Ruth Loetscher, 71, schmerzt seit über 15 Jahren die linke Schulter. Sie hat Arthrose. «Im Winter ist es besonders schmerzhaft», sagt die pensionierte Psychotherapeutin. 

Der Schulter-Facharzt sagte ihr: «Wenn ich dasselbe hätte wie Sie, würde ich ein künstliches Schultergelenk einsetzen lassen.» Eine Physiotherapeutin sagte ihr: «Deine Schulter ist durch aktives Training und Physio wieder sehr beweglich, eine Operation brauchst du nicht.» 

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Operation – ja oder nein?

Zwei Fachpersonen, zwei Meinungen. «Die Abklärungen zeigen, dass meine Sehnen noch erstaunlich gut funktionieren und ich deshalb noch immer sehr beweglich bin», sagt Loetscher.

Doch soll sie sich jetzt operieren lassen oder nicht? Diese Frage will Loetscher an einem Julinachmittag in einem Zürcher Café klären. Sechs pensionierte Ärztinnen und Ärzte geben hier gratis Auskunft, so wie sie das auch in sechs anderen Schweizer Städten regelmässig tun. Café Med nennt sich das Angebot der Akademie Menschenmedizin (siehe Infobox). 

«Als Patientin bin ich bei diesem Entscheid überfordert», sagt Ruth Loetscher. «Ärzte haben häufig keine Zeit für die Patienten und sind überlastet.» Sie brauche eine Zweitmeinung. «Hier konnte ich in aller Ruhe meine offenen Fragen stellen», sagt Loetscher.

«Ich kenne Chirurgen, die sagen: Ich bringe jeden Patienten in eine Operation rein. Auch wenn er diese primär nicht will.»

Basil Caduff, pensionierter Chef-Internist des Spitals Limmattal

Basil Caduff leitet an diesem Nachmittag das Café Med in Zürich. «Ich bin etwas kritisch zur heutigen Medizin eingestellt», sagt der pensionierte Chef-Internist des Spitals Limmattal. «Es gibt viele falsche Anreize. Ich kenne Chirurgen, die sagen: Ich bringe jeden Patienten in eine Operation rein. Auch wenn er diese primär nicht will.»

Das sei im Café Med nicht die Philosophie. «Wir beraten neutral nach ärztlichen Kriterien. Alle Ärztinnen und Ärzte geben den Patienten, die kommen, ihre Meinung.» Es sei kein Zweitgutachten, eher eine Einschätzung.

Annina Hess-Cabalzar, Präsidentin Akademie Menschenmedizin; Operieren oder nicht? Bei solchen Entscheiden helfen pensionierte Ärztinnen und Ärzte im «Café Med» – bei einer Tasse Kaffee.

«Unnötige Behandlungen gehören zu den Grundübeln in der Schweizer Medizin»: Annina Hess-Cabalzar, Präsidentin Akademie Menschenmedizin

Quelle: Goran Basic

Die Patientinnen und Patienten, die in die Beratung kommen, wollten oft wissen, ob eine vorgeschlagene Operation überhaupt notwendig oder adäquat sei, sagt Caduff. Ist das nicht der Fall, spricht man von einer Überbehandlung

Überbehandlung als Folge der Kommerzialisierung

«Ein typisches Beispiel für eine Überbehandlung ist etwa eine Kniespiegelung, die zu früh angesetzt ist», sagt Caduff. Wenn also eine Ärztin sagt, man solle sofort die Spiegelung durchführen, ohne eine eingriffsfreie Genesungsmöglichkeit zu prüfen. «Hier empfehlen wir einem Patienten in der Regel, dass er zuerst die Resultate der Physiotherapie abwarten soll.»

Unnötige Behandlungen zählen für Annina Hess-Cabalzar zu den Grundübeln in der Schweizer Medizin. «Die Überbehandlung ist einer der Gründe, warum wir das Café Med gegründet haben», sagt die Präsidentin der Akademie Menschenmedizin. Sie sei gegen eine kommerzialisierte Medizin. Die zwingende Folge davon sei eine Mengenausweitung. «Denn Markt heisst Wachstum.»

«Zu oft wird ein medizinischer Befund der Nichtbehandlung durch betriebswirtschaftliche Interessen übersteuert.»

Annina Hess-Cabalzar, ehemals in der Spitalleitung des Spitals Affoltern ZH

Das Schweizer Gesundheitssystem sei aber kommerzialisiert, sagt Hess-Cabalzar, die einst selbst in der Spitalleitung des Spitals Affoltern ZH sass. «Wenn kein Eingriff die bessere Behandlung ist, versagt das System.» Dieses belohne Überarztung. «Zu oft wird deshalb ein medizinischer Befund der Nichtbehandlung durch betriebswirtschaftliche Interessen übersteuert.» 

«Wir sehen im Café Med, dass eine medizinische Intervention, die eine Ärztin oder ein Arzt anordnet, nicht immer angemessen und notwendig ist», sagt Hess-Cabalzar. Eine Überbehandlung könne gesundheitlich schaden. «Eine unnötige Operation oder übermässige Medikation können den Körper schädigen.» 

Ziel: Sich selbstbewusst im Gesundheitsmarkt bewegen

Das Café Med solle die Menschen befähigen, ihren Ärztinnen und Ärzten die richtigen Fragen zu stellen. Sie müssten lernen, sich selbstbewusst im Gesundheitsmarkt zu bewegen. «Nicht alles, was ihnen zum Konsum angeboten wird, sollten sie kaufen. Nicht alles, was medizinisch machbar ist, ist sinnvoll und gesund.»

Der Beobachter-Prämienticker

Der Prämienticker schaut Lobbyisten und Profiteuren des Gesundheitswesens auf die Finger, deckt Missstände auf und sammelt Erfahrungen von Patienten, die unnötige Ausgaben vermeiden konnten.

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Der pensionierte Chef-Internist Basil Caduff nimmt die Patientinnen und Patienten in die Pflicht: In vielen Bereichen gebe es falsche ökonomische Anreize. «Es gibt viele Ärzte, die unbedingt viele Abklärungen, Interventionen oder Operationen wollen.»

Dann kommt das Aber: «Es gibt aber auch viele Patienten, die etwa bei einem Schulterunfall unbedingt ein MRI machen wollen – obwohl für sie eine Operation der Schulter ausgeschlossen ist.» Beides führe zu einem Kostenschub, der vermeidbar wäre. «Bei jedem Player im Gesundheitssystem gibt es noch viel Luft nach oben: bei Patienten, Ärzten oder Krankenkassen. Aber niemand hat wirklich ein Interesse, zu sparen. Das ist das Grundproblem.»

Informationen zum Café Med

In den Städten Basel, Bern, Chur, Lugano, Luzern, St. Gallen, Winterthur sowie Zürich finden ein- bis zweimal monatlich Gratisberatungen statt. Im Café Med der Akademie Menschenmedizin sind Ärztinnen und Ärzte aus verschiedenen Fachrichtungen anwesend. Die Beratung ist einmalig kostenlos und gibt es nur live vor Ort. Weitere Informationen findet man hier.

Beobachter-Prämienticker: Was haben Sie als Patientin oder Patient erlebt?