Asylgeld: Die Mär von der Lederjacke
Der Staat sorge besser für die Asyl Suchenden als für viele ärmere Schweizer, lautet eine oft gehörte Stammtischbehauptung. Sie ist so falsch wie das Vorurteil vom Asylbewerber mit der Lederjacke im Mercedes.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Seid steht reglos vor dem Holzregal. Das Angebot ist gross: Turnschuhe, Sandalen, Lederschuhe. Er nimmt die Turnschuhe zur Hand, mustert die Sohlen und zeigt sie der Verkäuferin. «Grösse gut?», fragt diese. Seid nickt hastig. «Grösse gut, ja, Grösse gut.»
An welcher Stelle der junge Mann die Schweizer Grenze überquert hat, weiss er nicht. Dass er hier landete, war nach seiner Schilderung ein Zufall. Der Schlepper habe ihm ganz einfach befohlen auszusteigen. Mit seiner Mutter und den beiden Schwestern hat Seid Anfang August Afghanistan verlassen. Sein Vater, ein Widerstandskämpfer, blieb im Land zurück.
Jeder erhält eine Einkleidungsliste
Die Kleiderzentrale der Caritas befindet sich in Emmen LU. Rund 500 Tonnen Textilien, Schuhe, Spielsachen und Bettwäsche überlässt die Schweizer Bevölkerung jährlich diesem Hilfswerk. Auf einer Fläche von rund 150 Quadratmetern werden hier Secondhandkleider und günstig eingekaufte neue Ware angeboten; einkaufen können sozial Benachteiligte aller Nationen, die über einen Schweizer Sozialdienst oder die kantonalen Vertragspartner der Caritas ans Hilfswerk gelangt sind.
Seid hat wie alle Asyl Suchenden des Zentrums Sonnenhof in Luzern eine Einkleidungsliste erhalten. Bis zum Betrag von 250 Franken kann er ein paar Hosen, ein Hemd, Unterwäsche, Socken und Jacke beziehen, eine Standardeinkleidung. Bis vor kurzem fanden sich hier zahlreiche Grossfamilien aus dem Kosovo ein. Heute sind es wieder vermehrt Einzelpersonen aus allen Teilen der Welt. Die Verständigung funktioniert oft über Gesten, über Blicke.
Asyl Suchende wenden sich selten an den Beobachter, wenn sie Fragen zur Schweiz haben. Umso dringlicher sind die Fragen der Schweizerinnen und Schweizer. Fast täglich erreichen uns bittere Klagen. «Muss man denn Ausländer sein, damit man vom Staat Unterstützung erhält?»
Man muss nicht. Für Ausländer wie für Schweizer gilt nämlich der gleiche Grundsatz: Unterstützung wird gewährt, wenn eine Person ihren Unterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten kann.
Die Lage ist allerdings kompliziert – weil kantonal geregelt. Von einer Bevorzugung der Asyl Suchenden kann aber nicht die Rede sein. Während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts in der Schweiz dürfen Asyl Suchende nicht arbeiten. Bis auf 1000 Franken wird ihr Vermögen konfisziert. In dieser Zeit werden sie notgedrungen fürsorgeabhängig.
Neun Franken sind fürs Essen
Laut Asylgesetz soll Asyl Suchenden nach Möglichkeit mit Sachleistungen – also nicht mit Bargeld – geholfen werden. Der Bund überweist den Kantonen zwar eine Tagespauschale pro Asylbewerber – bis vor kurzem betrug sie noch Fr. 18.48 –; dieser Betrag wird den Asyl Suchenden aber nicht ausgehändigt, sondern für Unterkünfte und alltägliche Ausgaben verwendet. Wie die Beträge im Einzelnen aufgeteilt werden, liegt im Ermessen der kantonalen Behörden.
Eine genaue Abrechnung zuhanden des Bundes wird nicht verlangt, was einzelne Kantone ziemlich eigenwillig auslegen. So transferierten etwa die zuständigen Ämter der Kantone St. Gallen und Schwyz die erhaltenen Bundessubventionen einfach in die Kantonsrechnung.
Nicht zuletzt diese «heimliche» Praxis hat dazu geführt, dass die erwähnte Tagespauschale für die Asyl Suchenden um zwei Franken gekürzt wurde. Seit dem 1. Oktober dieses Jahres beträgt sie nämlich nur noch 16 Franken.
