach Italien, die andere nach Spanien. Im Holzhäuschen vor der Apotheke testet man sie auf Covid.
Nach der Rückkehr eile ich hinter Ariane her. Ariane Stocklin – oder lieber «Schwester Ariane» – ist eine Frau der klaren Entscheide, warmen Worte und raketenhaft schnellen Schritte. Beim Helvetiaplatz wartet ein Dutzend Freiwillige. Frauen, Männer jeden Alters. Ihre Wägeli sind beladen mit Putzmitteln, Babykleidung, Zahnpasta, Gurken, Kartoffeln, Tomatensauce. Was immer übrig blieb oder zugekauft wurde.
Aufgehäuft sind die Waren bis zur Decke in einem winzigen Keller im zweiten Untergeschoss. Dort ist Karl zugange. «Füll das Wägeli mit Waschmitteln und nimm den Lift hinauf», sagt er. Karl Wolf ist Pfarrer in Küsnacht-Erlenbach. Dann kam Covid.
Oben 5000 Franken Miete, unten kein Geld für Essen
Wir machen uns auf den Weg. Das T-Shirt des Vereins deckt die Studentin ebenso zu wie den Mann von Mobility, die Bankangestellte oder den Reporter. Maria, Ahmed, Nadia, Ildikó oder René. Egal. Wir sind im Einsatz. Unser Ziel ist das 25-Hours-Hotel an der Langstrasse.
Dort warten Dutzende von Menschen. Aufgereiht von zwei, drei Freiwilligen, die ab 15 Uhr Weg und Wartende mit Wimpeln trennen. Wenn wir mit den Karren ankommen, gegen 17 Uhr, ist die Reihe auf 150, 250, 400 angewachsen.
Dann beginnt das Welttheater hinter den Glitzerfassaden. Oben die Leute, die 5000, 6000 und mehr Franken Miete für eine Wohnung zahlen auf dem Boden, den Zürich den SBB einst für ein Butterbrot überlassen hat. Unten die Leute, die fünf, sechs Stunden lang anstehen, um ein warmes Mahl, einen Sack Esswaren oder einen der 450 Einkaufsgutscheine pro Monat zu ergattern. In Höhe von 40 Franken. Bei Aldi.
Ariane und Karl verteilen die Aufgaben. Davon gibt es verschiedene.
Du gehst in die Reihe!
Das heisst: mit den Leuten aus 54 Nationen sprechen, ihnen Schokolade und Getränke verteilen, sie beruhigen und Streit schlichten, wenn sich jemand vordrängelt. Tricksen und Zankereien sind üblich. Manche knüpfen einen Plastiksack oder ketten ihren Einkaufswagen an die Brüstung zum Gleis. Andere schieben sich vor.
Meist ist dasselbe Dutzend zuvorderst. «Wir würden es in ihrer Lage ebenso tun», sagt Ariane. Zudem ist auch Zank Kommunikation. Ob auf Arabisch, Brasilianisch, Italienisch, Schweizerdeutsch, Serbokroatisch oder Suaheli. Nach Stunden und Monaten gemeinsamen Wartens kennt man sich. Manche sitzen auf dreibeinigen Stühlchen im Oval und diskutieren, wenn wir Freiwilligen ankommen.
Du übernimmst Juventus!
Das heisst: überwachen, dass niemand das Gelände der Schule betritt. Auch keine Freiwilligen. Rauchen ist unerwünscht, Alkohol sowieso. Kein Austausch von Handynummern. Wer Dienst tut, isst nichts. Was eine Helferin seufzen liess: «Das Nasi Goreng roch so fein, ich bekam Hunger!» Ich konnte ihr nach fünf Stunden einen Osterhasen anbieten.
Wer überwacht, trägt eine gelbe Weste, spaltet sich in eine moralisch sympathische und eine durchsetzungsfähig harte Persönlichkeit auf. Weist die Leute höflich, aber bestimmt zurecht und verschliesst die Ohren vor Wehklagen.
Bedürftig und mittellos, krank oder schwach sind alle. Das Grosi mit Enkelin, die Frau mit Parkinson, der Mann mit der kaputten Hand, der Mann, dem eine Bombe beide Beine zerfetzte. «Wenn es danach ginge, wäre die Reihe nicht hintereinander, sondern nebeneinander», meint Ariane. Also: fast keine Ausnahmen!
Wobei ich beichten muss, dass ein Kollege und ich einem Mann mit zitternden Hosenstössen hundert Meter weit nach vorne zogen. Vor vier Jungs. Der alte Mann hätte sich zwei Stunden länger auf seinen Stock stützen müssen. «Ich konnte das nicht länger mitansehen», sagte mein Kollege. Die Jungs sagten: «Das ist doch selbstverständlich! Braucht sonst noch jemand Hilfe?»
Du übernimmst den Ausgang!
Man kontrolliert, dass niemand vom Ausgang her zur Essensabgabe vordringt, versucht, die Warteschlange zu umgehen. Der Trumpf heisst: «Ariane hat gesagt!» Das endet in aller Regel damit, dass Ariane die Leute zurückschickt und den Freiwilligen tadelt: «Ich habe dir doch gesagt, keine Ausnahmen!» Vorgelassen werden nur eine Handvoll nervöse Abhängige, denen man die Sucht von weitem ansieht.
Dass die Reihe hinter dem 25-Hours-Hotel steht, ergab sich. Letzten November wurden dort die Karren aus der Hotelküche gefüllt mit verpackten Gerichten, die auf der Gasse verteilt wurden. Das sprach sich herum. Erste Hungrige warteten gleich beim Eingang zur Küche. Anfangs waren es fünf oder sechs. Dann wuchs die Zahl auf mehrere Hundert an. «Der Ort fand uns», sagt Karl. Jede Woche werden 2100 Gerichte abgegeben, gespendet von Restaurants für 5 oder 6 Franken.
