Er bedauert seine Tat «ausdrücklich» und hat sich bei der Betroffenen entschuldigt. Doch seine Verzweiflung ist geblieben. Am 14. Juni 2002 schnitt sich Abdulahi M. vor dem Schalter des Migrationsamts Zürich mit einem Zigarrenmesser seinen kleinen Finger ab. «Die Tat war für mich der einzige Weg, zu sagen: Seht, ich bin verletzt. Wir Menschen mit dem Ausweis F sind nur Fleisch in diesem Land.»
Seit sieben Jahren lebt Abdulahi M. in der Schweiz. In Somalia hatte er eine Firma geleitet; hier arbeitete er erst ein Jahr lang bei McDonald’s. Dann begann er, sich der Jugendarbeit zu widmen. Das macht der ausgebildete Politologe bis heute. Er stellte einen Treffpunkt auf die Beine, koordinierte verschiedene Integrationskonzepte – ohne freilich selbst auf Integration hoffen zu können.
Denn mit einem Ausländerausweis der Kategorie F hat Abdulahi M. kaum Rechte. Er kann seinen Wohnort nicht selber bestimmen; als Arbeitskraft kommt er erst zum Zug, wenn der freie Platz weder durch einen Schweizer noch einen niedergelassenen Ausländer, noch einen Jahresaufenthalter besetzt werden konnte.
Gewiss, alles geht «mit rechten Dingen» zu. Und doch: Die Zürcher Philosophin und Psychoanalytikerin Maja Wicki bezeichnet den F-Status als «ständige Erniedrigung des menschlichen Selbstwerts». Sie sieht darin eine «massive Menschenrechtsverletzung, die im Zusammenhang mit dem Bosnienkrieg auf Druck von rechts aussen geschaffen wurde».
Unter Rassismus versteht das Strafrecht die Verletzung der Würde des Menschen in seiner Eigenschaft «als Angehöriger einer bestimmten Rasse, Ethnie oder Religion» (Artikel 261bis StGB). Bei der Antirassismus-Strafnorm handelt es sich um ein junges Gesetz. Klar ist: Diskriminierende Handlungen sind strafbar, wenn sie in der Öffentlichkeit geschehen. Klagen, die die juristische Prüfung konkreter Details ermöglichen, gab es erst wenige.
Folgenschwere Vorurteile
Doch sind es gerade die Details, die zermürben: der schleichende Rassismus und die alltägliche Feindseligkeit, die ohne viel Aufsehen daherkommen. Vorurteile wirken sich da verheerend aus, wo es um Lebensnotwendiges geht – um einen Arbeitsplatz, eine günstige Wohnung oder eine Ausbildung.
Ob Ausländer ihre meist minimalen Rechte wahrnehmen können, hängt oft genug vom Wohlwollen der Eidgenossen ab. So bestehen zwischen Ausländerinnen und Schweizerinnen beim Lohn und bei der beruflichen Stellung unerklärbare Unterschiede. Ausländische, gleichwertige Diplome werden in der Schweiz vielfach ohne Grund nicht anerkannt. Dunkelhäutige werden häufiger polizeilich kontrolliert. Hausbesitzer sagen unverblümt, dass sie keine Ausländer als Mieter wünschen.
Symptomatisch ist der folgende Fall. Moustapha Diop, 45-jährig, stammt aus Senegal, lebt seit 1994 in der Schweiz und spricht sehr gut Deutsch. Im Juni 2000 kaufte er in einem Zürcher Coop Äpfel ein. Auf dem Weg zur Kasse stellte er fest, dass eine Frucht verbeult war. Er tauschte sie gegen eine frische aus – ohne diese zu wiegen. Prompt tauchte der Ladendetektiv auf und bezichtigte ihn des Diebstahls.
Diop weigerte sich, die verlangte Umtriebsentschädigung von 200 Franken zu bezahlen. Die Polizei vernahm ihn, verurteilte ihn zu einer Busse. Diop zahlte nicht, es kam zu zusätzlichen Vernehmungen. Ein Jahr später wurde das Verfahren wegen fehlender Beweise eingestellt. Diop blieb ohne Strafeintrag. Die Deliktsumme belief sich auf 50 Rappen. Die Anwaltskosten zu Lasten Diops: 2500 Franken.
