Sexsklavinnen in den Fängen des Juju
Zwangsprostitution ist ein grosses Geschäft – auch in der Schweiz. Dabei wenden nigerianische Zuhälterinnen besonders perfide Methoden an.
Veröffentlicht am 21. November 2016 - 16:36 Uhr
Irgendwo in Benin City, Nigeria: Mit verbundenen Augen steht Joy* im Schrein von Babalawo Osaro. Ein übel riechender, düsterer Ort. Sie hat Angst. Leise wiederholt sie die Worte des Juju-Priesters: «Unheil und Tod werden über mich kommen, wenn ich Madam Ada nicht treu ergeben bin. Ich werde immer gehorchen, nicht wegrennen und keinem erzählen, wer mich nach Europa brachte.»
Joys Herz pocht wie wild. Ihr Eid zum Juju-Geist Eshu ist der Anfang ihres neuen Lebens – ohne Hunger und Hoffnungslosigkeit. Sie wird Madam Ada in Spanien im Haushalt helfen und mit dem Lohn die Schulden für die Reise nach Europa zurückzahlen. Europa! Sie wird genug verdienen, um ihrer kranken Grossmutter Geld zu schicken. Endlich wird ihr Name zu ihrem Leben passen. Joy heisst Freude.
Auf Geheiss des Priesters steckt Joy ihre Unterwäsche, ein Büschel Schamhaare und abgeschnittene Fingernägel in einen kleinen Beutel. Ein Pfand, um den Eid auch in ihrer Abwesenheit zu erneuern. Eshu wird sie auf ihrem Weg beschützen und dafür sorgen, dass ihr nichts zustösst. Solange sie Wort hält.
Es gibt viele Joys in Nigeria. Ihre vermeintlich rosige Zukunft in Europa zeigt ein Foto des Menschenhandels-Experten Stephan Fuchs: Eine 40- bis 50-jährige, wohlgenährte afrikanische Frau und zwei ältere weisse Männer sitzen im Restaurant eines Hotels im Zürcher Langstrassenquartier. Neben ihnen steht ein blutjunges afrikanisches Mädchen. Die Männer grinsen. «Die Dame hat ihnen eben gesagt, sie habe neue Mädchen, sie dürften es als Stammgäste gratis ausprobieren, es sei erst 16», sagt Fuchs.
Das Foto entstand verdeckt, als Fuchs für die von ihm mitgegründete Organisation Trafficking.ch im Milieu unterwegs war. Fuchs ist auf Fälle aus Nigeria spezialisiert und arbeitet als Betreuer afrikanischer Flüchtlinge in einer Berner Asylunterkunft.
Die Szene auf dem Bild ist Alltag in Zürich, Basel, Bern, Genf und vielen anderen europäischen Städten. Die ältere Dame ist eine sogenannte Madam, eine Zuhälterin (siehe Infografik «Juju-Frauenhandel»). Madams in ganz Europa sind vernetzt. Sie leihen sich gegenseitig Mädchen aus, um den Kunden Abwechslung zu bieten. Das Mädchen auf dem Bild wurde von einer anderen afrikanischen Frau herbeigeholt, dem sogenannten Senior Girl oder Favourite. «Sie steht zuoberst in der Hierarchie unter den Mädchen und ist die engste Vertraute der Madam», sagt Stephan Fuchs. «Sie organisiert die Arbeit oder regelt die Finanzen und kontrolliert die anderen.»
Dem Mädchen hatte man wohl eine ähnliche Geschichte aufgetischt wie Joy. Es könne in der Schweiz als Haushaltshilfe, Babysitterin oder Coiffeuse arbeiten und so die Familie in Nigeria unterstützen. Jetzt teilt es sich mit vier, fünf weiteren Mädchen ein Zimmer in einer verwahrlosten Wohnung und muss jederzeit für sexuelle Dienstleistungen an Kunden bereit sein.
Der aktuelle Marktpreis liegt laut Fuchs bei 50 Franken für ungeschützten Sex. In Italien, wo viele Mädchen zuerst landen, sind es 8 Euro. Das Geld kassiert die Madam. Ein klarer Fall von Menschenhandel.
