Immer mehr Tibeter fliehen in die Schweiz
Jede Woche verbrennt sich in Tibet ein junger Mensch selbst. Unbemerkt von der Öffentlichkeit wächst die Zahl tibetischer Flüchtlinge in der Schweiz stetig.
Veröffentlicht am 18. Dezember 2012 - 08:42 Uhr
Tashi heisst nicht Tashi. Seinen richtigen Namen zu nennen könnte seine Eltern und seine kleine Tochter in Gefahr bringen. Er musste sie in Tibet zurücklassen, als er vor anderthalb Jahren geflohen ist. Wie es ihnen geht, weiss er nicht. Anrufe könnten abgehört, Briefe abgefangen werden.
Tashi ist einer von rund 1200 Tibetern, die in den letzten zwei Jahren in die Schweiz gekommen sind. Seit 2010 hat sich die Zahl der Flüchtlinge aus «China» verdoppelt: 296 waren es 2010, 631 im Jahr darauf, 2012 werden es noch mehr sein. Bemerkt wurden die jungen Frauen und Männer bisher vor allem bei Kirchen und Hilfswerken, die kostenlose Deutschkurse anbieten – sie werden seit Monaten hauptsächlich von tibetischen Flüchtlingen genutzt. Ansonsten fallen die ruhigen, höflichen Leute im schweizerischen Alltag nicht auf. Etwas über sie in Erfahrung zu bringen ist schwierig. Die Sprachlehrer wissen wenig über die Schicksale ihrer Schülerinnen und Schüler, und auch bei den Gemeinschaften der Exil-Tibeter in der Schweiz ist nicht viel zu erfahren. Die Flüchtlinge selber reagieren misstrauisch, wenn man ihnen Fragen stellt.
Nicht so Tashi. Die kurzen, dunkeln Haare stehen ihm wild vom Kopf, die Daunenjacke trägt er bis oben geschlossen. Auch später, in der winzigen Einzimmerwohnung, die der 27-Jährige zusammen mit seiner Frau bewohnt. Das fahle Dezemberlicht bricht durch die Siebziger-Jahre-Vorhänge. Im Hintergrund rauscht die stark befahrene Strasse vor dem Haus. Tashi sitzt mit gekreuzten Beinen auf einer geblümten Schaumstoffmatratze am Boden. Ein kleiner Salontisch, eine Art Sofa aus Kunstleder und ein buddhistischer Altar sind die ganze Möblierung. Tashis Frau Kando steht barfuss in der kleinen Küche und kocht Tee. Auch Kando fürchtet sich davor, ihren richtigen Namen zu nennen.
Nomade und Bauer sei er gewesen, erzählt Tashi zögerlich. Er ermahnt die Übersetzerin, das zu betonen: Nomade und Bauer. Beides. Geboren wurde Tashi in der osttibetischen Region Kham. Seine Familie besass ein paar Yaks. Die Schulzeit verbrachte er zusammen mit seinem Bruder in einer buddhistischen Klosterschule. Mit 18 legte er die Mönchsrobe ab und heiratete. Das Hochzeitsfoto ist eines der wenigen Dinge, die Tashi in die Fremde mitgenommen hat. Das Bild des glücklichen Paars strahlt eine Normalität aus, die so gar nicht passen will zu ihrer Geschichte.
Im Oktober 1950 marschierten 40'000 Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Osttibet ein. Seither ist das grösste Hochland der Erde besetzt. 1959 kam es zu einem ersten Aufstand der tibetischen Bevölkerung. Er wurde blutig niedergeschlagen. Der Dalai Lama floh mit Zehntausenden von Anhängern nach Indien. Die Schweiz zeigte sich solidarisch und nahm mehr als 1000 Flüchtlinge auf.
2008, kurz vor den Olympischen Spielen in Peking, lehnte sich die tibetische Bevölkerung unter den Augen der Welt erneut auf. Auch dieser Aufstand forderte Tote. Laut der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wurde die Region danach weitgehend abgeriegelt. Tibeter können ihr Land kaum mehr verlassen. Handlungen, die von der Regierung als Sympathiebekundungen für den Dalai Lama oder ein unabhängiges Tibet gewertet werden können, führen zur Verhaftung.
«In meinem Land gibt es keine Freiheit», sagt Tashi. Deutlich spürte er das, als seine Frau Kando auf einer Pilgerreise zur Hauptstadt Lhasa verschwand. Obwohl er selber im Ungewissen war, bedrängte ihn die Polizei, Kandos Aufenthaltsort bekanntzugeben, und bedrohte ihn massiv. Es waren die Aussagen der Polizisten, die ihn vermuten liessen, dass Kando sich in Lhasa den Protestierenden angeschlossen hatte.
