Anfang Jahr wurde der Fall von zwei Jugendlichen aus Winterthur publik, die sich offensichtlich den Kämpfern des Islamischen Staates (IS) angeschlossen haben. Ihre Spur verlor sich an der syrischen Grenze. Sie sind zwei von 65 Dschihadreisenden, die der Schweizer Nachrichtendienst bislang registriert hat. Übt der Dschihad wirklich eine so grosse Anziehungskraft auf junge Leute aus? Und was hat der Dschihad mit Religion zu tun? Drei Musliminnen und zwei Muslime aus der Schweiz berichten über ihre Erfahrungen mit radikalem Gedankengut.

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Beobachter: Der Islam steht in den Medien seit längerer Zeit im Fokus. Was löst diese Berichterstattung in euch aus?
Salwan: Ich erlebe die Berichte bis auf ein paar einzelne Ausnahmen als sehr einseitig. Immer geht es darum, dass der Westen bedroht ist von ein paar Idioten, die sich angeblich der Religion verschrieben haben.
Hatidza: Durch die Angstmacherei sind die Leute oft verschlossener. Die aktuelle Situation hat aber auch eine positive Wirkung: Es kommen mehr Leute auf mich zu. Einmal fragte mich eine ältere Frau: «Wie fühlst du dich heute?» Einfach so. Ich habe die Frage zuerst gar nicht verstanden, dann entstand daraus aber ein Gespräch, und sie sagte, sie finde es traurig, wie gegenwärtig über Muslime berichtet wird, so einseitig.
Fatima: In der Schule riefen meine Mitschüler nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» immer wieder «Allahu akbar», weil die Attentäter das gerufen hatten. Sie sagten das zum Spass, aber für mich war es verletzend.

Beobachter: Wie hast du darauf reagiert?
Fatima: Ich kann nichts dazu sagen, ausser, dass man damit keinen Spass machen soll.
Hatidza: Ich finde es wichtig, dass man sich von solchen Reaktionen nicht herunterziehen lässt. Es ist wichtig, dass man zu sich steht, dann kann man auch viel wegstecken.
Salwan: Muslime im Westen müssen sich immer wieder distanzieren, indem sie sagen: «Ich bin Moslem, aber ich bin kein Terrorist.» Eigentlich sollte es heissen: «Ich bin Moslem, und deshalb bin ich kein Terrorist.» Muss ein Typ, der im FC-Zürich-T-Shirt herumläuft, sich von Hooligans distanzieren?

«Die Stimmung gegenüber Muslimen empfinde ich als Hetze.»

Harbin

Beobachter: Hatidza und Samira, wie reagiert das Umfeld auf euer Kopftuch?

Samira: In meiner Ausbildung zur Physiotherapeutin habe ich bis jetzt drei Praktika gemacht. Bei den Patienten bemerke ich zuerst oft eine gewisse Verunsicherung. Sobald ich jedoch zu reden beginne, Grüezi sage, Schweizerdeutsch spreche, bricht das Eis. Einige stellen dann viele Fragen. Wenn diese geklärt sind, spielt das Kopftuch keine Rolle mehr.
Hatidza: Meine Erfahrungen sind auch mehrheitlich positiv. Manchmal sprechen mich Leute spontan an oder machen mir Komplimente. Aber ich habe auch schon heftige Erfahrungen gemacht, wurde angespuckt oder aus einem vorbeifahrenden Auto mit Flüssigkeit beworfen. Wieso kommen die Leute nicht einfach auf mich zu und fragen, weshalb ich ein Kopftuch trage? Ich bin auch ein Mensch, ob ich nun ein Stück Stoff auf dem Kopf trage oder nicht.

Beobachter: Was lösen Demos wie diejenige der islamkritischen Bewegung Pegida in Deutschland in euch aus?
Harbin: Ich empfinde das fast wie eine Hetze, wie sie während des Zweiten Weltkriegs gegen Juden stattgefunden hat. In meiner Klasse gibt es viele Diskussionen über die aktuelle Berichterstattung, vor allem darüber, dass alle Muslime in einen Topf geworfen werden. Aber wenn ich das Gespräch suche, merke ich, dass es meist die «20 Minuten»-Leser sind, die Vorurteile haben. Mit einem Gespräch kann man viele dieser Vorurteile aus dem Weg räumen.

