Punk. Laut dem «Oxford Dictionary» ein Wort für «verdorben», «Hure» oder «faulendes Holz». Seit Mitte der siebziger Jahre steht Punk auch für eine Jugendbewegung, die alles in Frage stellte, was zuvor galt. Punk war brachiale Musik, Rebellion und Lebenseinstellung in einem. Ein Statement gegen alles Etablierte, gegen Regeln im Allgemeinen und den Zwang zur Stromlinienförmigkeit.

Als die ersten Punks 1976 in London und New York das Establishment schockierten, waren Stephanie Jung, 27, und Philipp Schwarz, 32, noch nicht auf der Welt, Mark Dubacher, 42, steckte noch in den Windeln. Heute sind sie Teil der jüngeren Gesellschaft in einem sehr ordentlichen, recht stromlinienförmigen Land. Und trotzdem bekennen sich die drei zum Punk. Was hält die Subkultur heute zusammen?

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Der heftige Aufbruch der Jungen

«Um Punk zu verstehen, muss man sich im Kopf 40 Jahre zurückversetzen», sagt Markus Kenner, Musikexperte und langjähriger Redaktor bei DRS 3. Dann machen wir das doch: Mitte der siebziger Jahre. Die Ideen der Blumenkinder welkten, die Wirtschaft serbelte. Die 68er Bewegung hatte es nicht geschafft, die gesellschaftlichen Strukturen aufzuweichen. In der Schweiz führte die Polizei «Zahnbürsteli-Kontrollen» durch, um Konkubinatspaare zu überführen. Freiräume für Jugendliche waren nicht vorgesehen. Der Rock ’n’ Roll lag im Sterben: Abba führte mit «Fernando» die Schweizer Hitparade an, dicht gefolgt von Peter Alexanders «Die kleine Kneipe». Jahrzehnte später werden Historiker sagen, ein Aufbruch der Jugend habe in der Luft gelegen.

Der Aufbruch war heftig. Angeführt von Bands wie Sex Pistols oder The Clash, schrien sich die Kinder der englischen Arbeiterklasse den Frust aus dem Bauch. Junge Männer und Frauen zerrissen ihre Kleidung, stachen Sicherheitsnadeln durch ihre Nasenflügel, ritzten sich mit Rasierklingen «Ihr kotzt mich an» in die Haut. Der Ausruf «No future» am Ende des Sex-Pistols-Songs «God Save the Queen» wurde zum Schlachtruf der Bewegung, deren Utopie die Zerstörung des Bürgertums und all seiner Konventionen war.

Die Botschaft hatte Kraft, Punks gehörten bald zum Strassenbild grosser Städte weltweit. Der «Spiegel» widmete der Bewegung eine Titelgeschichte, beklagte die «hässlich geschminkte Jugend, die mit Müll-Klamotten, Nazi-Insignien und Hundeketten ihre Langeweile zur Schau stellt».

Musikexperte Markus Kenner, damals 20, erzählt, wie die Sendung «Musik aus London» auf Radio DRS den Soundtrack der Bewegung in die Schweiz brachte. Simpler Sound, kämpferische Lyrics seien auch hierzulande schnell zum Bindeglied für Leute geworden, die genug hatten von den herrschenden Strukturen.

Die verbindende Kraft der Musik

Stephanie Jung, Philipp Schwarz und Mark Dubacher würden zustimmen. Auch 40 Jahre später attestieren die Punkette und die zwei Punks aus Baden, Zürich und der Innerschweiz der Musik eine verbindende Kraft. Der Zürcher Philipp Schwarz, freundlicher Blick, schwarze Kleidung und Springerstiefel, erinnert sich genau, wie es war, als er zum ersten Mal Punk hörte: «Der treibende Sound, das ‹Anti› in den Texten passte zu meinem Lebensgefühl als Teenager.» Schwarz war 14, als er zum ersten Mal Bands wie Die Toten Hosen, Sham 69 oder BRDigung hörte. Die Verhältnisse daheim waren schwierig, die Schule war eine Qual. Bei den Punks, die er auf dem Schulhof traf, fühlte er sich aufgehoben. «Diese Leute hatten alle auch Probleme. Aber sie scherten sich nicht drum – und sie hörten diese Musik. Sie hielt uns zusammen, gab uns Sinn.»

«Punk sagt dir, dass es voll okay ist, nicht zu sein wie alle anderen.»