«Die Situation in den tibetischen Gebieten ist so prekär wie nie zuvor», sagt Pema Lamdark, Präsidentin der tibetischen Frauenorganisation der Schweiz. Die tibetische Kultur und Sprache würden systematisch verdrängt. Friedliche Demonstranten würden verhaftet und gefoltert, und die Flucht ins Ausland sei ohne Hilfe kaum mehr möglich: «Seit China in Nepal Entwicklungshilfe leistet, ist auch Nepal ein unsicheres Land geworden für tibetische Flüchtlinge.»
Im Dezember 2010 berichteten verschiedene Medien über Dokumente, die auf dem Internetportal Wikileaks aufgetaucht waren. Sie stammten aus der US-Botschaft in Indien. Laut Botschaftsmitgliedern bezahle China die Grenzwachen in Nepal dafür, tibetische Flüchtlinge aufzugreifen und nach Tibet zurückzudeportieren. Tashi kam davon. Sein Bruder nicht. Der junge Mönch hatte nach dem Verschwinden seiner Schwägerin ein Büchlein veröffentlicht. Es trug den Titel: «Unser Leben in Unterdrückung». Kurz nachdem es erschienen war, wurde er verhaftet.
Viele junge Tibeter haben die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lage verloren. In den letzten anderthalb Jahren zündeten sich 90 Frauen und Männer selbst an. Anfang November reagierte die Uno-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay. Sie verwies auf Informationen über das Festhalten und das Verschwinden von Tibetern, über die Anwendung «exzessiver Gewalt gegen friedliche Demonstranten» und die «Unterdrückung der kulturellen Rechte der Tibeter». Pillay forderte Peking auf, alle Menschen freizulassen, die wegen der Ausübung dieser Rechte festgehalten würden.
Lobsang Gangshontsang, Präsident der Tibetergemeinschaft in der Schweiz und Liechtenstein, forderte die Schweizer Regierung und Bevölkerung auf, den Kampf für Gerechtigkeit und menschliche Würde zu unterstützen. Bereits im September wandte sich die parlamentarische Gruppe Tibet an den Bundesrat. Didier Burkhalter antwortete: «Auch der Bundesrat ist betroffen von der Situation in den tibetischen Gebieten in China, insbesondere von der wachsenden Anzahl an Opfern von Selbstverbrennungen. Die Schweiz legt besonderen Wert auf die Achtung der Grundfreiheiten in China, einschliesslich der Autonomen Region Tibet. Diese Problematik wird regelmässig mit den chinesischen Behörden diskutiert.»
Die rund 5000 Exil-Tibeter, die hier leben, erwarten mehr. Seit die Schweiz mit China als erstes europäisches Land ein Freihandelsabkommen abschliessen will, fühlten sie sich ohnmächtiger denn je, sagen viele. Regelmässig treffen sie sich im Tibet-Institut im zürcherischen Rikon, um für die Opfer der Selbstverbrennungen zu beten. Die Verzweiflung ist auch hier deutlich spürbar. Viele der Gläubigen weinen.
Tashi weint nicht mehr. Es sei das erste Mal gewesen, dass er die Geschichte seines Bruders erzählen konnte, ohne dass ihm die Tränen gekommen seien, sagt Tashi. Ein halbes Jahr nachdem sein Bruder verhaftet worden war, brachte ihn die Polizei zu Tashi nach Hause. Starr vor Schmerz, schwach. Drei Tage später war er tot. «Hier drin», sagt Tashi und tippt mit dem Finger auf die Brust, die Daunenjacke knistert – «hier drin» sei etwas kaputtgegangen. «Die Polizei holte die Leiche meines Bruders ab, band sie auf die Ladefläche ihres Autos», sagt Tashi. Sie seien damit durchs Dorf gefahren und hätten gesagt, dass jeden, der es wage, Unwahrheiten über die chinesische Regierung zu erzählen, dasselbe Schicksal ereilen werde.