Beobachter: Nervt es euch manchmal, dass ihr immer wieder angesprochen werdet und euch für etwas distanzieren müsst, womit ihr nichts zu tun habt?
Salwan: Mich nervt es, wenn jemand kommt und sagt: «Hey, ich möchte dich etwas fragen, aber werde bitte nicht wütend.» Wieso sollte ich wütend werden? Wenn ich von meinem Glauben überzeugt bin, darf ich mich durch Fragen nicht verunsichern lassen. Das Problem ist ambivalent: Einerseits lassen sich die Leute schnell durch Angstmacherei manipulieren. Anderseits sehe ich die Empfindlichkeit bei den Moslems selber, etwa bei den Mohammed-Karikaturen. Die finde ich selber auch nicht lustig, auch wenn die unter Meinungsfreiheit laufen.
Samira: Tun sie nicht.
Salwan: Doch, theoretisch schon.
Samira: Es gibt einen Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Provokation.
Fatima: Für mich persönlich ist unser Prophet etwas ganz Wertvolles. Dass man unseren Propheten so schlecht darstellt, macht mich traurig.
Salwan: Satire enthält leider oft Provokation. Satire ist schon aus dem Grund nicht richtig, weil viele Leute auf der Welt gar nichts anderes als den Glauben haben. Arme Leute halten sich an Gott, an moralische Grundsätze, können durch den Glauben Liebe und Hoffnung spüren. Nun kommt von der Wohlstandsseite unbegründete Provokation – das ist absolut nicht nötig!

Harbin, 22, absolviert gegenwärtig die Berufsmittelschule. Als Baby kam er aus Mazedonien in die Schweiz. Er ging schon als Sechsjähriger in die Koranschule. Heute praktiziert er die Religion weniger stark als seine Eltern.

Quelle: Gabi Vogt

«Wir spielen Leuten, die uns provozieren, in die Hände, indem wir gereizt reagieren.»

Salwan

Beobachter: Wie sollten Muslime denn auf eine Provokation reagieren?
Samira: Sicher nicht so, wie reagiert worden ist. Wir sollten das Gespräch suchen, denn ich glaube, sonst gibt es viele Missverständnisse. Nach dem Attentat auf «Charlie Hebdo» verteilten Muslime auf der Strasse weisse Rosen. Wenn sie reagieren, dann bitte so.
Salwan: Muslime müssen sicher nicht aufstehen, aufschreien, irgendwelche Morddrohungen aussprechen. Denn vor dem Schöpfer hafte ich nicht für diese Provokationen. Wenn jemand den Islam kritisieren will, ist das seine künstlerische Freiheit, denn Gott hat dem Menschen die Möglichkeit gegeben, zu sündigen. Damit hat es sich.
Hatidza: Aber weisst du, was ich interessant finde? Die künstlerische Freiheit hört bei den Juden auf. Bei «Charlie Hebdo» wurde ein Karikaturist vor einiger Zeit gekündigt, weil er ein Bild gestaltet hatte, auf dem es um Zinsen und Geschäftemacherei bei den Juden geht. Das lief unter Antisemitismus. Wenn es heisst, Satire darf alles, dann sollten andere Minderheiten davon nicht ausgenommen werden.
Salwan: Das Problem ist: Wir spielen solchen Leuten, die Provokationen betreiben, in die Hände, indem wir uns provozieren lassen.

Hatidza: Trotzdem müssen wir reagieren. Ich habe drei jüngere Geschwister. Was im Moment passiert, geht nicht spurlos an ihnen vorbei. Witze über Muslime haben meinem Bruder das ganze Selbstvertrauen geraubt. Er hat mich gefragt: «Weshalb hassen mich nun alle plötzlich?» Wir schreien auf, weil es uns verletzt. Sobald es Witze über meine Lebenseinstellung oder mich selber sind, kann mir das nicht mehr egal sein. Die aktuelle Stimmung verhindert bei den Jugendlichen ein gesundes Verhältnis zu ihrer Religion, weil diese immer negativ dargestellt wird.

Beobachter: Fatima, du bist die Jüngste in der Runde: Was löst die gegenwärtige Stimmung gegenüber Muslimen in dir aus?
Fatima: Es kommt auf die Situation an. Meistens reagiere ich sehr temperamentvoll, beginne zu diskutieren. Kürzlich war ich mit Freundinnen spazieren, und da sagte ein Mann neben uns: «Scheissmuslime.» Dann habe ich mich halt umgedreht und gesagt: «Das dürfen Sie einfach nicht sagen. Fertig. Das verletzt einen.»

Salwan, 22, hat eine Lehre als Anlagen- und Apparatebauer abgeschlossen. Er möchte im August ein Studium in Sozialpädagogik beginnen. Salwan stammt aus dem Irak; seit 12 Jahren lebt er in der Schweiz. Die Religion steht bei ihm nicht immer im Fokus, schätzt sie aber als spirituelle Ebene.

