«Polizei verhindert gewalttätige Nachdemo», «Krawallanten ausgebremst», so lauteten die Schlagzeilen vom 1. Mai 2011 in Zürich. Die Realität sah wohl etwas anders aus, wie jetzt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR zeigt.

542 Personen wurden an jenem Tag auf dem Zürcher Kasernenareal eingekesselt, festgenommen und kontrolliert. Möglich gemacht hat das ein riesiges Polizeiaufgebot, bestehend aus der Zürcher Stadtpolizei und Kantonspolizei. Die Eingekesselten wurden über eine sogenannte Haftstrasse abgeführt und zur sicherheitspolizeilichen Überprüfung auf die Polizeiwache gebracht.

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Unter ihnen die zwei Beschwerdeführer, die mit ihrer Klage gegen die Polizei bis vor den EGMR gingen. Noch im Kessel auf dem Kanzleiareal zeigten sie ihre Führerausweise zur Identifikation. Dennoch wurden sie auf die Polizeiwache mitgenommen und mehrere Stunden festgehalten.

Der Freiheitsentzug wurde im Voraus angekündigt

Zwei Tage vor der Demonstration warnte der Sprecher der Kantonspolizei, Marco Cortesi, dass sämtliche Gaffer auf die Polizeiwache gebracht würden, sollten sie sich nicht von der Demonstration fernhalten – selbst wenn es eine gewisse Zeit dauere, bis alle wieder auf freiem Fuss sein würden.

Laut Viktor Györffy, Anwalt der beiden Beschwerdeführer, ist klar: «Das war ein angekündigter Freiheitsentzug, für den es keine Rechtfertigung gab.» Darauf deuteten auch die Zusammenarbeit von Kantons- und Stadtpolizei sowie die erhöhte Polizeipräsenz im Vergleich zu anderen Jahren hin.

Diese Woche entschied der EGMR: Der Freiheitsentzug war rechtswidrig. Aber nicht nur das: Das Gericht hält fest, es sei nicht auszuschliessen, dass die Festhaltung «einfach nur der Schikane diente». Die Schweiz muss den beiden Beschwerdeführern nun je 1000 Franken Genugtuung sowie Kosten und Auslagen in Höhe von 10’000 Franken zahlen.

Sicherheitsvorsteherin entschuldigt sich

Karin Rykart, Zürcher Sicherheitsvorsteherin, entschuldigt sich im Namen der Stadtpolizei für das damalige Vorgehen. Es sei falsch gewesen, so viele Personen so lange festzuhalten. Das habe man schon damals gewusst.

Die Frage ist nun, was dieses Urteil für zukünftige Polizeieinsätze mit Kessel und Festnahmen bedeutet. Für Anwalt Györffy ist das Urteil wegweisend. «Jetzt muss die Polizei gründlich über die Bücher.» Durch Polizeikessel würden Personen oft über mehrere Stunden festgehalten. Oft ohne selbst gewalttätig werden zu wollen. Laut Györffy geht das mit dem neuen Urteil nicht mehr.

Der Anwalt betont auch den Schaden, den das Vorgehen der Polizei bereits angerichtet habe. «Zwölf Jahre sind vergangen – und erst jetzt steht fest, dass das eine Menschenrechtsverletzung war.» Das Vorgehen der Polizei hätte einen, wie er es nennt, «chilling effect». Aus Furcht, eingekesselt zu werden, würden Personen Kundgebungen fernbleiben. Dieser Effekt bleibe bestehen, solange die Polizei ihren Kurs nicht offenkundig ändert.

Das Sicherheitsdepartement teilt mit, dass es heute nicht mehr zu Situationen wie 2011 auf dem Kanzleiareal kommen würde. Die Stadtpolizei habe ihre Vorgehensweise vor längerer Zeit angepasst. Kessel kämen aber weiterhin zur Anwendung und würden vom EGMR nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Einkesselungen bleiben ein Problem

Györffy bleibt kritisch: «Präventive Kessel mit vielen Menschen dauern meist lange – das läuft nach diesem Urteil auf einen unzulässigen Freiheitsentzug hinaus.» Ob das Problem also bereits aus der Welt geschafft ist, ist wohl nicht ganz so klar.