Ebenfalls im November eröffnete das Café Primero. Dort gibt es Kaffee und Kuchen. Montags behandelt eine Ärztin Obdachlose und Prostituierte gratis, donnerstags wird Deutsch gelehrt. Freitags werden Bewerbungen geschrieben. Sonntags gibt es einen Gottesdienst. «Vor allem die Frauen aus Lateinamerika sind religiös», sagt Ariane.
Inzwischen sind die Lokale rund um die Langstrasse wieder offen. Im Freien sitzen die Optimierten. Jede Wölbung ist am gewünschten Ort, Frisur wie Wimpern sitzen. Die Leute im Schatten müssen ihren Wagen dem Gleis entlang zum Bahnhof ziehen. Die Optimierten sollen nicht sehen, wo sie selber enden könnten. Manche halten zwar auf ihrem 3000-Franken-Velo an und fragen mit Blick auf die wartenden Leute: «Was ist das?»
Du stehst am Wägeli!
Sechs Freiwillige stehen hinter den Karren. Sie verteilen Putzmittel, Binden, Tee, Soja-Joghurts. Oder transparentes oder grünes Spülmittel. Frauen nehmen das grüne, Männern ist die Farbe egal. Einer sagt: «Ein Mittel zum WC-Putzen? Welches denn, das Züri-WC? Ich bin obdachlos .» Eine Frau fragt mit Blick auf die Gläser Pulverkaffee: «Nur eins?» Ja. «Wirklich? Schau dir meinen Finger an, der ist kaputt.» Oje. Trotzdem. Nur eins.
Die Leute freuen sich, aus Waschmitteln mit drei Düften eins wählen zu dürfen. Das gehört zum Konzept. «Wir begegnen uns auf Augenhöhe», sagte Ariane. Mit der Zeit begrüsst man die Gäste mit Namen. Man kennt Bruchstücke ihrer Geschichte. Man spricht mit dem bescheidenen Handwerker aus Syrien, dem seine Welt abhandengekommen ist. Mit der jungen Schweizerin, die noch zehn Tage auf den Lohn warten muss. Mit dem Bauarbeiter und Vater dreier Kinder, der wegen Covid seinen Temporärjob verlor und nicht ausreisen konnte. Und man wundert sich, wie eine Mutter ihre vier Kinder durchbringt und dennoch lacht.
Du gibst Essen aus!
Dann fragt man: «Was möchtest du? Chili con Carne, Pasta mit Pesto, Reis mit Fisch oder Reis mit Kichererbsen?» Geliefert wird das Essen in Kisten aus Styropor. Die müssen zurück. Also werden die Portionen in die Wärmekisten des Vereins umgetopft. Diese allerdings sind im Keller des 25-Hours-Hotels. Wer Orte und Aufgaben nicht kennt, hört durchaus barsche Töne: «Steh nicht so nutzlos herum, mach die Kisten sauber!»
Einmal kam ein Zürcher Stadtrat vorbei. Er hatte die Warteschlange vom Zug aus gesehen und fragte: «Gibt das einen Sog-Effekt?» Da es mein erster Einsatz war, konnte ich das nicht beantworten. Kaum war er weg, fragte jemand: «Ich habe gehört, hier gebe es gratis Essen.» – «Stimmt», sagte ich. «Kann ich drei Portionen bekommen? Für meinen Sohn, für mich und meine Tochter?» Klar doch.
Du verteilst Lebensmittelsäcke!
Alle paar Tage werden zwei Sorten Säcke verteilt. Für Leute mit und ohne Kochgelegenheit. Da nicht dieselben Waren drin sind, führt das zu Stau und Fragen wie: «Ist da Salami drin?» Spaghetti gehen immer. Beim Ausgang beginnt der Umtausch. Pastetli-Füllung gegen Tee – Fleischkäse in Dosen gibts meist geschenkt.
Säcke voller Lebensmittel werden auch in den Bordellen verteilt. Im einen schleppten wir zu fünft je zehn Säcke mehrere Etagen hinauf. Fünf Zimmer pro Etage, eine Dusche mit WC, eine Küche mit Tisch, an dem zwei Leute an die Wand starren können. Zwei Frauen pro Zimmer, an den Wänden Perücken am Nagel. «Nun sind es mehr als zwei», sagt Karl. «Manchmal bis zu fünf», sagte Ariane.
Wer kommt mit auf die Gasse?
Bleibt Essen übrig, wird es an der Kreuzung Militär-/Langstrasse oder vor den Bars verteilt. Man kennt die Leute in den blauen T-Shirts und Jacken. Als unser Tross bei der Bar «Maison Blanche» vorbeigeht, löst sich eine Afrikanerin vom Stuhl. Sie spricht am Handy und fragt: «Hats noch Schokolade?» Wir winken der Tochter auf Facetime in Afrika zu und geben der Mutter eine Handvoll Swiss-Schöggeli. «Ça c’est la Suisse!», ruft sie aus.
Gut 350 Impftermine hat Ariane für Frauen und Wesen in Plüsch und Pompon-Pantoffeln organisiert. Und gefragt: «Also wie heisst du nun wirklich? Was? Fünf Namen? So viel Platz habe ich auf dem Formular nicht!» Seit die Covid-Massnahmen aufgehoben worden sind, meinen alle, es sei vorbei, sagt Karl. «Aber die Not macht keine Ferien.»