Bevor sich die Mädchen auf den Strassen von Zürich, Genf und Bern verkaufen, haben sie eine Odyssee hinter sich. Mit von der Madam bezahlten, mafiaähnlich organisierten Schleppern sind sie monatelang durch Afrikas Wüsten Richtung Norden unterwegs. Eine Tortur. Hunger, Vergewaltigungen, Folter und Zwangsarbeit sind alltäglich. Manche sterben dabei.
Jedes Mal, wenn sie einer ihrer Reisebegleiter an die Wand drückt oder auf dem Boden über sie herfällt, erinnert sich Joy an Glorys Haus, daheim in Benin City. An die Eingangshalle mit dem glänzenden Marmorboden. An die Küche mit dem vollen Kühlschrank, an das Bad mit den verschnörkelten Wasserhähnen. Glory ist Madam Adas Cousine, Joy hat bei ihr geputzt und gesehen, wie reich man in Europa wird. Während wieder einer auf ihr keucht, stellt sie sich vor, wie es wäre, mit vollem Magen schlafen zu gehen, sich in ein richtiges Bett zu legen und erst am nächsten Morgen aufzuwachen. Ausgeruht, unversehrt, ohne Albträume. Sie weiss: Nur wenn sie das Elend und die Gewalt erträgt, bis sie in Europa ist, wird sie so leben wie Glory. Glück ist nicht gratis.
Die Mädchen werden von einem Schlepper zum nächsten gereicht und erreichen irgendwann die Nordküste Afrikas. Am Ende dieser Reise steht die waghalsige Überfahrt in einem überfüllten Boot nach Italien oder Spanien, wo sie in Asylunterkünften oder Flüchtlingscamps landen. Dort werden sie vom nächsten Komplizen der Madam abgeholt und mit der Wahrheit konfrontiert.
Infografik: Juju-Frauenhandel
Joy ist erleichtert, als sie Ada im Norden Spaniens zum ersten Mal trifft, eine gut angezogene, gepflegte Frau mittleren Alters. «Es gibt sie also doch, es ist wahr, es war nicht alles umsonst», denkt sie. Doch Adas erste Worte treffen sie wie ein Blitz: Sie müsse als Prostituierte arbeiten, um ihre Schulden abzuzahlen. 40000 Euro für die Reise, die gefälschten Papiere, die Schlepper. «Du hast es geschworen. Eshu schickt böse Geister, die dich und deine Grossmutter töten, wenn du dich nicht daran hältst», droht Ada. Die Worte brennen sich in Joys Gedächtnis ein. Sie denkt daran, wenn sie bei eisiger Kälte an der Strasse steht. Sie denkt daran, wenn ein Freier ihr ins Gesicht schlägt. Sie denkt daran auf der Autofahrt in die Schweiz, wo Ada sie jetzt arbeiten lassen will. Sie denkt ständig daran. Und schweigt.
Die Fremdenpolizei Bern führte Ende 2015 Kontrollen im Rotlichtmilieu der Stadt durch und verhaftete sechs nigerianische Frauen, weil sie sich illegal in der Schweiz aufhielten und man Menschenhandel und Zwangsprostitution vermutete. Es blieb beim Verdacht: «Keine war bereit, über ihre konkrete Situation Auskunft zu geben, auch nicht gegenüber Opferhilfsorganisationen», sagt Alexander Ott, Polizeiinspektor der Stadt Bern.
Manche sehen sich gar nicht als Opfer. Denn ihre missliche Lage in Europa ist immer noch besser als das, was sie von zu Hause kennen. «Einmal stiessen wir in der Backstube einer Bäckerei auf sechs Ausländer. Sie arbeiteten dort nicht nur im Schichtbetrieb fast rund um die Uhr, sondern schliefen auch dort», sagt Polizeiinspektor Ott. «Sie teilten sich zu zweit eine Matratze. Aber sie fanden ihre Situation nicht schlimm und hatten nicht das Gefühl, sie würden ausgebeutet.» In ihrer Heimat gäbe es manchmal Tote beim Streit um dreckiges Wasser, hätten sie gesagt, «und hier haben wir fliessendes sauberes Wasser».
Da verwundert es kaum, dass Menschenhändler nur in den seltensten Fällen zur Rechenschaft gezogen werden. Rund 50 Fälle registrieren die Strafverfolger hierzulande pro Jahr, bis zu 15 Menschenhändler werden verurteilt.
