Der Text beginnt ohne Anrede. «Sonntag. So ein kalter Tag, keine Sonne – der erste Tag dieser Art seit Beginn unserer Zeit hier. B und Miss Mc und ich gingen zur Kirche. B und Miss Mc kamen vor der Predigt heraus und freuten sich sehr, dass ihr Husten sie kaum störte. Es war Erntesonntag. Es geht mir viel besser jetzt, ausser dass ich mich noch immer matt fühle, was kein ungewöhnlicher Zustand ist.»

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Der Sonntag, das war der 23. Oktober 1904. Tatsächlich der Erntesonntag. Die Karte trägt drei Stempel. «Hotel & Pension Bellavista» in Davos, zwei weitere von «Davos Filiale». Das war die Poststelle Horlauben, auf halbem Weg von Davos Dorf zu Davos Platz. Die Kirche war vermutlich jene im Englischen Viertel, denn die Karte ist adressiert an eine Frau in Bromley, England. Das Porto kostet zehn Rappen. Die Post liess auf der einen Seite nur die Adresse zu, darum ist die andere Seite rund ums Bild vollgekritzelt.

Davos, 1904, Husten? Und matt? Das Bild zeigt einen Bau im Zuckerbäckerstil. Auffallend sind die Balkone, die Liegehallen. Sie weisen auf jene Zeit hin, als Davos der Ort der Hoffnung für Tuberkulosekranke war. Ich fragte den Kartenhändler, ob er mehr über die Herkunft der Post aus Davos erzählen könne. Er habe sie bei einem britischen Händler gekauft, mehr wisse er nicht.

Signiert ist die Karte mit dem Buchstaben M. Die Schrift ebenmässig, wer immer da schrieb, schrieb regelmässig. M war offenbar erst seit kurzem in Davos. Und suchte «eine leichte Beschäftigung». Die Empfängerin in Bromley möge ihr das Arbeitszeugnis nach Davos schicken, sie habe es in der Eile vergessen. Der Name der Empfängerin: Mrs. Braginton. Ohne Vornamen. Aber eine Strasse war genannt. Tweedy Road. Und der Wohnort. Bromley, Kent, England.

Die rätselhafte Postkarte

Die ominöse Postkarte

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Quelle: ZVG
Der Ahnenforscher weiss mehr

Ich bat meinen Freund Joe um Hilfe. Joe lebt in Eastbourne im Süden Englands, er liebt Ahnenforschung. «Das ist eine Frau», sagte er. 1904 hätte sich kein Mann mit einer Frau über eine Beschäftigung unterhalten. Die Frau sei gebildet und stamme aus der Mittelklasse. Nur die Mittelklasse und aufwärts hätten sich einen Aufenthalt in Davos leisten können. Die Empfängerin der Karte habe in einem Edwardian House gelebt. Diese Art von Häusern sei Anfang des 20. Jahrhunderts reihenweise für die Mittelklasse in der Vorstadt errichtet worden. Typischerweise zweistöckig, mit einem Fenster im Dachgeschoss.

Ein Teil der Tweedy Road in Bromley sieht bis heute aus wie 1904. Sie muss idyllisch gewesen sein mit dem Park gegenüber. Heute sind die Vorgärten platt. Wo Rosen blühten, parkieren Autos. Bromley wurde eingemeindet, ein lärmiger vierspuriger Zubringer führt nach London.

M war also Britin und ging an jenem Sonntag in Davos zur Messe in der anglikanischen Kirche. Sie heisst St Luke’s. Der heilige Lukas gilt als Schutzpatron der Ärzte und Kranken. Die Kirche liegt ein paar Fussminuten vom «Bellavista» entfernt, wo M im Herbst 1904 abgestiegen war.

Und was war mit dem Husten in der Kirche? Und wer waren B und Miss Mc, die mit M die Messe besucht hatten? Ich setzte mich in den Zug nach Davos. Wegen des Mundschutzes beschlug meine Brille.

Die Englische Kirche in Davos Platz, wo die gesuchte Person M die Messe besuchte

Die Englische Kirche in Davos Platz, wo die gesuchte Person M die Messe besuchte.

Quelle: ZVG
Professionell angebranntes Archiv

Die Büros von Davos Tourismus sind im Sportzentrum untergebracht. An jenem Ort hatte ein Brandstifter 1991 das Eisstadion abgefackelt. Der trockene Schindelbau, von der Sonne schwarzgrau gebrannt, ging schnell zu Boden. Der Brandstifter wusste, wie er vorgehen musste. Er war Feuerwehrmann. Ein Teil des Archivs verkohlte, der Rest wurde vom Löschwasser beschädigt.

Im Sitzungszimmer teilen hohe Steller aus Plexiglas den Raum in Stücke. Ein Spuckschutz wegen Covid. Vor mir liegt ein Buch. Korrespondenz und Briefe von 1904 bis 1913. Der Chef von Davos Tourismus und ich begrüssen uns ohne Handschlag. Als er im März in jedes Büro eine Flasche Desinfektionsmittel bringen liess und 10'000 Gesichtsmasken bestellte, hielt man ihn für verrückt.

