Lieblingsfach: Hitler
Der Zweite Weltkrieg interessiert Oberstufenschüler mehr als Computer. Die Projektwoche zu diesem Thema ist regelmässig ausgebucht.
Veröffentlicht am 4. Juni 2018 - 17:13 Uhr,
aktualisiert am 7. Juni 2018 - 16:45 Uhr
Sie hätten klettern können, einen Lego-Computer programmieren, Englisch lernen. Doch Europas grosses Massenmorden war für sie interessanter. 42 Schülerinnen und Schüler wählten den Zweiten Weltkrieg als Projektwochenthema. 30 konnten wegen Platzmangels nicht teilnehmen.
Im Schulzimmer A 102 in Widnau SG sitzen die Sek- und Realschüler im Hufeisen. «Vieles ist eine Schande», sagt Ramon. «Mich interessieren die Waffen», sagt Mert. «Hitler hat die Unwissenheit der Menschen in Angst umgewandelt und dann in Hass», sagt Lara.
Die 15- und 16-Jährigen sind gut informiert. Kennen den Judenretter Paul Grüninger, das Réduit, die Konzentrationslager, die Schweizer Flüchtlingskrise von 1938, die sich wenige hundert Meter von ihrer Schule entfernt abgespielt hat.
Doch der Grund für ihr Kommen ist Hitler, das personifizierte Böse. In ihren Augen war er es, der gehandelt hat. Und nicht «die Nationalsozialisten», die kein Gesicht haben und keinen Namen. «Einige fragen schon in der ersten Klasse nach Hitler. Das Thema Zweiter Weltkrieg ist für viele ein Highlight der Oberstufe», sagt Lehrer Manuel Frei. Die geografische Nähe des Rheintals zum damaligen Dritten Reich weckt Wissensdurst. In den Prüfungen schneiden seine Klassen rund eine Viertelnote besser ab als bei anderen Geschichtsthemen. «Viel muss ich nicht mehr machen, sie sind so motiviert», sagt der 29-Jährige.
Zwei Tage später im österreichischen Grenzort Hohenems, 15 Velominuten von der Schule entfernt. Die Jugendlichen stehen auf einer Fussgängerbrücke und hören ab Tonband die Stimme eines damals verfolgten Juden: «In Wien bleiben war unmöglich. Es war für mich eine fixe Sache, auf dem schnellsten Weg wegzukommen. Und so bin ich in Hohenems aus dem Zug gestiegen und habe gehört, dass sich am Bahnhof Juden treffen, die in die Schweiz wollen.» Paul Pivnik erzählt, wie er 1938 illegal in den Kanton St. Gallen geflüchtet ist. Wie rund 3000 andere.
Die Schüler bewegt das Gehörte kaum. Sie kennen die Geschichten, wissen, dass nur ein schmaler Bach und Stacheldraht Hohenems im Nazireich von Diepoldsau SG trennte. Der Ort liegt östlich des Rheinkanals, auf der anderen Seite ist Widnau.
Eine Mitarbeiterin des Jüdischen Museums Hohenems führt die Teenager über die Schleichwege. Jene Pfade, denen 1938 Hunderte Juden folgten, oft angeführt von Schweizer Fluchthelfern wie Jakob Spirig: «Ich habe etwa 100 Flüchtlinge geholt. In Schmitter-Diepoldsau haben wir einen Grenzwächter gut gekannt, der uns hinter dem Zollamt durchliess», erzählt der Diepoldsauer in einem Dokfilm. Der damals 19-Jährige verdiente mit der gefährlichen «Judenschlepperei» ein Sackgeld.
