Die Ethikfrage im Flüchtlingsdrama
Sind wir angesichts der Flüchtlingsbilder verpflichtet, grosszügig Asyl zu gewähren? Oder darf ein Staat in seinem eigenen Interesse die Grenzen dichter machen? Ein Essay von Chefredaktor Andres Büchi.
Veröffentlicht am 17. August 2015 - 16:36 Uhr
Der Umgang mit Flüchtlingen zeige «das kalte Herz der Politik», schrieb «Der Spiegel». Aber wer ist die «Politik»? Sicher ist: Hektisches Suchen nach Lösungen, hehre Absichtserklärungen und wohlmeinende Aktionspläne vertuschen, dass die meisten Länder – eingestandenerweise oder nicht – vor allem darum ringen, sich selber möglichst viele Migranten vom Hals zu halten. Während sie gleichzeitig betonen, dass man dem Sterben auf den Fluchtrouten nicht länger zusehen könne und wolle.
EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos forderte zwar schon Mitte Juni: «Jetzt muss Solidarität in praktische Politik umgesetzt werden.» Doch die EU-Länder konnten sich nicht mal auf einen Verteilschlüssel für 60000 Flüchtlinge innert der nächsten zwei Jahre einigen. Im Gegenteil: England zieht am Eurotunnel einen Zaun gegen illegale Migranten hoch. Ungarn plant eine 175-Kilometer-Mauer, die Flüchtlinge fernhalten soll, Frankreich machte kurzfristig die Grenze zu Italien für Migranten dicht, und Österreich stoppte einfach mal die Bearbeitung neuer Asylanträge.
Die aktuelle Migrationswelle hat die einzelnen Länder und Gemeinden überrascht. Viele finden kaum mehr Platz, um die ankommenden Menschen unterzubringen. Selbst in der Schweiz mussten – ein Novum – Zeltlager errichtet werden. Zwar ist der gegenwärtige Zustrom auch im Vergleich mit der Flüchtlingskrise der neunziger Jahre momentan verkraftbar. Aber die Frage stellt sich: Wie soll und kann das in den nächsten Monaten und Jahren weitergehen?
Schnell wird die moralische Grenze gezogen zwischen denen, die «Herz zeigen» wollen wie der grüne Nationalrat Balthasar Glättli, der die legale Einreise für 100000 syrische Kriegsflüchtlinge forderte, und jenen, die eine härtere Gangart verlangen wie aktuell der Luzerner CVP-Sozialdirektor Guido Graf, der Eritreern die Aufnahme in der Schweiz erschweren will.
«Warum sollte man die Glücklichen, die es über unsere Grenze geschafft haben, bevorzugen?»
Michael Walzer, Moralphilosoph
In der Flüchtlings- und Migrationsdebatte geht es natürlich und zuvorderst um Menschlichkeit, um Mitgefühl, um den Wunsch nach einer besseren, einer gerechteren Welt. Aber es geht auch um Ängste. Ängste der angestammten Bevölkerung um ihre eigene Zukunft, um die Tragbarkeit der finanziellen und sozialen Aufgaben. Entsprechend emotional wird die Diskussion in der Politik, in den Medien und in Leserforen geführt.
Ist, wer heute möglichst viele retten will und offene Grenzen fordert, ein besserer Mensch – oder bloss ein verträumter Idealist? Und ist, wer härtere Grenzen zieht, kaltherzig gegenüber dem Elend oder bloss ein nüchterner Realist, der eine bestehende Gesellschaft vor härteren Verteilkämpfen und inneren Zerreissproben schützen will?
Der amerikanische Moralphilosoph Michael Walzer hat das Thema schon vor über 30 Jahren in seinem vielbeachteten Werk «Sphären der Gerechtigkeit» ausgelotet. Er fragte: «Wem gewähren wir Aufnahme?» und «Welche Bedeutung müssen Grenzen für eine Gesellschaft im Sinne der Gerechtigkeit erfüllen?».
Walzer postuliert, dass nur einzelne, irgendwie zusammengehörende Gemeinschaften in ihren Einflussgebieten wenigstens ein gewisses Mass an Gerechtigkeit herstellen könnten. Wie genau dies zu geschehen hat, müsse jede Gemeinschaft nach ihren Wertmassstäben, Möglichkeiten und Kräften selber festlegen. Damit das aber funktioniere, ist laut Walzer eine Abgrenzung nach aussen zwingend nötig: «Die Besonderheit von Kulturen und Gruppen hängt an ihrer Abgeschlossenheit.»
