«Wie konntest du nur?»
Ein Mann über 50 verliert seinen Job. Er findet keinen neuen. Das treibt ihn in den Tod. Und seine Partnerin bleibt verzweifelt zurück.
Veröffentlicht am 22. November 2016 - 10:23 Uhr
An einer Scheunentür hängen Wanderschuhe, dreckig, achtlos aufgeschnürt – eine Postkarte, die man aus den Ferien schicken könnte, am Abend nach einer langen Wanderung. Doch Anne H.* hat die Karte von ihrem Lebenspartner erhalten. Per Post. Am Tag, nachdem er sich das Leben genommen hat. Der Text: «Ich habe meinen Engel auf Erden gefunden. Danke für alles, was du für mich getan hast.»
Der Mittfünfziger war arbeitslos, fand keinen Job mehr. Er war Einkaufsleiter im Aargau gewesen, und dann das. Ausgesteuert, Auto weg. Verzweifelt war er, sah keine Zukunft.
Kollegen und Freunde organisierten nach seinem Tod eine Mahnwache. Mit Kerzen und Transparenten. Sie wollten es nicht hinnehmen, dass sich einer das Leben nimmt, weil er mit über 50 auf dem Arbeitsmarkt kaum mehr eine Chance hat. Medien berichteten über die Mahnwache. «J. C. nahm sich das Leben, weil er keinen Job fand», titelte der «Blick».
J. C.s Partnerin ist Seelsorgerin. Die Abschiedskarte und ein Brief, den er ihr geschrieben hat, geben ihr zwar etwas Trost, aber eine wirkliche Hilfe sind sie nicht. Als Christin lehnt sie Suizid ab, sagt aber: «Wenn einer gehen will, kann man ihn manchmal einfach nicht aufhalten. Ich habe immer versucht, einen Weg zu finden.» Er aber war bitter enttäuscht von einer Gesellschaft, die Menschen ohne Arbeit behandelt, als seien sie weniger wert.
Relativ bald nach dem Jobverlust habe J. C. noch einmal einen Job gefunden. Allerdings im Welschland – so weit weg, dass er während der Woche nicht nach Hause hätte kommen können. «Ich fand, er solle so lange bleiben, bis er etwas anderes gefunden hätte», erzählt Anne H. Doch er sah das anders, kündigte die Stelle nach einigen Wochen wieder.
Zwei Jahre lang hat J. C. immer wieder davon gesprochen, er werde sich umbringen. «Es kommt der Tag, da werdet ihr meine Geschichte im ‹Blick› lesen!», kündigt er sogar an. Doch lange Zeit sieht es nicht danach aus, als hätte er sich aufgegeben. Als er realisiert, dass er nicht so einfach wieder eine Stelle findet, versucht er, sich mit einem Internetgeschäft selbständig zu machen. Er bittet Anne H., ihm seinen Anteil an der gemeinsam gekauften Terrassenwohnung auszuzahlen, zieht seine Ersparnisse bei der Pensionskasse ein. «Er hat getan, was er konnte. Aber das Business lief nicht schnell genug, nicht gut genug», sagt seine Partnerin.
«Er war bitter enttäuscht von einer Gesellschaft, die Menschen ohne Arbeit behandelt, als seien sie weniger wert.»
Partnerin von J. C., Seelsorgerin
Schon einmal hat J. C. irritierende Briefe geschrieben, einen an die Eltern, einen an Anne H. Den an die Eltern schickt er nie ab, der an die Partnerin liegt eines Abends zugeklebt auf ihrem Pult. «Ich habe mir nicht viel dabei gedacht und ihn geöffnet», erzählt sie. Der Brief enthält detaillierte Angaben zu seiner Abdankung und Beerdigung. «Obwohl es gut ist, die letzten Dinge zu regeln, spürte ich, dass er sich nach dem Ende des Kampfes sehnte.» Sie erklärt ihm, wie wichtig er für sie, seine Eltern, seine Tochter sei. Sie versucht ihm auch darzustellen, dass ein Leben ohne bezahlte Arbeit trotzdem sinnvoll sein könne. «Natürlich zerbricht man sich in so einem Moment den Kopf.» Aber hat sie damit gerechnet, J. C. könnte sich das Leben nehmen? «Ich wusste von seiner Verzweiflung. Aber er hatte immer panische Angst, dass seinen Eltern etwas zustossen könnte, dass sie sterben könnten – ich fand immer, das sei in seinem Alter irgendwie seltsam. Gerade deshalb hätte ich es nie für möglich gehalten, dass er seinen Eltern so etwas antun würde.»
Doch Anne H. sagt auch: «Es war nicht immer einfach.» J. C. sei sehr prestigeorientiert gewesen. Er wollte nicht, dass die Nachbarn wussten, dass er keinen Job und kein Auto mehr hatte. «Am Anfang bat er mich sogar, seinen Eltern nicht zu sagen, dass er auf Stellensuche war.» Oft fährt er sie mit ihrem Auto zur Arbeit, um es dann tagsüber zur Verfügung zu haben. Immer wieder gibt es Diskussionen: «Ich habe zum Beispiel nicht recht begriffen, weshalb er darauf bestand, in meiner Abwesenheit auswärts zu Mittag zu essen, während er beim RAV stempelte», sagt sie.