«Die Busse an sich störte mich nicht», sagt Diop. «Aber die negative Qualifikation, die dahinter steht, wollte ich nicht auf mir sitzen lassen. Wäre ich ‹Herr Meier›, wäre das niemals so gelaufen.» Er ist überzeugt, dass die Geschichte auf seine Hautfarbe zurückzuführen ist: «Ich habe gelernt, misstrauisch zu sein in diesem Land. Dabei entspricht dies überhaupt nicht meinem Naturell.»
Nicht die Hautfarbe, sondern der Klang ihres Namens war bei Ljumnie P. der Stein des Anstosses. Bei einer Versandhandelsfirma hatte sie telefonisch einen Haarföhn bestellt. Um Missverständnissen vorzubeugen, erwähnte sie, dass sie zwar einen mazedonischen Namen habe, aber Schweizerin sei. Auf den Föhn wartete sie vergeblich. Nach zwei Wochen erhielt sie die Aufforderung, doch bitte erst eine Kopie ihrer Aufenthaltsbewilligung zu schicken. Auch das zweite Telefon, worin sie betonte, Schweizerin zu sein, überzeugte die Firma VAC nicht. Die Angestellte wiederholte bloss: «Aber Sie haben doch einen mazedonischen Namen!»
Gegenüber dem Beobachter begründet VAC-Direktor Marius Meier die diskriminierende Praxis: «Seit vier Jahren kommt es immer häufiger vor, dass die Rechnungen nicht bezahlt werden, weil die Leute plötzlich ins Ausland wegziehen.» Dass dies auch Schweizerinnen treffen kann, kümmert den Manager nicht. «Wir haben das Recht, diese Informationen einzuholen», erklärt er nur. Sonst seien die 150 Arbeitsplätze seiner Firma gefährdet.
«Im zivilrechtlichen Bereich gibt es in unserem Land noch zu wenig Handhabe», sagt Doris Angst Yilmaz, Leiterin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Die EKR wird oft kontaktiert von Betroffenen, die sich über Diskriminierungen durch Behörden, Arbeitgeber oder Vermieter beklagen.
Die Kommission informiert Private über die Rechtslage und das Beratungsangebot. Als präventive Massnahme rät die EKR Firmen, Leitbilder für ethisches Verhalten und gegen Diskriminierung zu erarbeiten und interne Schlichtungsstellen zu schaffen. «Vermehrt fragen Firmen von sich aus die EKR an, wenn etwa an einem Anschlagbrett rassistische Verunglimpfungen auftauchen», sagt die Expertin.
Willkommene Sündenböcke
Auch Angst erlebt, dass sich Rassismus oft versteckt äussert: «Selten zeigt er sich so offen wie im Fall eines Spitex-Dienstes, der eine dunkelhäutige Frau nicht anstellte, weil man den Patienten diesen Anblick nicht zumuten könne.» Die EKR-Leiterin ist überzeugt, dass «die Bevölkerung in den letzten Jahren in dieser Frage sensibilisierter geworden» ist. Denn: «In Zeiten wirtschaftlicher Härte kommen Ausgrenzung und Diskriminierungen häufiger vor.»
«Das heutige Zusammenleben ist sehr anspruchsvoll geworden», sagt der Zürcher Psychoanalytiker Mario Erdheim. «Eine multikulturelle Gesellschaft bietet sehr viele Möglichkeiten, sich misszuverstehen – für alle Seiten. Darüber hinaus werden an den Fremden Probleme festgemacht, mit denen man selber nicht zu Rande kommt.» Die Fremden kennt man nicht; sie können sich nicht wehren. «Wer andere abwertet, hat oft das Gefühl, im eigenen Wert zu steigen», so Erdheim. Für ihn verschleiert der Fremdenhass die Fremdbestimmung: «Nicht die ‹kleinen Fremden› sind das Problem, sondern die ‹grossen›: fremde Konzerne, die mit ihren Grosseinkäufen immer wieder Massenentlassungen bewirken.»
