Multikulti ist, wenn man trotzdem lacht
Mehr als die Hälfte der Einwohner von Kleinbasel sind Ausländer. Ein Kulturmix, der das Leben nicht einfacher macht. Aber spannender.
Veröffentlicht am 2. Mai 2006 - 16:13 Uhr
«Nicht immer problemlos.» Fährimaa Urs Zimmerli beantwortet die Frage, wie sich denn das Zusammenleben von Schweizern und Ausländern im Quartier gestalte, ohne zu zögern. «Die Jungen halt», fügt er hinzu, als die Strömung die Fähre «Vogel Gryff» in die Mitte des Rheins hinauszieht, Richtung Kleinbasel. Viele seien nicht integriert und wollten sich auch nicht integrieren. Einmal hätten einige ausländische Jugendliche auf der Fähre die Füsse auf die Bank gelegt und seien von erwachsenen Fahrgästen ermahnt worden. Ein Wort gab das andere, die Sache drohte zu eskalieren: «Da musste ich für Ordnung sorgen.» Dass Zimmerli dazu in der Lage ist, das traut man dem vierschrötigen Mann mit Händen gross wie Bratpfannen ohne weiteres zu.
Seit 15 Jahren schippert Zimmerli Fahrgäste von Grossbasel nach Kleinbasel, dem schlagzeilenträchtigsten Stadtteil der Stadt am Rheinknie. Hier wohnen gemäss dem kantonalen statistischen Amt auf engem Raum mehr Arbeitslose, mehr Sozialhilfeempfänger, mehr Menschen mit tiefem Bildungsniveau als im basel-städtischen Mittel. Der Ausländeranteil ist mit gut 50 Prozent nirgends höher in der Schweiz. Die Regelmässigkeit, mit der Kleinbasel mit negativen Schlagzeilen eingedeckt wird - trotz Bemühungen der Stadt um städtebauliche Aufwertung -, würde wohl jeden Werber zur Verzweiflung bringen: «Wieder das Messer gezückt», «Kleinbasel leidet unter Schleichverkehr», «Auf offener Strasse erschossen». Einwohner des Nachbarkantons Baselland, aber auch ein Teil der Grossbasler Bevölkerung sollen sich nach Einbruch der Dunkelheit, so geht die Rede, überhaupt nicht nach Kleinbasel trauen.
«In den Lift gepinkelt»
Aus ihrem Kioskhäuschen bei der Kaserne, einem sanierten Kulturhaus für freies Theater und Musik am Rande Kleinbasels, hat Christa Rexhepi das Leben im Quartier gut im Blick. «Von der Schweizer Kundschaft allein könnte ich nicht leben», sagt sie. Noch bis vor kurzem amtete die Kioskfrau auch als Hauswartin einer städtischen Sozialliegenschaft mitten im Quartier. Von 26 Wohnungen waren 22 an Mieter ausländischer Herkunft vergeben. Die Ruhezeiten seien kaum eingehalten worden, die Waschmaschine sei jede Woche kaputt gewesen, und manchmal hätten die Leute in den Lift gepinkelt. Toleranz brauche es halt, wenn man in Kleinbasel wohnen wolle. Und das tut Rexhepi. «Mir gefällts hier, die Leute, die Atmosphäre, die Action: Wenn ich das alles nicht hätte, würde mir etwas fehlen.»
Interkulturelle Verständigung beginnt im Sandkasten: Spielplatz auf dem Kasernenareal
Es sind die ersten, zaghaften Frühlingstemperaturen. Sie haben die Krokusse aus der Erde getrieben und die Leute aus den Wohnungen. Auf dem Kasernenareal sitzt eine Frau mit Kopftuch und Mantel auf einer Bank und strickt. Eine Familie, der Mann im festlichen Veston, hat ihr Essen auf einem Tisch ausgebreitet. Weiter hinten spielt eine Gruppe junger Männer Fussball. Erst wollen sie nicht reden. Der da sei der Boss, der könne Auskunft geben, sagen sie und zeigen auf Ivecan Kamil. Er ist 21, kräftig gebaut und türkischer Herkunft. «Natürlich haben wir auch Schweizer Kollegen», sagt Kamil. Und als ihn einer der Gruppe flapsig auffordert, doch zu erzählen, wie es wirklich sei, wird dieser zurechtgewiesen. «Wenn ein Türke einen Mist macht, werden gleich alle Türken in den gleichen Topf geworfen», sagt Kamils 21-jähriger Kollege Ali Kasarca. Sie aber seien friedliche Leute, die sich mit allen gut verstehen würden. «Ausser mit den Albanern», feixt einer. Die Gruppe lacht. Kamil sagt: «Das ist bloss ein Scherz.»