Quelle: Gabi Vogt

Beobachter: Versteht ihr die Ängste der Leute, die die westlichen Werte durch den Islam bedroht sehen?
Salwan: Ich verstehe, dass man sich bedroht fühlt, wenn man einen sehr schmalen Horizont hat. Aber ich verstehe nicht, dass man immer alles auf sich selber bezieht. Am selben Tag, als der Anschlag auf «Charlie Hebdo» passierte, sind im Jemen 37 Menschen getötet worden. Das war kaum ein Thema.
Harbin: Alle hohen Politiker liefen nach «Charlie Hebdo» beim Trauermarsch mit. Was machen sie aber gegen die Probleme in den anderen Ländern?

«Als ich das erste Mal Videos vom IS sah, dachte ich: 'Das kann doch nicht sein!'»

Fatima*

(Name geändert, will auch nicht mit Bild im Beobachter erscheinen)

Beobachter: Ist es nicht einfach so, dass man sich um das sorgt, was einem nahe ist?
Salwan: Was wir hier erleben, ist doch nur das Ende einer langen Kette. Man kann das Problem nur lösen, wenn man es genug früh erkennt. Man sollte sich mehr Gedanken zum Ursprung des Problems machen: Wie kommt es dazu, dass sich jemand auf einem Marktplatz in die Luft sprengt? Das passiert nicht von heute auf morgen. Das macht man erst, wenn man nichts mehr zu verlieren hat.

Beobachter: Wie sollte der Westen darauf reagieren, dass es Leute gibt, die nichts mehr haben und deshalb sich und andere in die Luft sprengen?
Salwan: Das Problem bei den Wurzeln packen. Aufhören mit Drohnenangriffen, Diskriminierung, unbegründeten Kriegen, Bevormundung durch Globalisierung. Das sind für mich Terroristenrekrutierungsprogramme.

Beobachter: Was denkt ihr über die Filme, mit denen der IS junge Leute im Westen zu mobilisieren versucht?
Harbin: Ich schaute solche Filme, weil ich verstehen wollte, wie der IS vorgeht, um Leute zu mobilisieren. Ich habe aber schnell gemerkt, dass diese Filme wenig mit dem Glauben zu tun haben. Sondern dass sie einem Dinge versprechen, zum Beispiel, man komme nach dem Tod ins Paradies.
Fatima: Als ich das erste Mal Videos vom IS gesehen habe, dachte ich: «Krass, das machen sie alles im Namen Gottes? Das kann doch nicht sein.»
Salwan: Ich sehe Parallelen am Vorgehen vom IS und vom Nationalsozialismus. Beide verbreiten eine faschistische Idee: Wir sind richtig – ihr seid falsch. Das Ziel wird auf eine höhere Ebene gelegt. Sie vermitteln den Leuten das Gefühl, dass man etwas Besonderes ist. Leute, die in der Pubertät sind oder Existenzprobleme haben, lassen sich schnell von diesen Versprechen einnehmen.
Harbin: Ich kenne selbst zwei junge Leute, die spurlos verschwunden sind. Ihre Eltern dachten, dass sie wohl in gewissen Moscheen rekrutiert worden sind. Wie genau die Radikalisierung dieser zwei abgelaufen ist, weiss ich jedoch auch nicht.
Hatidza: Ich bin der Meinung, dass vieles über Facebook läuft. Über Chats wird den jungen Menschen versprochen, dass es ihnen anderswo besser geht.

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«Das Geschehene brachte mich der Religion näher. Ich weiss nun: Für mich ist der Islam richtig.»

Hatidza

«Ich glaube nicht, dass man radikal wird, wenn man sich wirklich mit dem Koran befasst.»

Samira

Beobachter: Erkennt man, wenn einer radikal wurde?
Salwan: Bei dem verschwundenen Jungen, den du angesprochen hast, Harbin, habe ich mir schon länger Gedanken gemacht. Ich habe gehört, dass er seit längerer Zeit bis um Mitternacht mit irgendwelchen komischen Leuten unterwegs war. Er habe die Hausaufgaben nicht gemacht, man konnte nicht mehr mit ihm diskutieren. Das sind Anzeichen, dass etwas in die falsche Richtung läuft.

Beobachter: Mehrere eurer Alters- und Glaubensgenossen sind für den IS nach Syrien in den Krieg gezogen. Was denkt ihr darüber?
Samira: Es macht mich traurig. Es ist schade, dass diese Leute den Islam nicht so kennengelernt haben, wie er ist. Schade ist auch, dass andere den Islam missbrauchen und Suren aus dem Koran herauspicken und diese nicht in den Kontext stellen. Diese Leute sprechen nur vom Dschihad, Dschihad, Dschihad. Doch Gott hat uns nicht nur einzelne Wörter gesandt.
Salwan: Genau. Teilweise hinterfragen Muslime gewisse Angaben einfach nicht. In der Surah Al-Baqarah steht: «Tötet sie, wo immer ihr sie findet.» Aber in den darauffolgenden Sätzen steht: «Vertreibt sie, von wo auch sie vertrieben haben. Aber wenn sie aufhören, solltet ihr auch aufhören.»
Hatidza:
Das Wort Dschihad bedeutet schon Krieg, aber nicht in diesem Sinn, wie er vom IS verwendet wird. Dschihad bedeutet ein mentaler Kampf mit sich selber, um ein besserer Mensch zu werden. Das Problem ist: Mehr als die Hälfte der Muslime wissen das gar nicht, weil sie sich zu wenig mit der Religion befassen. Sie sehen sich als Muslime, weil sie kein Schweinefleisch essen. Damit hat es sich. Ich verurteile das nicht, aber bitte spielt nicht mit solchen Wörtern.