Die Angst vor dem Fremden bereitet den idealen Nährboden für rassistische Beschimpfungen. «Die Schweizer sind eines der bedrohtesten Völker der Welt», schrieb ein Eidgenosse an die «Gesellschaft für bedrohte Völker», eine internationale Menschenrechtsorganisation, die sich für verfolgte Minderheiten stark macht. Die Zuschrift – Antwort auf eine Spendenaktion – liess an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: «Es gibt hier eindeutig zu viele ausländische Kriminelle, Parasiten sowie afrikanische Huren! Angebliche Asylanten! Welche auf Kosten der Rentner mit Autos herumfahren!»
Die «Gesellschaft für bedrohte Völker» befasst sich eingehend mit dem offenen und versteckten Rassismus. Ihre Mitarbeitenden lesen die Presseerzeugnisse, die der nationalen Rechten zugeordnet werden, sehr genau. Darunter das patriotische Kampfblatt «Schweizerzeit», das Gratismagazin «Pro», den «Grauen Brief» (Mitgliederbulletin der Auns), den «Tacho» (herausgegeben von Michael Dreher, dem Gründer der Autopartei) sowie den «Schweizer Demokraten», die Zeitung der gleichnamigen Partei.
«Ungesunde Schädlinge»
Die Tonlage zur Asyl- und Ausländerpolitik ist in diesen Blättern äusserst schrill. «Die Massenmigration macht die Menschen anfälliger für Invalidität!», schreibt ein Autor. Ausländische Häftlinge werden im «Tacho» als «unsere Gesundheit ruinierende Schädlinge» bezeichnet. Der «Schweizer Demokrat» ist sich sicher: «Jeder Einwanderer erhöht die Abfallberge, bringt mehr Industrie, Handel, Verkehr und Beton. Jeder Neue trägt zur weiteren, unheimlichen Verdrängung der Natur, zum Artenrückgang, zur alarmierenden Reduzierung der wenigen Freiräume bei.»
Der Befund der «Gesellschaft für bedrohte Völker» ist alarmierend. «Seit 1998 ist ein deutlicher Aufwärtstrend in den ausländerfeindlichen Äusserungen sichtbar», heisst es im Schlusswort einer Untersuchung. «Verglichen mit 1997 wurden 1999 und 2000 mehr als doppelt so viele Artikel dieser Art gezählt.»
Im Alltag freilich erfolgt die Diskriminierung von Ausländern eher unauffällig. Veli Türkmen, Mechaniker, seit 1991 im Land, teilte sein Schicksal mit einem Schweizer Kollegen: Beide wurden sie plötzlich von der gleichen Berufskrankheit heimgesucht und mussten die Arbeit in der Metallindustrie aufgeben. Doch hier endete bereits die Gemeinsamkeit. Während der Schweizer sich problemlos via Invalidenversicherung (IV) umschulen lassen konnte, musste Veli Türkmen zwei Jahre warten, bis er Post von den Amtsstellen bekam. «Sie haben ihre Ausbildung nicht in der Schweiz absolviert. Somit besteht kein Anspruch auf eine Umschulung», hiess die knappe Mitteilung der IV.
Der Hintergrund: Türkmen hatte zwar als Mechaniker gearbeitet, war aber bloss als Maschinist angestellt. Sein türkisches Berufsdiplom hatte hier keine Geltung. Dieser Status als Hilfsarbeiter rächte sich doppelt: «Eine Wiedereingliederung setzt keine Umschulung voraus, weil eine Hilfsarbeit ohne Ausbildung aufgenommen werden kann», hiess es im Rahmen des Rekursverfahrens, das die Gewerkschaft GBI für Türkmen angestrengt hat. Seit März ist Veli Türkmen arbeitslos.
Die GBI denkt daran, seinen Fall notfalls durch das Eidgenössische Versicherungsgericht beurteilen zu lassen.
Vorbildliche Stadt Basel
Machtlos ist auch der Tunesier Tahar Mamou: Nach 31 Jahren Schweiz war der 72-Jährige in seine Heimat zurückgekehrt – und hat keine Chance, seine AHV je zu erhalten. Die Schweiz hat bloss mit 31 Staaten ein Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen – und nur in diese Länder werden die AHV-Renten von zurückgekehrten ausländischen Arbeitskräften ausbezahlt. «Auf Gesuch hin» und frühestens ein Jahr nach der definitiven Ausreise aus der Schweiz werden Mamou immerhin die einbezahlten Beiträge – auch jene des Arbeitgebers – rückvergütet. Zinslos. Der Fall ist noch vor der AHV-Rekurskommission hängig. Tahar Mamou hat bis heute keinen Rappen erhalten.