Ich gehe die 600 Seiten durch, jede ist nummeriert, die Schrift hat das Löschwasser überlebt. Im März 1904 bestellte der Kurdirektor ein Fass Brennsprit, 50000 Formaldehydpastillen, 50 Kilo Wattestreifen und 18 Desinfektionsanzüge «mit aufgenähten Sohlen und Taschen» à 16 Franken. Sowie einen Äskulap-Apparat. Er sieht aus wie ein runder Staubsauger und wurde von einem amtlich eingesetzten Desinfektor bedient. Der dichtete Fenster und Türen ab, der Äskulap füllte das Zimmer mit dem Dampf der aufgelösten Formaldehydpastillen.

Den Sprit brauchte man zum Aufheizen, nicht zum Desinfizieren. Im Raum begann es wegen des Formaldehyds fürchterlich zu stinken. Der Desinfektor trieb einen Schlauch durchs Schlüsselloch und blies Ammoniakdämpfe ins Zimmer. Das vertrieb den Geruch. Zum Schluss musste die Einrichtung des Raumes mit Seifenwasser gereinigt werden. 1904 wurde in Davos das Spucken auf den Boden ausdrücklich verboten. Kranke sollten in den «blauen Heinrich» speien, ein Gefäss aus blauem Glas. Und die Spucke ordentlich entsorgen.

Nach dem Tod wird das Zimmer desinfiziert

Jeden Monat verloren Gäste den Kampf gegen die Tuberkulose, eine Infektionskrankheit, die bis heute Hunderttausende umbringt. In Davos ging es den meisten Kranken besser, auch wenn man nicht präzis wusste, warum. Im Oktober 1904 zählte der Ort 127 «Passanten» und 1528 Kurgäste. Davon starben sieben. Etwa Harald H., im Sanatorium Turban, am 14. Oktober. Gleichentags wurde sein Zimmer desinfiziert. Das kostete sieben Franken.

Sieben Franken waren eine Menge Geld. Eine Nacht im Sanatorium kostete mindestens zwei Franken. Regelmässig fragten Hoteliers, ob die teure Desinfektion wirklich nötig sei. Der Kurdirektor blieb hart. Ohne ärztliches Attest musste der Raum sieben Stunden lang von Tuberkulosebazillen befreit werden. Im Hotel Bellavista, wo M ihr Zimmer bezogen hatte, war in den fraglichen Monaten niemand gestorben. Die Listen der Gäste befanden sich aber woanders.

Alle Welt trifft sich hier

Nächste Station. Die Davoser Dokumentationsbibliothek. Praktischerweise ist sie gleich gegenüber der Englischen Kirche. Dort sind inzwischen Freikirchen eingezogen. M hatte sie an jenem 23. Oktober 1904 mit B und Miss Mc besucht.

Im obersten Stock der Bibliothek liegen die Bände der «Davoser Blätter» vor mir. Die Zeitschrift erschien jede Woche in Deutsch und später auch in Englisch, Französisch und Russisch, weil Leute aus aller Welt in Davos Heilung suchten. Die «Fremden-Liste» führte sämtliche Namen aller Kurgäste samt Herkunft auf. Wenn «Herr u. Frau Roos m. Dienerschaft, Rotterdam» eingetroffen waren oder «Mlle. Baclova aus Rustschuk, Bulgarien», wusste die Leserschaft Bescheid. Alle Gäste samt «Servants» und «Maids» sind nach Hotels und Pensionen sortiert. Es wurde jahrelang katholisch gekurt, jüdisch oder im Diakonissinnenhaus, in Damenpensionen oder privat, mit oder ohne elektrisches Licht und Zentralheizung.

M hatte ein Zimmer im «Bellavista» bezogen. Aber wann? Ich sah die Listen durch. Im September 1904 nicht. Anfang Oktober auch nicht. Dafür gleich drei Treffer in den «Davoser Blättern» vom 14. Oktober. Das Hotel mit seinen 35 Betten war schwach belegt – ein Glück für hobbymässige Sherlocks und Watsons wie Joe und mich. Es waren bloss sechs Gäste im «First Class Hotel» Bellavista (das dürfte einem heutigen Dreisternehaus entsprechen). Die Gäste waren ein Paar, das nicht ins Raster passte, eine Dame mit Vornamen M aus Edinburgh, Schottland. Eine Miss L. Mackintosh aus London. Und eine M. Braginton aus Bromley, England.

Endlich: gesucht und auch gefunden

Bromley? England? Das war die Adresse der Empfängerin. Mrs. Braginton. Dann eine Überraschung. Neben M war eine B aufgeführt. Hatte M (Braginton) mit B (Braginton) und Mc (Miss Mackintosh) am 23. Oktober 1904 in Davos die Messe besucht? Waren M und B Schwestern? Und Mrs. Braginton war ihre Mutter?