Es ist auch eine Zeit voller Demütigungen. «Zuerst wollte das RAV jeden Monat 15 Bewerbungen von ihm – als ob es so viele Jobs gegeben hätte, die auch nur ansatzweise auf sein Profil gepasst hätten.» Nach seiner Aussteuerung, während er sein eigenes Geschäft aufbauen will, verlangt die Gemeinde dann gar 20 Bewerbungen monatlich. J. C. versucht, sich zu wehren, blitzt aber mit seiner Beschwerde beim Gemeinderat ab.
«20 Bewerbungen jeden Monat, das war reine Schikane. Man wollte einfach, dass er wegzieht.» Heidi Joos vom Verein 50plus, an den sich J. C. in seiner Verzweiflung wandte, weiss, wie schwierig es ist, in diesem Alter einen Job zu finden. Sie hat regelmässig mit J. C. telefoniert. «Mein Eindruck war: Der Mann ist verzweifelt, wünscht sich nichts sehnlicher als einen Job.» Ein Fauler sei er auf keinen Fall gewesen, «die melden sich gar nicht erst. Zu uns kommen Mittel- bis Gutqualifizierte, die unbedingt arbeiten wollen.»
J. C. hatte auch wegen seiner französischen Muttersprache einen schweren Stand: «Als Welscher war sein Deutsch halt nicht perfekt.» Sie ging mit J. C.s Dossier zu einem renommierten Stellenvermittler. Der meinte bloss: «Schlechte Karten. Für solche Jobs holt man heute günstige Junge aus dem benachbarten Ausland.»
«Diese Generation von Männer hat Mühe damit, sich von einer Frau aushalten zu lassen. Sie sind es sich gewohnt, dass der Mann das Geld heimbringt.»
Partnerin von J. C.
Die Beschwerde gegen die Auflage von 20 monatlichen Bewerbungen hat der Verein 50plus für J. C. formuliert. «Die Gemeinde hätte einfach auf ihren eigenen Sozialdienst hören sollen. Der fand, zehn Dossiers wären realistisch», sagt Heidi Joos. Der Kanton gab dem Antrag nicht statt und stellte J. C. Verfahrenskosten von 500 Franken in Rechnung. «Das ist eine krude Eigenheit des Kantons Aargau», sagt Joos. «Dass man bei einer erstinstanzlichen Einsprache gegen ein Amt damit rechnen muss, 500 Franken Busse aufgebrummt zu bekommen, halte ich für eine reine Abschreckungsmassnahme.»
Der Verein 50plus wollte aufrütteln, auf das Schicksal von J. C. aufmerksam machen. «Wir möchten nicht, dass der Tod diese Geschichte zu Ende erzählt», liess Heidi Joos vor zwei Jahren auf einen Flyer drucken. Der Flyer wurde nie verteilt, J. C. war dagegen. Im Büro des Vereins liegt immer noch ein Stapel. Das ruft Gänsehaut hervor.
«Es war klar, dass er suizidgefährdet war. Er war einmal in Königsfelden in der Psychiatrie. Von dort kam er mit der Diagnose. Wir haben sie in der Einsprache an den Kanton ausdrücklich erwähnt. Auch zu mir sagte er mehrmals, es komme der Tag, an dem ich seine Geschichte im ‹Blick› lesen würde. Ich denke, dass er den Suizid lange geplant hat.»
«Ich kenne viele solch tragische Geschichten», sagt Joos. Jeden Tag eine Handvoll Leute, die nicht mehr weiterwissen, deren Ehe bröckelt, weil der Mann keine Arbeit mehr findet. In der Schweiz gebe es theoretisch 420'000 Personen zwischen 55 und 65, die nicht mehr im Arbeitsprozess sind, aber arbeiten könnten – «ganz abgesehen davon, dass es heute schon mit 45 schwierig wird».
«Bundesrat Schneider-Ammann hat zwar gesagt, man sollte mindestens 20 Prozent dieser 420'000 integrieren. Doch konkrete Massnahmen gibt es kaum. Es wird viel geredet, aber nichts getan», sagt Heidi Joos.
Anne H. hat J. C. nach Kräften unterstützt, hätte das auch weiter getan. «Aber diese Generation Männer hat Mühe damit, sich von einer Frau aushalten zu lassen. Sie sind es gewohnt, dass der Mann das Geld heimbringt. Ich habe Verständnis für eine solche Haltung. Und ich kann mir vorstellen, dass das für einen Mann schwieriger ist als für eine Frau.»
Immer wieder macht sie ihrem Partner Vorschläge für ehrenamtliche Tätigkeiten, vermittelt ihm Einsätze. «Ich dachte, es helfe ihm, wenn er eine sinnvolle Beschäftigung hat.» Er macht zwar mit, bricht die Engagements aber immer schnell ab.
Als J. C. an einem sonnigen Vormittag einen Ausflug nach Luzern ankündigt, denkt sich Anne H. nicht viel. Er sei am Mittag wohl nicht zurück, sagt er. Das macht sie ein wenig stutzig. Aber erst als einige Stunden später Polizisten an der Tür klingeln und sagen, sie wollten sich erst mal setzen, ahnt sie, was geschehen ist. Sie muss mitgehen, ihn identifizieren. «Er sah ruhig aus, irgendwie friedlich.»
Sie hofft, ihn wiederzusehen. «Ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Nur wie das sein wird, weiss ich nicht.» Was würde sie zu ihm sagen? «Das Gleiche, was ich damals zu ihm sagte, als ich ihn auf der Bahre liegen sah: ‹Wie konntest du nur?›»
* Name geändert
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