Dass es aber wesentlich mehr Ausbeuter gibt, zeigen nur schon die Fallzahlen bei der Zürcher Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ). Die FIZ-Beraterinnen kümmern sich jährlich um über 200 Frauen, die ihr Schweigen gebrochen haben. Die Fachstelle führt ein Opferschutzprogramm, stellt den Frauen unter anderem sichere Wohnungen zur Verfügung und hilft ihnen, wieder die Regie über ihr Leben zu übernehmen.
Menschenhandel – Zahlen & Fakten
Wenn jemand durch Gewalt, Täuschung, Drohung oder Nötigung angeworben, vermittelt und ausgebeutet wird, spricht man von Menschenhandel. In 70 Prozent der aufgedeckten Fälle sind die Opfer weiblich. Sie werden meist sexuell ausgebeutet. Die Einnahmen müssen sie abgeben.
Zunehmend werden auch Fälle von Zwangsarbeit aufgedeckt. Die Opfer müssen in Privathaushalten oder auf dem Bau, in der Landwirtschaft, im Kleingewerbe oder in der Gastronomie arbeiten bis zum Umfallen. Den Lohn müssen sie ihren Ausbeutern abtreten. Die bisher in der Schweiz ermittelten Opfer stammen mehrheitlich aus Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Thailand, Nigeria sowie Brasilien und der Dominikanischen Republik.
Laut einem Bericht des EU-Parlaments wurden 2013 in der EU schätzungsweise 880'000 Menschen unter sklavenähnlichen Bedingungen ausgebeutet. Die Täter erwirtschaften etwa 32 Milliarden Franken jährlich. 2012 schätzte die internationale Arbeitsorganisation die Zahl der Opfer weltweit auf 21 Millionen Menschen. Zwischen 2010 und 2012 wurden laut der UNO 40 000 Fälle aufgedeckt.
Die FIZ ist eine wichtige Stütze für die Strafverfolgungsbehörden. Um Opfer zu erkennen, die sich nicht zu erkennen geben, braucht es Fachkenntnis. Doch die ist nicht immer vorhanden. «Längst nicht alle Personen an der Front sind genügend sensibilisiert, um Anzeichen zu erkennen», sagt Rebecca Angelini von der FIZ. Viele Betroffene sind illegal in der Schweiz und werden ohne Abklärungen ausgeschafft. «Ich habe schon Befragungsprotokolle gelesen, die förmlich nach Menschenhandel schrien, trotzdem wurden die Opfer nicht geschützt», so Angelini.
Das steht ihnen aber zu: Opfer von Menschenhandel können für die Dauer des Strafverfahrens offiziell in der Schweiz aufgenommen werden, wenn sie gegen die Täter aussagen. Für die Entscheidung erhalten sie eine Bedenkfrist von 30 Tagen.
Wo Behörden hinschauen und wo nicht, zeigt die nach Kantonen aufgeschlüsselte Statistik: 2015 wurden in Zürich 15 Straftaten wegen Menschenhandels registriert, in den Kantonen Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden keine einzige. Das liegt laut Angelini nicht nur am Stadt-Land-Unterschied: «Menschenhandel gibt es überall. Wir machen die Erfahrung, dass man dort, wo man sucht, auch etwas findet.»
Die Strafverfolgung ist aber sehr aufwendig. Die Ermittler müssen sich fast ausschliesslich auf Aussagen von Opfern stützen. Deren Wahrheitsgehalt ist mitunter schwierig zu verifizieren, vor allem, wenn die Opfer traumatisiert sind. Sie leiden unter Flashbacks und Erinnerungslücken, ihre Erzählungen sind manchmal widersprüchlich und wirken unglaubhaft. Hinzu kommen sprachliche und kulturelle Barrieren. Es braucht spezialisierte Befrager, die sich auskennen und die Ungereimtheiten begründen können.
Als gutes Beispiel gilt der Kanton Solothurn, wo der Leitende Staatsanwalt Jan Gutzwiller dem Menschenhandel den Kampf angesagt hat. Sein vierköpfiges Team befragt mutmassliche Opfer meist selber. «Nur wenn wir an der richtigen Stelle nachhaken und Missverständnisse ausschliessen können, erhalten wir letztlich Klarheit über den Sachverhalt», sagt Gutzwiller. Doch selbst bei einer noch so klaren Ausgangslage kann am Ende alles scheitern, wenn das Flashback ausgerechnet im Gerichtssaal kommt. «Ich habe schon erlebt, wie sich eine traumatisierte Frau vor dem Richter plötzlich an nichts mehr erinnern konnte.»