Mit diesem pragmatischen Ansatz stellt Walzer in Rechnung, dass die meisten Staaten und Menschen daran glauben, dass die Besonderheit einer Kultur, die gemeinsame Identität einer Bevölkerungsgruppe, so etwas wie einen eigenen Wert darstellt. Aus dieser Überzeugung heraus erachtet gerade der Westen fremde Kulturen zu Recht als schützenswert, zumindest aber als Werte, die – sofern sie den Zielen der Menschenrechte nicht zuwiderlaufen – möglichst respektiert werden müssen.
Aber auch nach innen leiten westliche Staaten aus ihren gemeinsamen Überzeugungen und Wertvorstellungen heraus die Pflichten und Rechte für ihre Einwohner und Bürger ab. Sie schaffen dadurch eine Art gemeinsame Identität innerhalb ihrer Grenzen, wie das der US-Politologe Samuel Huntington in seinem Buch «Who we are» dargelegt hat. Dieser grösste gemeinsame Nenner bietet den Einwohnern eines Staates ein Stück Heimat, in der gewisse Überzeugungen und Werthaltungen als mehrheitlich akzeptiert gelten. Je näher diese zusammenliegen, desto eher ist man bereit, Verantwortung über den eigenen familiären Bereich hinaus zu übernehmen für die Gemeinschaft – oder eben für den Staat.
Weil das aber so ist, weil die Wirtschaft zwar global agiert und die Gesetze des Marktes dominieren, die Menschen aber nach wie vor durch ihren individuellen und kulturellen Hintergrund geprägt sind, «muss es», so erkannte Walzer, «irgendwo eine Begrenzung geben, so dass ein geschlossener Raum entsteht». Denn die Menschen sind, wie der Moralphilosoph schon 1983 festhielt, «äusserst mobile Wesen». Sie werden stets versuchen, eine bessere Gegend zu finden, und sind bereit, dafür fast jeden Preis zu zahlen, so dass wohlhabende und freie Länder von Bewerbern «geradezu bestürmt» werden.
Zwar habe jeder Mensch «das absolute moralische Recht», seinen Wohnort zu wechseln, wenn ein anderer Lebensort bessere Bedingungen verspricht. Allerdings, argumentiert Walzer, folge aus der Tatsache, dass Individuen ihr eigenes Land rechtmässig verlassen können, «keineswegs das Recht auf Einwanderung in ein anderes Land».
Die Flüchtlingspolitik ist damit gefangen in einem fast unlösbaren Spannungsfeld, einer Asymmetrie: Weil weltweit die Zahl der Migranten und Flüchtlinge steigt und die Aufnahmebereitschaft in den westlichen Ländern eher sinkt, geht die Rechnung je länger, desto weniger auf.
Aus der Perspektive der moralischen Gerechtigkeit sind also Kriterien gesucht, die eine möglichst faire Lösung erlauben, die einerseits den schutzbedürftigen Flüchtlingen dient, anderseits aber auch die Interessen und identitätsstiftenden Wertvorstellungen der einzelnen Gemeinschaften und Staaten vor einer zu grossen illegalen Migration aus wirtschaftlichen Gründen schützt.
Aus Sicht der Gerechtigkeitstheorien gibt es für Walzer keine leichten Antworten. Hingegen ist für ihn klar, wer über Aufnahme und Auswahl der Gesuchsteller zu bestimmen hat: «Wir, die wir bereits Mitglieder (der Zielländer) sind, nehmen die Auswahl vor, und zwar gemäss unserem Verständnis davon, was Mitgliedschaft in unserer Gemeinschaft bedeutet und welche Art von Gemeinschaft wir zu haben wünschen.» Nicht zuletzt, weil nur so die Entwicklung eines Staates nachhaltig gelenkt werden könne. Denn «wo Steuergelder zu Wohlfahrtszwecken erhoben und am Ort ausgegeben werden (…), werden die Ortsansässigen bestrebt sein, Neuankömmlinge, die aller Wahrscheinlichkeit nach Wohlfahrtsempfänger sein werden, fernzuhalten».
Damit wird nicht der Grundsatz in Frage gestellt, dass Flüchtlingen, die etwa aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt werden, geholfen werden muss. Die Verweigerung eines berechtigten Asylanspruchs lehnt der Gerechtigkeit suchende Walzer klar ab: Die Nichtgewährung von Asyl für Flüchtlinge wäre für ihn eine «Gewaltanwendung gegen hilflose und verzweifelte Menschen».