Die Teilnehmer des Weltkriegskurses sind typische Vertreter ihrer Generation. Sie bewegen sich stundenlang in der virtuellen Welt, chatten und lesen auch News. Vielleicht sind sie die bestinformierten 15-Jährigen, die die Schweiz je hatte. Der Krieg in Syrien, die Grenzmauer zu Mexiko, der Muslimen-Bann der USA: Über Weltpolitik wissen sie einiges. Für heftige Diskussionen sorgt vor allem Donald Trump. «Er hat mich politisiert», sagt Mert. «Alle haben damals Hitler geglaubt. Das ist bei Trump anders. Und das ist gut», sagt Arbnor. «Die Medien übertreiben oft. Man darf nicht alles glauben. Vielleicht ist das die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg», sagt Ramon.
Wenige Meter vor der grünen Grenze erleben die Jugendlichen das Dilemma der Grenzbeamten im Hochsommer 1938 am eigenen Leib. Damals strandeten jeden Tag bis zu 50 Österreicher in Diepoldsau. Illegale Immigranten, die eigentlich zurückgeschafft werden sollten. Museumsführerin Doris Banzer formiert die Schüler zu einem Spalier und verteilt Zettel. Während Fabian durch die Gasse geht, lesen die andern laut vor. Von links rufen sie: «Du schickst sie in den Tod.» – «Die überleben das nicht.» – «Sei ein Mensch.» Von rechts tönt es: «Du verlierst deinen Job.» – «Wir Schweizer sind neutral.» – «Du bist nicht verantwortlich.»
«Aus heutiger Sicht scheint alles klar. Hier Gut, da Böse», sagt Angelika Purin. «Aber damals war es schwierig für den Zöllner oder den Grenzwächter.» Die Kulturvermittlerin des Jüdischen Museums Hohenems hat den «dramapädagogischen» Grenzweg-Rundgang mitentwickelt. «Wir wollen die Schüler nicht belehren. Wir wollen, dass sie erahnen können, vor welcher Entscheidung etwa ein Zöllner damals stand.»
Ramon weiss nicht, wie er sich verhalten hätte: «Die Zöllner hatten es sicher schwer. Sie mussten ihren Job machen. Aber sie konnten ja nicht auf die Flüchtlinge schiessen, die nichts getan haben.» Suraja ist sich dagegen sicher: «Ich hätte den Flüchtlingen helfen wollen. Ich meine, ein Mensch ist doch ein Mensch.» Und Lara sagt: «Es ist kontrovers.»
Die Hälfte der zwölf Jugendlichen hat Eltern mit Wurzeln im Ausland, von Spanien bis in die Türkei. Doch die meisten sind in der Schweiz geboren, in Widnau aufgewachsen. Als die Führung zu Ende ist, fahren einige noch schnell mit dem Velo in den McDonald’s nach Hohenems rüber. Wie so oft nach der Schule. Die Fahrt über die offene Grenze ist Alltag für sie. Aber keine Selbstverständlichkeit, das wissen sie seit Trump.
- Info: Fluchtweg-Rundgänge des Jüdischen Museums Hohenems: www.jm-hohenems.at
Nachdem die Nationalsozialisten am 12. März 1938 in Österreich einmarschiert waren, flohen 3000 bis 4000 Juden innert dreier Wochen legal in die Schweiz. Am 1. April erliess der Bundesrat eine Visumpflicht für Österreicher. Als im Sommer in Österreich Berufsverbote für Juden folgten und der Naziterror in Wien zunahm, überquerten im St. Galler Rheintal erneut Tausende die Grenze. Zöllner und Kantonspolizisten zwangen Unzählige zur Umkehr.
Am 19. August liess der Bundesrat die Grenze abriegeln, schickte Soldaten nach Diepoldsau SG und befahl, alle Juden zurückzuschaffen. Einige Grenzwächter widersetzten sich dem «herzbeklemmenden» Befehl und wurden zwangsversetzt. Andere schlugen entkräftete Familien mit dem Gewehrkolben zurück. Im Oktober zogen die Grenzsoldaten ab. Bis Kriegsende verurteilten Schweizer Richter über 100 Menschen, die Verfolgte vor dem Tod gerettet hatten. 2009 rehabilitierte der Bund 137 von ihnen und hob die Urteile auf.
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