«Einfach ein wenig lauter als wir»
Um die Jugendlichen im Quartier kümmert sich unter anderem der Verein Mobile Jugendarbeit Basel. Das Konzept: Jugendliche an ihren Treffpunkten aufsuchen und verbindliche Kontakte knüpfen. Leiter Michele Salvatore ist selber Secondo mit süditalienischen Wurzeln, und die Frage nach dem Zusammenleben von Schweizern und Ausländern in Kleinbasel löst bei ihm einen feurigen Redefluss aus, der durch Zwischenfragen zu steuern, aber nicht zu stoppen ist. Natürlich gebe es ein Miteinander im Quartier - bei Fussballturnieren, da seien alle Nationalitäten vertreten, auch an den Quartierfesten oder am Umzug der Kulturen. Nein! Hier könnten schwerlich Parallelgesellschaften entstehen wie in Berlin, viel zu dicht sei das Angebot an Integrationsprojekten. «Das Zusammenleben klappt hier um einiges besser als in anderen Städten.» Kleinbasel liege im Dreiländereck, orientiere sich international, nach dem nahen Deutschland oder Frankreich. «Mir schmeckt ein elsässischer Flammkuchen besser als ein Züri-Geschnetzeltes», so Salvatore.
Züri-Geschnetzeltes und andere währschafte Küche serviert René Torzi in der «Eintracht» an der Klybeckstrasse, einer der beiden Hauptpulsadern des Quartiers. Durchschnittlich 120 Essen gehen hier Tag für Tag über den Tresen. Von einem Balken hängt eine riesige Kuhglocke, auf den Tischen drehen sich bunte Eier im roten Aromat-Plastikkarussell. Die «Eintracht» soll der bestrentierende Betrieb des Viertels sein: «Ich bin zufrieden», sagt Torzi. Der Wirt hat nach eigenem Bekunden wenig Kontakt zu Ausländern. Sein Eindruck: «Man sucht nicht den Kontakt zueinander», Probleme gebe es aber wenig. Eine Zeit lang habe es im Lokal «Lämpe» gegeben mit Ex-Jugoslawen, die lautstark Karten gespielt und dabei andere Gäste gestört hätten. Die Situation habe sich inzwischen aber wieder beruhigt. «Oft ist es ja so, dass man nur meint, sie hätten Streit untereinander, dabei reden sie einfach etwas lauter als wir Schweizer.»
Fast 40 Prozent wollen weg von hier
Auf dem Hof des Bläsi-Schulhauses spielen Medina und Nuran, beide 13, Fussball mit den Buben. Überzeugungsarbeit und etwas sanften Druck brauchte es, bis diese bereit waren, die Mädchen mitspielen zu lassen. Dabei ist Fussball Nurans Lieblingsfreizeitbeschäftigung, und Medina braucht mit ihrer sportlichen Leistungsfähigkeit auch nicht hinterm Berg zu halten - davon zeugt das Emblem einer Taekwondo-Schule auf ihrem Trainer. Seit mehr als fünf Jahren betreibt Medina die asiatische Kampfsportart, auf Rat ihres Lehrers, weil sie am Anfang so still gewesen sei. Inzwischen habe sie es bis zum roten Gürtel gebracht, Medina sagts mit leuchtenden Augen. Ihre Eltern stammen aus Bosnien. Sie selber ist in der Schweiz aufgewachsen und findet die meisten Schweizer nett.
Aber nicht alle. Dass sie Ausländerin sei und doch dahin zurückgehen solle, wo sie herkomme, wurde ihr schon nachgerufen. «Aber wenn diese Menschen in ein anderes Land gehen, sind sie ja auch Ausländer», sagt Medina. Nuran, ihre Eltern kommen aus Kurdistan, hat auch schon Ähnliches zu hören bekommen, von einem Fenster aus nachgeschrien. «Diese Menschen tun uns Unrecht», meint sie und spricht beim Reden das r ganz nach Basler Manier.
Medina und Nuran sind Klassenkameradinnen. Sie besuchen eine siebte Klasse, in der es 24 Schülerinnen und Schüler aus über zehn Nationen gibt. Die beiden zählen auf: «Türken, Albaner, Bosnier, Serben, Iraker, Deutsche, Tamilen.» Auch Schweizer habe es. Zwei.
Wer Kinder hat und es sich leisten kann, zieht oft weg aus Kleinbasel. So das Ergebnis einer Befragung, die Franziska Shenton, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hochschule für soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz, im Matthäus- und im Klybeck-Quartier durchgeführt hat. «Der hohe Ausländeranteil lässt die Eltern an der Qualität der Schule zweifeln. Auch der Umstand, dass Schweizer Kinder nur mehr eine Minderheit unter vielen sind, stört manche Eltern», sagt Shenton. Kinderlose Kleinbasler scheinen ebenfalls ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Quartier zu haben. Die Frage, ob sie gern den Wohnort wechseln würden, bejahten in Kleinbasel bei der letztjährigen kantonalen Bevölkerungsbefragung fast 40 Prozent der Befragten - deutlich mehr als in jedem anderen städtischen Quartier.
