Verwirrung um Verwahrung
Das neue Strafrecht verlangt: Bis Ende Jahr müssen alle Täter, die sich in Verwahrung befinden, überprüft werden. Dabei geht es um die Frage: Therapie statt Verwahrung? Doch während Urteile auf sich warten lassen, regiert das Chaos. Und führt zu absurden Ergebnissen.
Veröffentlicht am 5. Oktober 2007 - 17:08 Uhr
Was die Luzerner Vollzugsbehörden mit Markus W. (Name der Redaktion bekannt) machen, ist Freiheitsberaubung. Davon ist jedenfalls der renommierte Strafrechtsprofessor Günter Stratenwerth überzeugt. Seit neun Monaten liegt ein psychiatrisches Gutachten vor, das die schrittweise Freilassung des wegen Vergewaltigung auf unbestimmte Zeit Verwahrten fordert. Doch nichts geschah - bis diesen August das Luzerner Obergericht ein Urteil fällte: Markus W. ist nicht mehr therapiebedürftig - also gesund und daher nicht mehr gefährlich - und bleibt aus diesem Grund in Verwahrung.
Das ist die absurde Folge des neuen Strafrechts, das seit Januar in Kraft ist. Es hat dazu geführt, dass sich zwei Verfahren in die Quere kommen: Einerseits müssen die Kantone wie bis anhin jedes Jahr überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Verwahrung eines Straftäters noch gegeben sind oder ob man ihn freilassen kann, weil er nicht mehr gefährlich ist. In der Regel machen das spezialisierte Ämter und Kommissionen.
Anderseits verlangen die Übergangsbestimmungen zum neuen Strafrecht zusätzlich, dass die Gerichte bis Ende Jahr alle Fälle überprüfen, in denen sie eine Verwahrung verfügt hatten. Dabei geht es jedoch nur darum abzuklären, ob statt einer Verwahrung auch eine andere, eine therapeutische Massnahme in Frage kommt. Ist ein Täter sogenannt therapiefähig, ordnet das Gericht entsprechende stationäre oder ambulante Behandlungen an. Ist er es nicht, bleibt er in der Verwahrung. Nicht therapiefähig kann aber auch heissen: Der Täter ist gesund und geheilt.
Da stellt sich natürlich die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt was abklärt. Muss zuerst das Gericht die Frage der Therapierbarkeit prüfen und dann eine andere kantonale Behörde die Möglichkeit der Freilassung? Oder beides gleichzeitig? Oder braucht es das eine gar nicht mehr, wenn das andere klar ist? Das neue Gesetz bietet dazu einen Ermessensspielraum, der unter Umständen zu so absurden Ergebnissen wie bei Markus W. führen kann.
Der Richterin sind die Hände gebunden
Für die Luzerner Oberrichterin Marianne Heer steht hingegen fest: «Wir Richter haben derzeit einzig und allein die Frage zu klären, ob ein Täter therapiert werden kann oder nicht.» Das Obergericht hat denn auch im Fall W. ein entsprechend formalistisches Urteil gefällt: keine Therapie, W. bleibt in Verwahrung. Dies, obwohl der Gerichtsgutachter Martin Kiesewetter seine Freilassung fordert. Heer ist sich des Dilemmas bewusst, aber ihr seien die Hände gebunden, «weil wir Richter im Rahmen dieser Überprüfung eben nicht die Kompetenz haben, auch die Frage der Freilassung zu erörtern». Und weil Kiesewetter in seinem Gutachten über Markus W. keinen Zweifel offenlasse, «dass es bei W. nichts mehr zu therapieren gibt, gilt er gemäss Definition der Übergangsbestimmungen als nicht therapiefähig». Die Richterin betont allerdings, dass der Entscheid des Obergerichts «nichts darüber aussagt, ob der Mann noch gefährlich ist oder nicht. Das muss unabhängig von unserem Urteil von der zuständigen Fachkommission geklärt werden.» Damit ist jedoch dem auf seine Freilassung wartenden Markus W. wenig geholfen.
«Die Luzerner Behörden benützen jeden Trick, um den Entscheid auf die lange Bank zu schieben. Sie verschanzen sich hinter den Übergangsbestimmungen, hinter dem Obergericht und hinter der Fachkommission», sagt Günter Stratenwerth. Er findet es skandalös, dass Markus W. trotz der Empfehlung des Gutachters, ihn freizulassen, noch immer im Gefängnis sitzt. Es hat allein schon sechs Monate gedauert, bis die Luzerner Vollzugsbehörde seine Akte dem Obergericht überhaupt vorgelegt hat. Und die vorgeschriebene jährliche Überprüfung der Verwahrungsvoraussetzungen wurde bei W. letztmals im August 2004 durchgeführt. Seine Rechtsanwältin Sandra Sutter-Jeker hat inzwischen Strafanzeige wegen Amtsmissbrauch und Freiheitsberaubung eingereicht. Die Luzerner wollen wegen des laufenden Verfahrens zu den Vorwürfen nicht Stellung nehmen.
