Verbraucht und vergessen
Auf Baustellen und in Fabriken brachten «Gastarbeiter» die Schweizer Wirtschaft in Schwung. Heute fallen viele gesundheitlich angeschlagen bei den Sozialversicherungen zwischen Stuhl und Bank.
Veröffentlicht am 19. Dezember 2013 - 14:32 Uhr
Auf dem Tisch ruhen Hände, die ein Leben lang zugepackt haben, die Finger kurz und kräftig. Fünf Jahre lang haben sie auf Schweizer Baustellen geschuftet, dann die Maschinen bedient in der stolzen Spinnerei Viscosuisse in Emmenbrücke, Schichtarbeit, auch an den Wochenenden, 30 Jahre lang. Die Hände gehören Mario Siciliani. 1973 verliess er als 18-Jähriger seine Heimat und zog nordwärts, auf der Suche nach Verdienst und Zukunft, und jetzt sagt er: «Ich bin heute wieder am selben Punkt wie vor 40 Jahren, als ich Kalabrien verliess und in die Schweiz kam. Mit einem Unterschied: Damals war ich jung und gesund.»
Am selben Punkt wie damals, das heisst: völlig auf sich allein gestellt. Denn Mario Siciliani, 58 Jahre alt, lebt mit seiner Frau vom Ersparten. Er ist einer von Zehntausenden von Einwanderern vor allem aus Italien und Spanien, die während des Wirtschaftsbooms der siebziger Jahre die Schweizer Fabriken in Schwung hielten, Autobahnen bauten und Häuser für die rasant wachsende Bevölkerung hochzogen.
Als sein Herz vor ein paar Jahren nicht mehr mitmachte und ihm drei Bypässe eingesetzt werden mussten, sah sich Siciliani 2011 fallen gelassen wie eine heisse Kartoffel: Zuerst verlor er den Job, dann lehnte die Invalidenversicherung zwei Rentenanträge ab. Von einer Umschulung wollte sie ebenfalls nichts wissen, sie verschaffte ihm gerade mal einen auf einige Monate befristeten Platz in einer Sozialfirma. Nachdem sein Vertrag dort ausgelaufen ist, ist er wieder so weit wie vorher: ohne Job, ohne finanzielle Unterstützung, noch sieben Jahre vom Pensionsalter entfernt. Er könnte einzig Sozialhilfe beantragen, doch er tut es nicht. Der Grund ist eine Mischung aus Stolz und Scham.
Zur Zahl der ehemaligen Einwanderer, die in einer ähnlichen Lage sind, gibt es nur wenig Schätzungen. Die Gewerkschaft Syna geht aber davon aus, dass rund 2000 ihrer Mitglieder zwischen 55 und 65 Jahren ohne Job, ohne Arbeitslosenunterstützung, ohne IV-Rente und ohne Integrationsmassnahmen wie Umschulung oder Weiterbildung dastehen. Betroffen sind vor allem ehemalige Beschäftigte aus dem Gastgewerbe, der Industrie und dem Reinigungswesen.
Einzig die Angestellten der Baubranche stehen besser da: Sie haben seit zehn Jahren die Möglichkeit des flexiblen Altersrücktritts und können sich ab 60 pensionieren lassen, sofern sie eine gewisse Anzahl Jahre auf dem Bau gearbeitet haben.
Eine ganze Generation von Einwanderern scheint aufs Abstellgleis zu geraten, der Fall von Mario Siciliani ist idealtypisch dafür: Nach Jahrzehnten schwerer körperlicher Arbeit treten gesundheitliche Probleme auf, der Job geht verloren. Die IV verweigert daraufhin einerseits eine Rente, lehnt anderseits aber auch eine Umschulung ab – mit Verweis auf ungenügende Deutschkenntnisse oder mangelnde Vorbildung der Betroffenen. Für Syna-Sprecherin Colette Kalt ist das inakzeptabel. «Ohne diese Menschen wäre der heutige Wohlstand unseres Landes undenkbar», sagt sie. «Es ist absolut unwürdig, dass die Schweiz sie fallen lässt, sobald sie aus gesundheitlichen Gründen ihre Leistungen als Arbeitskraft nicht mehr erbringen können.»
Fallen gelassen und herumgeschoben, so fühlen sich viele der Menschen, die einst dem Ruf der Schweiz nach Arbeitskräften gefolgt sind. Wie Veronica Mazzotta. Die bald 64-jährige Italienerin gehörte seit 1981 zur Reinigungsequipe des Kantonsspitals Luzern, Arbeitsbeginn sechs Uhr morgens, mehr als 20 Jahre lang. 2002 stellen sich Hüftprobleme ein, der Rücken beginnt zu schmerzen. Es folgt eine erste Operation, die IV lehnt eine Rente ab, Mazzotta putzt im 50-Prozent-Pensum weiter bis 2009. Dann stehen gleich zwei Hüftoperationen an, an Arbeit ist danach nicht mehr zu denken. Sie beantragt erneut eine IV-Rente. Bis im Januar 2011 erhält sie Krankentaggeld, danach nichts mehr. Der Rentenbescheid der IV trifft erst Anfang 2013 ein und ist negativ, eine Umschulung wird abgelehnt. Kaum verwunderlich, denn im kommenden Juni erreicht Mazzotta das Pensionsalter. Sie sagt: «Manchmal habe ich das Gefühl, das wurde alles so lange hinausgezögert, bis ich pensioniert bin und sich das Problem für die IV mit meiner AHV-Rente von allein löst.» Für Mazzotta dagegen, die einfach von einer Kasse zur nächsten geschoben wird, vergrössert sich das Problem: Ihre Pension wird tief ausfallen, weil sie die letzten Jahre vor dem Ruhestand keine Beiträge mehr einzahlen konnte.