Joy hört, wie jemand ein Messer zieht, eine Klinge blitzt auf, mit weit aufgerissenen Augen blickt ihre Grossmutter sie an. Ein teuflisches Lachen ertönt. Blut. Überall Blut. Joy schreckt schweissgebadet auf, schreiend. War es wirklich nur ein böser Traum? Oder hat Eshu Rache geübt, weil sie nicht vor der Polizei wegrennen konnte? Man brachte sie in der Schweiz in ein Durchgangszentrum, sie hat ein Asylgesuch gestellt – gegen den Willen von Madam Ada. Joy zittert am ganzen Leib. Schlafen kann sie schon lange nicht mehr. Und tagsüber drehen sich ihre Gedanken im Kreis. All die Bilder im Kopf, wenn sie sie doch nur auslöschen könnte. Aber sie verfolgen sie Tag und Nacht. Zuweilen in den unmöglichsten Momenten, sodass sie plötzlich nicht mehr weiss, wo sie ist, wohin sie wollte, was sie tut, wer sie ist. Was aus ihr geworden ist.
In Zürich ist man dabei, die Strafverfolgung auszuweiten. «Reine Opferaussagen reichen in der Regel nicht aus, um Menschenhändler zu verurteilen. Wir müssen breiter ermitteln», sagt Peter Bächer in seinem Büro bei der Zürcher Kantonspolizei. Stadt und Kanton Zürich nehmen bei der Bekämpfung von Menschenhandel eine Vorreiterrolle ein. Beide Korps betreiben eigene Fachdienste; Bächer leitet jenen der Kantonspolizei.
Breiter ermitteln heisst: Verdächtige überwachen, aktiv nach Beweisen suchen. Das muss man sich leisten können. «Jeder Verdachtsfall beschäftigt ein ganzes Team von Leuten», sagt Bächer. Nicht jeder Kanton ist hier zu Investitionen bereit. Bächer ist dennoch zuversichtlich. Er schult Polizisten, Staatsanwälte und Behördenvertreter aus der ganzen Deutschschweiz. «Es hat ein Umdenken stattgefunden», sagt der Polizeibeamte.
Die aktuellen Nachrichten aus dem Bundeshaus scheinen ihm recht zu geben. Der Bundesrat hat die Bekämpfung von Menschenhandel zu einer kriminalstrategischen Priorität erklärt, und Justizministerin Simonetta Sommaruga forderte an einer Interpol-Konferenz im Oktober mehr Kooperation zwischen den Staaten. «Ich bin sicher, wir werden künftig mehr Fälle aufdecken», sagt Bächer.
Joy weiss nicht, was sie in der Heimat erwartet. Werden sie sie umbringen? Werden sie ihre Grossmutter töten? Sie weiss nur eins: Sie muss zurück nach Benin City, Nigeria. Im Durchgangszentrum hat sie erfahren, dass es ihrer Grossmutter nicht gut geht. Joy will heim, sie pflegen. Sie hat das Asylgesuch zurückgezogen. Seit sie im Opferschutzprogramm ist und erzählen konnte, was man ihr angetan hat, geht es ihr besser. Sie fühlt sich stark genug. Sie muss zurück.
Es gibt viele Joys in Nigeria, aber ihre Geschichten enden nur selten so. Viel häufiger schaffen es die Mädchen tatsächlich, ihre Schulden bei der Madam abzuzahlen. Zurück nach Nigeria können sie nicht: Sie schämen sich, würden ausgestossen, gälten als Versagerinnen oder gerieten vielleicht erneut in die Fänge einer Madam. Stattdessen rekrutieren sie selber neue Mädchen, die jetzt für sie arbeiten. Mit dem Geld bauen sie in Nigeria prunkvolle Häuser. Jeder soll sehen, wie reich man in Europa wird
* Joys Geschichte basiert auf einer dokumentierten Fallgeschichte aus dem Archiv der FIZ. Namen und Umstände wurden zum Schutz der Betroffenen geändert.
Autor: Conny Schmid
Fotos: Lorena Ros
Infografik: Andrea Klaiber und Anne Seeger; Quelle: United Nations Interregional Crime and Justice Research Institute (UNICRI), Trafficking.ch, Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ)
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