Samira: Je tiefer man sich in Religion vertieft, desto mehr kommt Wahrheit ans Licht, desto mehr findet man den eigenen Frieden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich radikalisiert, wenn man sich wirklich mit der Religion auseinandersetzt.

Beobachter: Wie wirken sich die Entwicklungen rund um den IS auf euren persönlichen Glauben aus?
Hatidza: Die aktuellen Ereignisse haben mich näher an die Religion gebracht. Ich bin noch fester überzeugt, dass der Islam für mich der richtige Weg ist.
Samira: Ich bin deiner Meinung. In den letzten Monaten habe ich mich viel mehr mit Religion befasst als früher. Ich wollte Argumente finden, um zu beweisen, dass die Kämpfe des IS nicht zu meiner Religion passen.

Hatidza, 19, entschied sich nach einem Lehrabbruch für die Matura. Sie wurde in der Schweiz geboren, ihre Eltern stammen aus Montenegro. Hatidza mag den Islam wegen seiner Brüderlichkeit, dem Gemeinschaftsgefühl und weil er einen ermuntert, an sich zu arbeiten.

Quelle: Gabi Vogt

Beobachter: Welche Rolle spielen die Moscheen bei der Radikalisierung?
Hatidza: Ich bin selber oft in türkischen Moscheen. Die Leute dort geniessen es, im Gotteshaus zu sein, den Koran zu lesen, andere Glaubensgeschwister zu treffen, sich auszutauschen. Was ist daran falsch?
Salwan: Die Moschee wird immer als Plattform für die Radikalisierung genannt. Das ist falsch. Klar kann man nicht verhindern, dass einige Leute in der hintersten Ecke gewisse ungute Sachen besprechen. Aber wenn Pfarrer Missbrauch mit Minderjährigen betreiben, heisst das auch nicht, dass das Gotteshaus der Christen, die Kirche, dafür verantwortlich ist.

Beobachter: Was ist falsch gelaufen bei jenen Leuten, die in den Krieg ziehen?
Salwan: Die hatten wohl eine falsche Bildung.
Harbin: Oder gar keine.
Fatima: Oder sie haben eine schwache Persönlichkeit. Ich habe auch solche Videos angeschaut, fühlte mich von ihnen aber nicht angezogen. Sie machten mir selbst Angst. Ich fragte meine Lehrerin, weshalb andere Jugendliche das gut finden. Sie sagte: «Jugendliche ziehen in den Krieg, um sich krass zu finden, um sagen zu können: ‹Ich bringe Leute um.›» Wenn sie dann aber in Syrien sind und Tote sehen, sind sie vermutlich selbst geschockt.

Hatidza: Leute, die klare Ziele im Leben haben, beschäftigen sich gar nicht mit solchen Gedanken. Es sind Leute, die orientierungslos sind.
Harbin: Von Mazedonien kenne ich viele Jugendliche in meinem Alter, die in den Krieg gezogen sind. Die haben vielleicht das Gymnasium gemacht, sahen danach aber keine Perspektive. Also gingen sie in den Krieg, weil ihr Bruder mit dem Bart ihnen gesagt hat, dass sie danach belohnt werden.
Salwan: Das jetzige Leben wird so niedrig eingestuft bei diesen Jugendlichen. Es ist alles darauf ausgelegt, was nach dem Tod passiert.
Fatima: Ich verstehe das nicht. Ich möchte die Schule beenden, eine Lehre machen, eine Familie haben. Ich schaue, dass ich möglichst viel Gutes aus meinem Leben mitnehmen kann, dass ich hier auf der Welt als gute Person dastehe.

Samira, 25, ist in der Ausbildung zur Physiotherapeutin. Sie hat ihre Wurzeln in Tunesien und Italien und lebt seit 18 Jahren mit Unterbrüchen in der Schweiz. Samira ist verheiratet. Die Religion bedeutet ihr viel, sie versucht sie im Alltag so gut wie möglich umzusetzen.

Quelle: Gabi Vogt