Volltreffer, schrieb mein Freund Joe. «Du hast Miss M aufgespürt!» Er war so aufgeregt wie ich. Im Minutentakt blinkten seine Ergebnisse auf meinem Handy auf, während ich stundenlang in den über 100 Jahre alten Zeitschriften blätterte. M steht für Minnie! Ihre Schwester B hiess Blanche! Die Mutter hiess Sophia! Der Vater hiess William! Die Familie lebte an der Tweedy Road 13 in Bromley! Sie hatten fünf Töchter! Nein, sechs, nein, sieben Töchter!

Dann eine weitere Überraschung. In den «Davoser Blättern» vom Dezember 1904 tauchten plötzlich die Eltern von Minnie und Blanche auf. Offenbar besuchten sie ihre Töchter zu Weihnachten in Davos. Über die Feiertage war das «Bellavista» ausgebucht.

Im Übrigen hatte die Kartenschreiberin Minnie Braginton aus Bromley recht. Es war kalt in Davos an jenem Erntesonntag im Oktober. Im Januar 1905 sank die Temperatur schliesslich gar auf minus 32 Grad. Die Kälte war perfekt zum Herstellen von Natureis. Im Januar spielte man in Davos Bandy, eine Art Vorläufer des Eishockeys. Mit dabei waren Mannschaften aus Davos, St. Moritz, Haarlem (in den Niederlanden) und Les Avants, einem Ort oberhalb von Montreux.

Schneeschleudern gab es zu jener Zeit nicht. Pferde zogen eine Walze hinter sich her, und die drückte samt dem Rossführer zuoberst auf seinem Sitz die Flocken platt. So mussten die Kurgäste auf dem Weg zum Tanz, zum Lottospiel oder zum Kostümball im Hotel Belvédère nicht durch den hohen Schnee schaukeln. Im Kurhaus-Theater wurde im Oktober 1904 «Der Winterschlaf» aufgeführt. Ein Stück, in dem sich die Hauptfigur Trude umbringt. Ein paar Tage darauf lief etwas Hoffnungsvolleres: «Der Segen kommt von oben». Ein Singspiel.

Die Davoser Arkaden: Hier flanierten die Gäste aus aller Welt.

Die Arkaden: Hier flanierten die Gäste aus aller Welt. Im Musikpavillon spielte mehrmals täglich das Kurorchester.

Quelle: ZVG
Die Spur verliert sich

Die Eltern Braginton blieben bis Mitte Januar bei ihren Töchtern Minnie und Blanche im «Bellavista». In der «Fremden-Liste» vom 19. Januar sind ihre Namen nicht mehr aufgeführt. Sie fuhren vermutlich mit der Rhätischen Bahn via Klosters nach Landquart. Seit 1890 bediente die RhB die Strecke Landquart–Davos mit Dampflokomotiven. Die erste Lok trug den Namen der Muttergöttin der Kelten: Rhätia. Minnie und Blanche blieben bis Frühling 1905, im April kam Dorothy hinzu, die jüngste Schwester der Bragintons. Im Juni 1905 verlieren sich die Spuren.

Im «Bellavista» und im Sanatorium Sanitas daneben behandelte man ab Mitte 1940 erste Kranke mit Streptomycin, einem Antibiotikum. Eine der Ersten war eine 18-jährige Schweizerin. «Bemerkenswerte Verbesserung», notierte ihr Arzt. Die Patientin überlebte und wurde Kinderärztin. Die Liegehallen und Liegestühle von Davos machten weltweit Karriere. Als Loggien oder als Vorbild für die Liegen von Le Corbusier. Der Aufstieg des Antibiotikums war gleichzeitig der Abstieg von Davos als Kurort.

Liegestühle in Davos

Eine Liegekur half vielen Kranken – warum, wusste man nicht präzis.

Quelle: ZVG
Als Vermächtnis eine Töchterschule

Minnie Braginton starb 1931 bei Eastbourne, England. Sie wurde 55 und hinterliess ihr Vermögen von knapp 1100 Pfund Dorothy, der jüngsten Schwester. Mit ihr war sie 1905 im «Bellavista» in Davos gewesen. Minnie war Erzieherin wie alle ihre Schwestern. Dorothy gründete 1927 die Töchterschule Le Châtelard in Les Avants. Es gibt sie bis heute. Mit gegenwärtig 90 Schülerinnen. Gründerin Dorothy starb 1959 in der Westschweiz. Alle sieben Braginton-Schwestern blieben ledig. Sprösslinge der Mutterseite antworteten nicht auf Anfragen des Beobachters.

Ein paar Jahre vor den Bragintons war der Autor Sir Arthur Conan Doyle in Davos gewesen. Der Erfinder von Sherlock Holmes und Dr. Watson begleitete seine tuberkulosekranke Frau und ging Ski laufen. Sein Erlebnisbericht (der Tweedstoff am Hintern überlebte nicht) trieb Tausende von Abenteuerlustigen in die Alpen. Und der Beobachter publizierte in seiner ersten Ausgabe 1927 Doyles «Hund von Baskerville».

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René Ammann, Redaktor
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