Weiter ergab die Befragung: Mit steigenden Ausländerzahlen schwindet der Anteil der Personen, die die Anwesenheit von Menschen aus verschiedensten Ländern als Bereicherung empfinden; in Kleinbasel sind es immerhin noch 65 Prozent.
Zu ihnen gehört Harry Stirnimann, Kleinbasler und Stammgast in der von einem Türken geführten Bar «Sichtbar - Unsichtbar». Das Lokal liegt an der Feldbergstrasse, der zweiten Pulsader des Quartiers. Im Hinterzimmer spielt eine Gruppe Türken Billard. Stirnimann sitzt vorn und scheint vergnügt. Mit am Tisch: der Kosovare Shefqet Nuredini und Roger Oberholzer. «Hier ist es meistens viel lustiger als in den anderen Lokalen, und ich kann mit allen reden», so Stirnimann. Gäste aus allen Schichten habe es hier - von Sozialhilfebezügern bis zu Ärzten. «Eigentlich viel mehr Ärzte», meint sein Kumpel Oberholzer mit einem Lächeln auf den Stockzähnen und nimmt einen Schluck Bier. Stammgast Nuredini mag die dreckige Luft im Quartier, Oberholzer die Aufgeschlossenheit und Kontaktfreudigkeit der Leute: «Bis zum Claraplatz sitzen die Leute im Tram nebeneinander. Dann, wenn es ins Grossbasel geht, versucht wieder jeder, einen Einzelplatz zu kriegen.»
Schlägerei führt zu Schiesserei
«Da vorn, da ist die Schiesserei passiert.» Oberholzer zeigt auf den Platz vor der Bar. «Es war eine Szene wie in Chicago zu Zeiten der Prohibition», schrieb die «Basler Zeitung». Auf der Strasse wurde ein 65-jähriger Türke von Landsleuten erschossen. Eine Fehde zwischen zwei verfeindeten Familien, wie inzwischen bekannt wurde. Der Täter ist in Haft. Roger Oberholzer kann die Aufregung nicht verstehen: «Schiessereien, Messerstechereien oder Vergewaltigungen - das ist in jeder Stadt so.» Die Gewalt hat in den letzten Jahren tatsächlich zugenommen - allerdings auf dem gesamten Stadtgebiet. «Kleinbasel ist nicht gefährlicher als andere Stadtbasler Quartiere», sagt Polizeisprecher Klaus Mannhart.
Verschönerungsprogramm: Die Klybeckstrasse soll durch bauliche Massnahmen aufgewertet werden
Der Todesschütze, ein gut 30-jähriger Mann, war einen Tag vor der Schiesserei von Angehörigen der Opferfamilie spitalreif geschlagen worden. Die Schläger wurden zwar verhaftet, aber umgehend wieder freigelassen. «Das hätte nicht passieren dürfen», sagt Cevahir Yildiz, der zusammen mit seiner Familie an der Klybeckstrasse das Restaurant Ali Baba führt. Sein Vater Ali gilt unter der türkischstämmigen Bevölkerung des Quartiers als Autoritätsperson, die bei Konflikten vermitteln kann. «Wenn ein erwachsener Mann verprügelt wird, ist damit zu rechnen, dass dies Konsequenzen haben wird», meint Yildiz. Hätte man die Schläger in Haft behalten, wäre es nicht zur Schiesserei gekommen, glaubt er.
Mit zwei Jahren ist der 28-jährige Beizer Yildiz in die Schweiz gekommen. Inzwischen ist er Schweizer Bürger und hat vergangenen Herbst auf der Liste BastA! für die Wahlen in die Bürgergemeinde kandidiert. Als Schweizer fühlt er sich trotzdem nicht. «Ich spüre, dass ich als Ausländer wahrgenommen werde.» Yildiz zuckt mit den Schultern. «Hier sind wir fremd, in der Türkei sind wir fremd. Wir gehen nicht zurück, aber unsere Kultur können wir auch nicht vergessen.»
Unten am Fluss steuert Fährimaa Zimmerli um 19 Uhr ein letztes Mal seinen Kahn in den Fluss. Am anderen Ufer angekommen, vertäut er die «Vogel Gryff» für die Nacht und macht sich auf ins Quartier. Am Kasernenplatz hat Christa Rexhepi den Kiosk zugesperrt und genehmigt sich unter Freunden einen Abendtrunk an der Klybeckstrasse. In der «Eintracht» serviert René Torzi die riesigen Cordons bleus, für die sein Lokal bekannt ist. Das Leben geht seinen Gang. Wie überall.