Mangel an Gerichtspsychiatern
Fest steht: Wäre Markus W. in einem anderen Kanton straffällig geworden, würde vieles anders ablaufen. So haben die meisten Vollzugsbehörden die Akten ihrer Verwahrungsfälle bereits Anfang Jahr zur Überprüfung den Gerichten übergeben. Vor allem aber haben einige Kantone ein anderes Vorgehen gewählt: Basel-Stadt und Baselland, St. Gallen, Solothurn, Graubünden sowie Aargau hätten im Fall Markus W. zuerst die Frage der Freilassung prüfen lassen - je nach Kanton vom Gericht, von der jeweils zuständigen Fachkommission oder auch in einem kombinierten Verfahren.
«Stellt sich heraus, dass der Freiheitsentzug nicht mehr nötig ist, muss ich den Fall doch nicht mehr dem Gericht überweisen», sagt Joe Keel, Leiter des St. Galler Straf- und Massnahmenvollzugs. Das sei auch eine Frage der Effizienz.
In der Schweiz werden derzeit rund 250 Fälle überprüft. Urteile gibt es erst ganz wenige. Meistens braucht es dafür ein aktuelles psychiatrisches Gutachten. Dies dauert oft lange. Die Folge: «Es wäre für mich ein Wunder, wenn die Gerichte die Überprüfungsfrist wie vorgeschrieben bis Ende Jahr einhalten können», sagt Florian Funk, Leiter des Rechtsdienstes im Zürcher Amt für Justizvollzug. Im Kanton Zürich müssen 65 Fälle untersucht werden. Ähnlich urteilt Dominik Lehner, Leiter Abteilung Freiheitsentzug und soziale Dienste im Kanton Basel-Stadt: «Wir haben zu wenig ausgebildete Gerichtspsychiater. Aber es darf doch nicht sein, dass Insassen länger in der Verwahrung bleiben müssen, nur weil man aufs Gutachten wartet.»
Die rechtliche Situation wird zusätzlich kompliziert, weil es unter den heute Verwahrten nicht nur Sexualstraftäter und Gewaltverbrecher, sondern auch sogenannte Gewohnheitsverbrecher gibt. Damit sind notorische Betrüger, Hochstapler oder Diebe gemeint. Nach dem neuen Recht können diese nicht mehr verwahrt werden, weil die Massnahme nur noch für gefährliche Gewalttäter ausgesprochen werden darf. Wie sollen die Gerichte nun bei ihrer Überprüfung entscheiden, wenn die Gewohnheitsverbrecher nicht therapiefähig sind? Bleiben sie in der Verwahrung? Rechtsexperten streiten sich, ob dies legal ist. «Das wird letztlich das Bundesgericht entscheiden müssen», ist Roland Hengartner vom Aargauer Straf- und Massnahmenvollzug überzeugt.
Es steht ausser Frage, die Gerichte sind nicht zu beneiden. Einerseits herrscht ein enormer öffentlicher Druck. Anderseits «ist den Gerichten bewusst, dass ihre Urteile für die Zukunft der Verurteilten wegweisend sind. Denn verwahrt wird nur, wer nicht therapiert werden kann», sagt Christian Margot, Vorsteher der Berner Abteilung für Straf- und Massnahmenvollzug.
Richterin Marianne Heer plädiert deshalb im Grundsatz für «in dubio pro curatione» (im Zweifel für die Therapie). Eine verordnete Therapie kann allerdings auch lebenslänglich bedeuten, wenn sie bis zum Tod dauert. Beispielsweise bei Rita K. (Name der Redaktion bekannt), die gemeinsam mit ihrem Sohn ihren Ehemann gefoltert und getötet hat. Die Gefangenschaft hat aus der 51-Jährigen eine gebrochene und kranke Frau gemacht. Sie ist heute sowohl physisch wie auch psychisch therapiebedürftig und wird wahrscheinlich im Pflegeheim enden.
«Untherapierbar» gleich lebenslänglich
In den meisten Fällen dürfte sich jedoch für die Verwahrten, die nun in eine therapeutische Massnahme überführt werden, nichts ändern. «Weil es in der Schweiz zu wenig adäquate Therapiemöglichkeiten gibt», betont Professor Stratenwerth. Der Richter ordnet zwar die stationäre psychiatrische Behandlung oder eine Suchttherapie an, die Behörden vollziehen dies aber am falschen Ort: wie bis anhin in der geschlossenen Strafanstalt.
Wem hingegen der Stempel «untherapierbar» - was nach neuem Recht die Voraussetzung für eine Verwahrung ist - aufgedrückt wird, der dürfte Probleme haben, je aus der Gefangenschaft zu kommen. Zwar soll die Notwendigkeit einer Verwahrung wie bisher jährlich von der zuständigen Behörde überprüft werden, aber die Praxis dürfte die sein, dass nur noch Todkranke, Gelähmte oder krasse Pflegefälle freigelassen werden. Für den Basler Vollzugsleiter Dominik Lehner ist dies unhaltbar: «Wir müssen auch mal den Mut haben - notabene nach bestmöglicher Absicherung -, einen Verwahrten schrittweise in die Freiheit zu entlassen. Sonst kann man gleich sagen: lebenslänglich.» Dies widerspräche freilich den Menschenrechten, was Günter Stratenwerth zur Bemerkung verleitet: «Wollen die Schweizer Justizbehörden diesbezüglich glaubwürdig sein, müssen sie nun einen Täter wie Markus W. freilassen. Wenn Gutachter zu diesem Schluss kommen, sind die Behörden dazu per Gesetz verpflichtet.»