 

Mark Dubacher, Informatiker

Und warum ist Mark Dubacher, zehn Jahre früher in Gurtnellen UR geboren, Punk geworden? Dieselbe einfache Antwort: «D Müsig.» Schon im Kindergarten wurde es dem aufmüpfigen Buben zu eng im Tal. Die Mutter eine Reformierte, der Vater Katholik – die «Mischehe» der Eltern machte den Sohn zum Aussenseiter. Er legte sich mit Autoritäten an, musste zum Schulpsychologen. Und schaffte es trotz allem ins Gymnasium nach Altdorf. Dort hört er zum ersten Mal die Ramones und die Sex Pistols. Diese Energie, diese Wut – eine Offenbarung! «Punk ist ein Lebensgefühl», sagt Dubacher heute. «Punk sagt dir, dass es voll okay ist, nicht zu sein wie alle anderen.»

Bei Stephanie Jung war es ein Konzert der US-Punkrockband Green Day, das sie zur Jüngerin der rüden Klänge machte. Ihre grosse Schwester nahm sie mit nach Zürich ins Hallenstadion, als sie 14 war. «Der Sound, die ganze Attitüde haute mich um.» Sie habe sofort gewusst, dass das die Musik sei, die sie einmal selber machen wolle.

Mark Dubacher

Der Informatiker Mark Dubacher, 42, verheiratet, interpretiert «No future» als das Leben im Hier und Jetzt.

Quelle: Philipp Rohner

Noch mal zurück in die Mitte der siebziger Jahre. Markus Kenner alias DJ Punky legte Punk auf: Bands aus Grossbritannien und den USA, bald auch erste Schweizer Combos wie die Nasal Boys und Kleenex/Liliput. «Do it yourself» lautete das Motto der Stunde: «Kümmere dich nicht darum, was der Mainstream erwartet.»

Spontan wurden Dutzende von Bands gegründet und auf die Bühnen katapultiert, zusammenkopierte Fanzines produziert und selbstgebastelte Plakate aufgehängt. Das handschriftlich verfasste Punkmagazin «Sideburns» von 1977 bringt den musikalischen Anspruch auf den Punkt. Unter der Überschrift «In einer Band spielen – erster und letzter Teil» sind drei krakelige Skizzen von Gitarrenakkorden zu sehen. Darunter steht: «Das ist ein Akkord. Das ist ein anderer. Das ein dritter. Jetzt gründe eine Band.»

Statt getanzt wurde geschubst und gekickt, und wenn man sich bei diesem Pogo eine blutige Nase holte, trug man sie mit Stolz. Wer sich damals in Punkbands die musikalischen Sporen abverdiente, zeigt «Hot Love», die Bibel des Schweizer Punks: Dieter Meier, Beat Schlatter oder Stephan Eicher, um nur ein paar zu nennen.

Schweizer Punks

Wer sich alles mit Punk die musikalischen Sporen abverdiente: Beat Schlatter (1981, oben links), Dieter Meier (1977, oben rechts), Stephan Eicher (1984, unten).

Quelle: Privat

Wie steht es 40 Jahre später um den Punk? «Als Musikstil lebt Punk für immer, als Aufbruchbewegung ist er gestorben», sagt «Punky» Kenner.

Hier würden Jung, Schwarz und Dubacher widersprechen. Für sie ist Punk noch immer viel mehr als eine Musikvorliebe. Schwarz, von Beruf «autonomer Aktivist», besetzte bereits mit 15 Häuser. «Es war ein Ausbruch. Wir lebten regellos, bestimmten selber, was für uns galt.» Bald begann er sich politisch zu engagieren, organisierte Demos gegen den Kapitalismus, für bezahlbaren Wohnraum und Menschenrechte für Migrantinnen und Migranten. Der Zusammenhalt sei gross gewesen in der Szene damals, sagt er. «Du konntest jeden, der ein Dead-Kennedys-Shirt trug, anhauen und um eine Zigi bitten. Keiner schaute dich schräg an, ob in Zürich, Berlin oder Hamburg.»

«Die Punk-Community ist extrem tolerant. Es interessiert niemanden, ob du schwul bist, transgender, In- oder Ausländer, erfolgreich oder nicht.»

 

Stephanie Jung, Fachfrau Betreuung

Vom Gemeinschaftsgefühl der Punks schwärmt auch Stephanie Jung, rosa gefärbte Mähne und Jeansjacke mit Bandstickern. Jung lebt in Baden und arbeitet als Fachfrau Betreuung in einer Kinderkrippe. «Die Punk-Community ist extrem tolerant», sagt sie. «Es interessiert niemanden, ob du schwul bist, transgender, In- oder Ausländer, erfolgreich oder nicht.»

Jung hat ihren Traum, selber Musik zu machen, verwirklicht. Als Bassistin und Sängerin in der Punkrockband The Wild Haze steht sie regelmässig auf der Bühne und singt gegen alles an, was ihr nicht passt: «Ganz persönliche Dinge, aber auch Sexismus oder alles Rassistische.»