Im üblichen Aufteilungsschlüssel ist vorgesehen, dass davon täglich neun Franken für das Essen benötigt werden. Als Sackgeld müssen drei Franken reichen.
Etwa für Hygieneartikel, Zigaretten und Transportkosten. Ein Franken ist für Kleider und Schuhe gedacht. Mit den restlichen zwei Franken werden die Betriebskosten der Unterkunft bezahlt und je nach Gemeinde verschiedene Leistungen mitfinanziert. So etwa der psychosoziale Dienst, diverse Beschäftigungsprojekte, Transportkosten und die Tagesstruktur für Jugendliche.
Auch im internationalen Vergleich relativiert sich die Unterstützung. Im Schnitt erhalten Flüchtlinge in Deutschland, Dänemark und Österreich bis zu zwanzig Prozent mehr Unterstützungsgeld als hierzulande. Nur im medizinischen Bereich hat die Schweiz die Nase vorn. Laut EJPD sollen sich die Gesundheitskosten im Asylbereich aber «auf das absolute Minimum» beschränken. Anders als in den meisten benachbarten europäischen Ländern werden die Fürsorgeleistungen an Ausländer zudem nicht «abgeschrieben», sondern bei eventuellen späteren Erwerbseinkommen zurückgefordert.
Ein Schweizer, eine Schweizerin, die von unserer Sozialhilfe unterstützt wird, erhält im Monat 1800 Franken, inklusive Mietkosten und Versicherungen. Dies ergab die Armutsstudie des Schweizerischen Nationalfonds. In den meisten Kantonen gelten dieselben Richtlinien.
Die Berechnung für Hilfeleistungen erfolgt individuell. Sie versucht – anders als bei Asylbewerbern –, die persönlichen Lebensbedingungen der Antragsteller zu berücksichtigen. Als Grundbetrag werden pro Monat 1010 Franken ausbezahlt. Diese Summe kann um maximal 250 Franken erhöht werden. Zusätzlich übernimmt der Staat die Grundversicherung der Krankenkasse und die Mietkosten.
Um den Vergleich zu vervollständigen: Eine vierköpfige Familie eines Asylbewerbers wird in der Schweiz mit maximal 1340 Franken pro Monat unterstützt. Eine vierköpfige Schweizer Familie erhält pro Monat höchstens 2375 Franken vom Staat. Die Beträge verstehen sich ohne Kosten für Unterkunft und Versicherungen. Im Schnitt liegen die Sozialhilfeansätze bei Asyl Suchenden 20 Prozent unter den Leistungen für andere Sozialhilfeempfänger.
Schweizer müssen sich melden
Man muss also kein Ausländer sein, um vom Staat Unterstützung zu erhalten, stellt der Direktor der Caritas Schweiz, Jürg Krummenacher, klar. «Schweizerinnen und Schweizer, deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegt, werden mit Sozialhilfeleistungen unterstützt. Als AHV- oder IV-Bezüger haben sie Anrecht auf Ergänzungsleistungen. Wie die nationale Armutsstudie gezeigt hat, nimmt jedoch ein grosser Teil der Landsleute in finanziellen Notlagen diese Unterstützungsleistungen nicht in Anspruch – sei es aufgrund mangelnder Information oder aus psychologischen Gründen.»
Ein wesentlicher Unterschied besteht auch darin, dass die Kantone für die Betreuung und die Unterbringung der Asyl Suchenden einen gesetzlichen Auftrag haben. Schweizer dagegen müssen sich selbst um eine Unterstützung bemühen. Sind Asyl Suchende einmal als Flüchtlinge anerkannt, sind sie den Schweizern gleichgestellt.
Für Seid noch ein weiter Weg. Wo wird er erwachsen werden? Die Frage hat er sich noch nicht gestellt. Er weiss auch nicht, wie viel in diesem Land gerechnet wird, vorab wenn es um Geld geht, und wer was womit vergleicht.
Vielleicht wird er diesen Winter noch in der Schweiz verbringen; dann darf er sich mit Winterkleidern eindecken. Den Gesamtbetrag von 250 Franken werden sie aber nicht übersteigen dürfen.