Wenn aber die Migrationsströme von Menschen, die nicht unter den klassischen Flüchtlingsbegriff fallen, stark anschwellen, müssten die Zufluchtsländer auswählen, wen sie aufnehmen wollten. Legitimerweise werde dabei «die jeweils engere Beziehung zu unserer eigenen Lebensweise als Kriterium dominieren», hält Walzer fest. Und weiter: «Wenn anderseits überhaupt keine Beziehung zu den einzelnen Opfern besteht und eher Antipathie als Affinität herrscht, dann gibt es keinen Grund, sie bei der Auswahl anderen, gleichermassen in Not Geratenen gegenüber zu bevorzugen.»
Was heisst das nun für die Flüchtlingspolitik in Europa und in der Schweiz?
- Nur wer im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention «wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit (…) oder seiner politischen Überzeugung» in seinem Leben bedroht ist, hat Anrecht auf Asyl und damit auf Aufnahme.
- Unter allen übrigen Flüchtlingen dürfen die Zielländer selber auswählen, wem sie das Bleiberecht gewähren wollen.
- Die Auswahl darf dabei auch auf die kulturelle und persönliche Nähe zum Fluchtland abstellen.
Die heutige Flüchtlingspolitik berücksichtigt diese moralisch-ethischen Grundsätze zu wenig. Denn in den Auswahlprozess kommen nicht vorab jene Personen, die in ihren Ländern am stärksten gefährdet sind, sondern einfach jene, die schon ihr Zielland erreicht haben.
Viele von ihnen können nach langen Monaten und Jahren des Wartens auf einen rechtsgültigen Entscheid nicht mehr ausgeschafft werden, obwohl sie keine Asylgründe geltend machen können. Warum aber sollte man, fragt Walzer, «die Glücklichen oder Aggressiven, die es irgendwie geschafft haben, unsere Grenzen zu überschreiten, vor all den anderen bevorzugen»?
Walzers ethische Analyse liefert kein Rezept für die Bewältigung der aktuellen Flüchtlingsströme, sie drängt uns aber den Schluss auf, dass der Prozess der Auswahl der Schutzbedürftigen im Sinne der Gerechtigkeit geändert werden sollte und möglichst schon im oder nahe beim Herkunftsland einsetzen müsste.
Die heutige Politik setzt stattdessen auf Kontrollen an Europas Aussengrenzen und auf Seenotrettung vor den Küsten Europas. Das ist eine zynische Politik. Denn durch die humanitären Rettungseinsätze der EU-Mission «Triton» werde, so schreibt «Die Welt» und stützt sich dabei auf ein internes EU-Papier, «das schmutzige Geschäft der Schleuser eher noch befördert». Tatsächlich sind allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres bereits fast 140000 Menschen übers Mittelmeer nach Europa geflohen. Fast 2000 sind dabei ertrunken.
Politische Forderungen, die Fluchtströme aus weit entfernten Ländern möglichst an ihrer Quelle zu unterbinden, erscheinen deshalb als legitim. Mit dem Geld, das die Asylpolitik in Europa verschlingt, könnten Flüchtlingszentren in den Krisenregionen finanziert und betrieben werden. Dort könnten auch die Asylanträge der Fluchtwilligen geprüft werden. Auch das Botschaftsasyl, das die Schweiz 2013 abschaffte, könnte helfen, das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer zu entschärfen. Allerdings nur, wenn alle EU-Länder auch mitziehen.
Natürlich ist es politisch schwierig, dieses Ziel zu erreichen. Und es wird sich nicht von heute auf morgen realisieren lassen. Aber Europa muss den Druck auf die Krisenländer erhöhen, damit solche Lösungen möglich werden. Schlepperbanden müssen international bekämpft und Fluchtrouten möglichst an der Quelle unterbunden werden. Dazu kann es auch nötig sein, Fluchtboote im Mittelmeer bereits vor der nordafrikanischen Küste abzufangen und die Menschen nicht nach Europa zu fahren, sondern ins Abreiseland zurückzuführen.
Denn solange die EU Bootsflüchtlinge nach Italien rettet und deren Flucht damit quasi zum Erfolg macht, bevor der Asylantrag behandelt ist, steigt der Anreiz für weitere Migranten, ihr Glück zu versuchen. Und das Ziel einer Flüchtlingspolitik, die zuallererst die Bedürftigsten schützt, die nicht so weit flüchten können, rückt in immer weitere Ferne.
Michael Walzer, Moralphilosoph
Michael Walzer, 80, hat 1983 mit «Sphären der Gerechtigkeit» ein Konzept für die möglichst gerechte Verteilung von Gütern in unserer pluralistischen Welt entworfen. Er beschreibt darin verschiedene Sphären, in denen Güter wie Sicherheit, Wohlfahrt, Geld, politische Macht und andere möglichst fair und optimal verteilt werden können. (Bild: APN)
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