Er habe gespürt, dass er töten könnte, sagt Tashi. Ohne Schmerz. Dafür schämt er sich. Würde er töten, sagten ihm seine Freunde, wäre er nicht besser als die Mörder seines Bruders. Die Kundgebung, die er für seinen Bruder organisiert, wird gewaltsam aufgelöst. Drei seiner Freunde verlieren dabei ihr Leben. Tashis Eltern schicken ihn los. Eine Tante drückt ihm zwei wertvolle Dzi-Steine in die Hand, die er unterwegs verkaufen wird, um den chinesischen Schlepper zu bezahlen.
Die Vertreter der Exil-Tibeter in der Schweiz, Lobsang Gangshontsang, Pema Lamdark und die Präsidentin des Vereins Tibeter Jugend Europa, Tenzin Losinger-Namling, haben keinen direkten Kontakt zu Neuankömmlingen wie Tashi. Gangshontsang sagt, was wohl für alle gilt: Die grosse Zahl von neuen Flüchtlingen sei für sie, die hier bestens integriert seien, eine grosse Herausforderung. «Diese jungen Leute werden unter Umständen jahrelang hier sein, ohne Beschäftigung, ohne zu wissen, wie es mit ihnen weitergeht. Wenn nur einer kriminell würde, hätte das katastrophale Folgen für uns alle.» Man werde versuchen, die Neuen so gut wie möglich in die Sektionen der Gemeinschaften zu integrieren und ihnen zu helfen, sagt Gangshontsang, «aber unsere Ressourcen sind begrenzt».
Tashi will sich integrieren. Er besucht täglich Deutschkurse, und er will vor allem eines: arbeiten. Mehrfach fordert er die Dolmetscherin auf, für eine Arbeit zu beten. Er sei stark, sagt er, er mache alles. Monatelang war er unterwegs, über Malaysia nach Dubai, von dort in den Iran und weiter zu Fuss über die Grenze in die Türkei, schliesslich im Gummiboot übers Meer nach Griechenland. Wohin die Reise ging, erfuhr er erst, als er im Auffangzentrum Kreuzlingen angekommen war. Der Chinese, sein Schlepper, sagte nichts. Und Tashi stellte keine Fragen. Nicht einmal der Beamtin im Auffangzentrum erzählte er alles. Erst nach ein paar Tagen rief er seinen Onkel in Nepal an. Der sagte ihm, er sei jetzt in Sicherheit und dürfe den Menschen trauen. «Zum ersten Mal», sagt Tashi, «habe ich keine Angst um mein Leben gehabt.»
Dann erzählt er seiner Betreuungsperson von seiner Frau Kando. Sie erkennt die Geschichte wieder: Sie hat sie bereits einmal gehört – von Kando selber. Die Eheleute, die in der Heimat auseinandergerissen wurden, waren unabhängig voneinander in die Schweiz geflohen. Tashis Onkel hatte ihm eine Telefonnummer gegeben, aber Kando nahm nie ab, wenn er anrief. Bis ihm die Betreuerin in Kreuzlingen erklärte, er müsse die Vorwahl voranstellen. Ein grosses Glück sei das alles, sagt Tashi, auch wenn er und seine Frau ihre Tochter jeden Tag vermissten.
Wie Kando in die Schweiz gekommen ist, will sie nicht erzählen. Es sei genug gesagt, sagt sie. Und: Sie müsse ihre Brüder schützen, die im Gefängnis seien.
Seit etwas mehr als einem Jahr leben Tashi und Kando in ihrer winzigen Wohnung. Als Angehörige der tibetischen Ethnie geniessen sie in der Schweiz vorläufige Aufnahme. Wie es mit ihnen weitergeht, werden sie frühestens in ein paar Monaten erfahren, vielleicht auch erst nach Jahren.
Es ergeht Tashi und Kando wie vielen anderen Menschen, die in den letzten Monaten aus Tibet, Nepal oder Indien in die Schweiz gekommen sind. Wie ihr weiteres Schicksal aussieht, wird sich erst nach der Befragung durch die Behörden zeigen.
Laut Jürg Walpen vom Bundesamt für Migration prüft man jeden Fall individuell. Bei Flüchtlingen, die sich vor der Einreise in die Schweiz längere Zeit in einem Nachbarstaat aufgehalten und dort über einen gefestigten Aufenthalt verfügt haben, wird geprüft, ob sie dorthin zurückkehren können. Tibeter, die über gültige Aufenthaltspapiere aus Indien oder Nepal verfügen, werden in der Regel zurückgeschickt.
Bis es so weit ist, besuchen sie alle zusammen kostenlose Deutschkurse und beten für ihre Angehörigen, die in einem Land leben, in dem sich wöchentlich Gleichaltrige selber verbrennen.
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