Geschichten wie jene von Veronica Mazzotta oder Mario Siciliani häufen sich laut Gewerkschaften seit 2008 und der 5. IV-Revision. Die Invalidenversicherung ist auf strengem Sparkurs seither, der Grundsatz heisst «Arbeit vor Rente».
Tatsächlich hat die IV ihre Bemühungen verstärkt, um Menschen mit gesundheitlichen Problemen im Arbeitsprozess zu halten: 2002 vergütete sie noch gut 14'000 Personen eine Massnahme zur beruflichen Eingliederung, zehn Jahre später bewilligte sie bereits über 30'000 Personen eine Umschulung, Weiterbildung oder einen Versuch in einer neuen Firma. Doch auch Doris Bianchi, verantwortlich für Sozialversicherungen beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund, warnt, die Generation der Einwanderer aus der Zeit der Hochkonjunktur drohe dabei zwischen Stuhl und Bank zu fallen.
«Diese Menschen kamen oft ohne grosse Ausbildung in die Schweiz und hatten während ihres Arbeitslebens vor allem Kontakt mit anderen Einwanderern, darum haben viele kaum Deutsch gelernt», sagt Doris Bianchi. Ihr tiefes Ausbildungsniveau führe dazu, dass ihnen die IV seltener eine Massnahme zur beruflichen Eingliederung zuspreche. «Die IV-Stellen legen sich für diese Leute weniger ins Zeug als für andere.»
Der Vorwurf ist nicht aus der Luft gegriffen. Ein Forschungsbericht, den das Bundesamt für Sozialversicherungen in Auftrag gegeben hatte, kam vor einem Jahr zu einem ähnlichen Schluss: «Die IV-Stellen nutzen den Handlungsspielraum in Bezug auf den Einsatz von unterschiedlichen Massnahmen bei gut gebildeten Personen eher als bei unqualifizierten oder wenig qualifizierten Personen», heisst es darin.
Die IV räumt Versäumnisse ein. Die berufliche Eingliederung von über 55-Jährigen mit bescheidener Grundausbildung, gesundheitlichen Problemen und sprachlichen Defiziten sei schwierig, sagt Harald Sohns, Mediensprecher des Bundesamts für Sozialversicherungen. «Deshalb werden die Ressourcen teilweise stärker bei den erfolgversprechenderen Fällen gesetzt.» Das soll sich aber ändern. «Die IV-Stellen sind aufgefordert, die vorhandenen Werkzeuge auch bei den schwierigen Fällen zu nutzen», sagt Sohns.
Den Gewerkschaften ist das aber zu vage. Die Syna etwa fordert die Politik auf, die «Lücken im Integrationssystem» zu schliessen – zum Beispiel durch die Ausweitung des flexiblen Altersrücktritts vom Bau- und Baunebengewerbe auf weitere körperlich anstrengende Berufe. Wer jahrzehntelang in Fabriken malocht oder Gebäude gereinigt hat, könnte sich so bereits im Alter von 60 Jahren pensionieren lassen; für viele Menschen würde sich damit die Lücke zwischen Erwerbsunfähigkeit und der Pensionierung entschärfen.
Für Doris Bianchi vom Gewerkschaftsbund braucht es zudem Lösungen für ältere Arbeitslose: Sie regt die Schaffung einer Überbrückungsrente an, wie es sie seit knapp zwei Jahren im Kanton Waadt gibt, finanziert durch Kantons- und Gemeindebeiträge sowie durch einen Abzug von 0,06 Prozent vom Lohn der Erwerbstätigen. Anrecht auf die «Rente-pont» haben im Waadtland ausgesteuerte Frauen ab 62 und Männer ab 63 Jahren, sofern sie seit drei Jahren im Kanton leben und nur wenig Vermögen besitzen. 2012 waren dies knapp 100 Personen.
«Eine solche Überbrückungsrente ist eine würdige Lösung für Menschen, die kurz vor der Pension stehen, aber keinen Job mehr finden», sagt Bianchi. Zudem könne so verhindert werden, dass Personen kurz vor dem Rentenalter zu viel von ihrem Ersparten brauchen – und dann mit der AHV-Rente allein kaum mehr genug zum Leben haben.
Politisch spruchreif ist im Moment noch keiner der Vorschläge, Mario Sicilianis Lage wird sich so schnell nicht verbessern. Der Kalabrese verkneift sich Kritik am System des Landes, in dem er sein Leben lang gearbeitet und eine Familie gegründet hat; er gibt sich zuversichtlich, sagt, es werde sicher eine Lösung geben. Nachdenklich entfährt ihm jedoch: «Ich bin hierhergekommen, habe hart gearbeitet, Steuern bezahlt, bescheiden gelebt – ich habe doch etwas anderes verdient.»
Dann blickt er auf seine Hände, die ein Leben lang zugepackt haben, die Finger kurz und kräftig.