Als ob es sie nicht gäbe
In der Schweiz kommen Kinder zur Welt, die nicht registriert werden. Die Behördenpraxis bei diesen ausländischen Kindern verletzt die Uno-Kinderrechtskonvention.
Veröffentlicht am 11. September 2006 - 08:41 Uhr
Emmanuel kam am 18. April 2006 im Spital Bülach zur Welt. Registriert wurde seine Geburt von den Behörden bis heute nicht. «Das verstösst gegen die Uno-Kinderrechtskonvention», sagt Michael Marugg, Leiter Recht und Politik des Kinderhilfswerks Pro Juventute. «Danach hat jedes Kind ein Recht auf eine Geburtsurkunde. Weltweit.» Doch in der Schweiz haperts mit diesem Grundsatz. «Damit die Geburt korrekt beurkundet werden kann, ist die Identität der Eltern rechtsgenüglich zu belegen», erklärt Mario Massa, Leiter des Eidgenössischen Amts für das Zivilstandswesen (EAZW). Asylsuchende etwa, die ohne oder mit veralteten Papieren eingereist sind, scheitern an dieser Anforderung.
«Uns sind die Hände gebunden»
Offizielle Zahlen, wie viele Neugeborene in der Schweiz keinen Geburtsschein erhalten, gibt es nicht. Nur Spekulationen. Jährlich kommen rund 20’000 ausländische Kinder zur Welt. «Nicht registriert werden davon vielleicht 200», schätzt Marugg. Für Betroffene zieht das einen Rattenschwanz an Problemen nach sich: Kehren sie ohne Geburtsschein in ihre Heimat zurück, bekommen sie zum Beispiel keinen Pass und können nicht eingeschult werden. In der Schweiz erhalten ihre Eltern keine Kinderzulagen und haben steuerliche Nachteile. Denn rechtlich existieren die Kinder nicht.
Wie Emmanuel. Seine Mutter Joëlle Kamo, 26, war vor den Kriegswirren im Kongo geflüchtet. Am 17. April 2006 kam sie mit ihrem zweijährigen Sohn Benedicto hochschwanger in die Schweiz und stellte ein Asylgesuch. Noch in derselben Nacht gebar sie im Spital Bülach Emmanuel. Weil ihr eigener Geburtsschein älter als sechs Monate ist, wird er von den Schweizer Behörden als ungültig erklärt. Das Zivilstandsamt Bülach will Emmanuel deshalb nicht registrieren. Im Kongo neue Papiere bestellen kann Joëlle Kamo nicht: Asylsuchende riskieren den Flüchtlingsstatus zu verlieren, wenn sie während des Verfahrens Kontakt zu Behörden in der Heimat aufnehmen. «Hier beisst sich die Katze in den Schwanz», sagt selbst Bruno Enz, Leiter des Zivilstandsamts Bülach, «aber uns sind die Hände gebunden.»
Andy Hediger, Mitarbeiter der Freiplatzaktion Zürich, einer Rechtsberatungsstelle für Asyl- und Ausländerrechtsfragen, ist anderer Meinung: «Es gibt genug Spielraum, um ein Kind sofort beurkunden zu können.» Und tatsächlich: Gemäss Kreisschreiben des EAZW an die Zivilstandsämter muss eine Geburt innert «zumutbarer Frist» registriert werden. Dabei überwiegt «die gesetzliche Pflicht zur unverzüglichen Beurkundung (…) gegenüber dem Grundsatz, dass die Personendaten lückenlos belegt werden sollen». Doch EAZW-Chef Massa relativiert und betont, dass Ämter und Eltern alles unternommen haben müssten, um rechtsgültige Papiere zu beschaffen, bevor ein Kind registriert werden dürfe. «Wir können nicht ausschliessen, dass die Abklärungen in Einzelfällen zu lange dauern», gibt Massa aber zu.
Pro Juventute macht Druck
Die Krux: Das Gesetz lässt Interpretationsspielraum offen, und jedes Amt entscheidet selbst, welche Papiere es verlangt. Dabei gäbe es die Möglichkeit, Kinder vorläufig zu registrieren. «Eine Abwägung zwischen dem Kindeswohl und dem Abklären der Identität der Eltern spricht klar für diese Lösung», sagt Jürg Schertenleib, Leiter Rechtsdienst der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Tauchen später Dokumente auf, kann der Eintrag im Geburtsregister immer noch korrigiert werden.»
Pro Juventute macht nun den Uno-Kinderrechtsausschuss auf die Missstände in der Schweiz aufmerksam und startet bei den Zivilstandsämtern eine Informationsoffensive. Auch Jürg Schertenleib hofft auf eine Praxisänderung: «Man darf nicht die Kinder dafür büssen lassen, dass die Eltern zu wenig Papiere haben.»