Stephanie Jung

Stephanie Jung

Stephanie Jung, 27, arbeitet in einer Kinderkrippe und schwärmt von der Toleranz der Punk-Community

Quelle: Philipp Rohner

«Punk ist in erster Linie eine soziale Bewegung. Eine, die von jedem Einzelnen verlangt, kritisch zu denken und Gegebenes zu hinterfragen», sagt der St. Galler Lurker Grand, Herausgeber von «Hot Love» und Urgestein der Schweizer Punkszene. Der 56-Jährige macht das bis heute, hat keinen festen Wohnsitz, kauft nichts, was er nicht braucht. Die Uniformjacke der Londoner Kanalreinigung, die er trägt, ist 40 Jahre alt und «selbstverständlich ein Statement gegen die Wegwerfgesellschaft».

In seiner Konsequenz, sagt Grand, habe der Punk in der Schweiz aber nichts mehr gemein mit demjenigen der Anfangszeiten. «In den achtziger Jahren war die Repression enorm, entsprechend krass die Auflehnung dagegen.» Mehrere seiner Freunde starben damals. Sie machten Ernst mit «No future» und warfen dieses Leben, das ihnen nichts bedeutete, bewusst hin. Dieses «Scheiss drauf!», sagt Grand, hätten sie alle in sich getragen damals. Und es gab Heroin. «Wir waren Drogen gegenüber sehr tolerant. Im Nachhinein ein Fehler. Aber wer wollte schon spiessig sein?»

«Punk entwickelt sich mit der Gesellschaft weiter. Darum gibt es ihn noch, darum spricht er immer wieder neue Generationen an.»

 

Lurker Grand, Urgestein der Schweizer Punkszene

Mark Dubacher, gern auch «Mark the Dark», trinkt lieber Bier. Den Slogan «No future» interpretiert der 42-Jährige, der heute in Winterthur lebt, ganz anders. «Für mich heisst das, ganz im Hier und Jetzt zu leben, mich nicht um die Zukunft zu scheren.» Mit fast 40 begann der gelernte Krankenpfleger eine Lehre als Informatiker, vor einem Jahr heiratete er – mit einem violetten Irokesenkamm auf dem Kopf. Und er steht mit seiner Band Crude Caress auf der Bühne, ringt dem Schlagzeug simple Rhythmen ab und schreit «Werewolf, Baby!» ins Publikum. Es wird Leute geben, die ihn als Pseudopunk bezeichnen. Weil er einer geregelten Arbeit nachgeht und pünktlich seine Miete bezahlt.

«Punk entwickelt sich mit der Gesellschaft weiter. Darum gibt es ihn noch, darum spricht er immer wieder neue Generationen an», sagt Urpunk Lurker Grand. Ganz wichtig für ihn: «Das ist kein Teilzeithobby, sondern eine Haltung. Punk nimmt gesellschaftlich relevante Themen auf.»

Der Punk-Bastelbogen

Die Uniform der Revolte: Zum Ausschneiden und Selberbasteln. (Hier gehts zum Download)

Quelle: Beobachter / Anne Seeger

Tatsächlich trägt Philipp Schwarz, der vom Punk befeuerte Aktivist, bei genauerem Hinsehen kein Band-Shirt, sondern das einer österreichischen Tierrechtsorganisation; Schwarz ist Mediensprecher von «Aktivismus für Tierrechte». Vor fast fünf Jahren sei er auf die Tierrechtsszene aufmerksam geworden, sagt er. Heute lebt er vegan. «Für mich ist das die logische Weiterentwicklung meiner politischen Arbeit. Es geht um einen Befreiungskampf.»

Diesmal kämpfe er nicht mehr nur für die Befreiung des Menschen, sondern für die aller Lebewesen. Jede Woche trifft sich Schwarz mit Gleichgesinnten vor dem Schlachthof Zürich. Die Mahnwache soll auf die katastrophalen Zustände aufmerksam machen, unter denen die Tiere angeliefert und getötet werden. Der Karnismus, der uns dazu bringe, gewisse Tiere unhinterfragt zu unterdrücken und zu töten, müsse dringend hinterfragt werden. «Das passt sehr gut. Weil ich Punk als eine linksemanzipatorische Bewegung verstehe», sagt Philipp Schwarz. Einmal mehr, und das im Jahr 2017: eine Auflehnung gegen ein etabliertes System. Punk is not dead.

Philipp Schwarz

Tierrechtsaktivist Philipp Schwarz, 32, versteht Punk als links-emanzipatorische Bewegung.

Quelle: Philipp Rohner