Versuche, diskriminierendes Verhalten bewusst zu machen und zu vermeiden, sind erst an einzelnen Orten erkennbar. Basels Politik gilt in dieser Hinsicht gesamtschweizerisch als vorbildlich. Thomas Kessler ist Delegierter des Kantons Basel für Migrations- und Integrationsfragen der Stadt. Seine Kunden sind Opfer wie Täter: Wer bei der Ombudsstelle oder der Polizei keine befriedigende Lösung findet, kann sich an Kessler wenden.
Zu Kesslers Aufgaben gehört auch die Mediation. So wurde ihm folgender Vorfall gemeldet: Ein albanischer Lehrling hatte den schweren Hammer, den sein Chef absichtlich vier Stockwerke tief fallen liess, als Schikane zurückzubringen. Die Amtsstelle konnte sich vermittelnd einschalten. «Sobald unsere Stelle an einem Arbeitsplatz nachfragt, löst dies eine ungeheure Sensibilisierung aus», sagt Kessler.
Weiteres Beispiel: Im Bus wurde ein Pakistani als «Al-Qaida-Kämpfer» beschimpft. Die Integrationsstelle leistete an dessen Arbeitsplatz, wo viele Pakistanis tätig sind, Aufklärungsarbeit für die Einheimischen.
Gütlich geregelt werden konnte der Streit um eine Sitzbank auf privatem Grund. Sie war regelmässig durch eine türkische Familie «übernutzt» worden. In der Folge demontierten die Besitzer die Bank. Erst nachdem die türkische Familie versprochen hatte, die Bank nicht mehr so oft in Beschlag zu nehmen, wurde diese wieder installiert.
Rund ein Dutzend der jährlich rund 50 Anfragen kann die Basler Integrationsstelle durch Mediation lösen. Ihr Motto gegen den Rassismus klingt einfach: «Im Vorfeld aktiv sein, Prozesse von Anfang an begleiten und steuern.» Durch rassistische Entwicklungen gefährdet sind laut Kessler vor allem dicht bebaute Arbeiterquartiere. Hier leben sozial schwache Schweizer Familien, Methadonbezüger, Gastarbeiter – und das in Bauten, in die die Besitzer schon lange nicht mehr investieren.
Langwieriger Umdenkprozess
Seit Anfang 2000 wird die Aufwertung genau dieser Quartiere vorangetrieben: Die Stadt Basel richtet sich dabei nach den Bedürfnissen junger Mütter, die eine «Wohnung mit sicherem Schulweg suchen, eine Schule mit Perspektive, ein ansprechendes kulturelles Angebot». Gefährdete Quartiere sollen für Investoren attraktiv gemacht werden. Kessler: «Es ist sinnvoll, auf Symptomebene Anlaufstellen anzubieten. Es braucht aber auch die Gestaltung des Gesamtsystems.»
Es bleibt noch eine Menge zu tun, bis in den Köpfen ein offeneres Denken Einzug hält – und Geschichten wie die folgende der Vergangenheit angehören: Hakan Kaya hatte sich bei der Firma Elkalux AG in Oberburg BE beworben. Die Antwort des Unternehmers kam postwendend. «Aus unserer Erfahrung müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir nie mehr türkische Personen anstellen», hiess es da. Das Wort «nie» war fett gedruckt und zweifach unterstrichen. Im Nachtrag die Erklärung: «Türkische Staatsangehörige fühlen sich am wohlsten nur in deren Heimat!»
Hakan Kaya könnte nun gegen den Firmenchef wegen Verletzung der Persönlichkeit klagen. Mit hohem Kostenrisiko und ungewissen Erfolgsaussichten. Sicher ist dagegen: Selbst wenn Kaya vor Gericht siegte – die gewünschte Stelle würde es ihm doch nicht verschaffen. Mitarbeit: Martin Müller