Nicht alles ist versicherbar
Unser Leben war noch nie so ungefährlich wie heute. Dennoch brauchen wir immer mehr Sicherheit. Ein Blick in die Zukunft der Versicherungsbranche.
Veröffentlicht am 25. April 2016 - 16:02 Uhr
Die Aussichten sind düster: Täglich erreicht uns diese Botschaft. Ausländerkriminalität, Terroristen, der Klimawandel oder das Ende des Wohlstands dominieren die politische Diskussion und die Schlagzeilen. Politik und Medien bewirtschaften solche Ängste. Da erstaunt es nicht, dass diese prächtig gedeihen. Und viele Menschen zutiefst verunsichert sind. Gemäss einer Umfrage unter jungen Eltern fürchten heute mehr als 60 Prozent, ihr Leben «nicht auf die Reihe zu kriegen».
Diese Angst scheint unbegründet, leben wir doch in einem der wohlhabendsten Länder der Welt. Aber vielleicht ist gerade das der springende Punkt: Empirischen Untersuchungen zufolge steigt mit zunehmendem Wohlstand das Sicherheitsbedürfnis – und damit die Nachfrage nach Versicherungen. Die Schweiz ist ein Mekka der Versicherer. In kaum einem Land decken die Menschen ihre Risiken so breit ab wie hier, wo einige weltweit führende Versicherungsunternehmen beheimatet sind. Etwa die Swiss Re, Nummer zwei im globalen Rückversicherungsgeschäft.
Reto Schneider ist als Leiter Emerging Risk Management bei Swiss Re einer der Vordenker der Branche. Er empfängt an privilegierter Lage, am altehrwürdigen Hauptsitz des Rückversicherers mit Sicht auf den Zürichsee. Nebenan wird ein futuristisch anmutendes neues Hauptgebäude hochgezogen. Die Szenerie wirkt wie ein Symbol für Wohlstand und Sicherheit, doch Schneider sagt: «Die grössten Gefahren für die Menschheit sind nicht umfassend versicherbar.»
Schräge Policen: Gegen Brautflucht und Hooligans
Die Braut, die einen Rückzieher macht, ist das Schreckensszenario eines jeden Heiratswilligen. Doch gegen ein unerwartetes Nein der Braut vor dem Traualtar kann Mann sich für 76 Franken absichern – und die Braut für den umgekehrten Fall auch. Inwiefern eine finanzielle Entschädigung den Herzschmerz mindert, ist offen.
Für den Fall, dass man zu tief ins Glas schaut, bot eine chinesische Firma Schutz: Während der Fussball-WM 2014 konnten sich Kunden gegen Trunkenheit versichern – oder dagegen, von Hooligans verprügelt zu werden. Eine Police mit Potenzial rund um Schweizer Fussballstadien.
Denn Policen decken nur das ab, was sich begrenzen, berechnen und bezahlen lässt. Risiken wie Krieg oder Atomunfälle sind höchstens begrenzt versicherbar, unversicherbar bleiben dagegen volkswirtschaftliche Kosten, die entstehen, wenn etwa die EU auseinanderbricht oder die Migration von Flüchtlingen aus dem Ruder läuft. Für Schneider sind das zwei der grössten Risiken der nächsten Jahre. Findet Europa kein Mittel, mit der Flüchtlingskrise umzugehen, drohen soziale Unruhen. Gerät die Welt aus den Fugen, hilft keine Versicherung. Anders gesagt: «Nur wenn man die grossen Risiken im Griff hat, kann man sich um die kleineren kümmern.»
Wer sich dagegen vor Anschlägen fürchtet, den können die Versicherungsexperten zumindest teilweise beruhigen: Sachschäden, die durch Feuer und Explosionen entstehen, sind in bestehenden Policen weitgehend abgedeckt. Damit auch grössere Infrastrukturschäden gedeckt werden können, haben sich mehrere Rückversicherer zusammengeschlossen. Die Terrorrisiken werden in einem Pool verteilt, da die Schadenssumme die finanziellen Kapazitäten von Einzelunternehmen sprengen könnten. Terrorpolicen sind seit dem 11. September 2001 vor allem in den USA gefragt. Doch es gab sie schon im von IRA-Attentaten geplagten Grossbritannien der siebziger Jahre.
Als eines der zukünftigen Toprisiken gilt der Klimawandel. «Doch seine Folgen werden weitgehend verdrängt, weil wir sie noch zu wenig spüren», sagt Schneider. Als Ganzes ist der Klimawandel nicht versicherbar; damit zusammenhängende Naturkatastrophen wie Stürme, Trockenheit oder Überschwemmungen sind – vor allem in der Landwirtschaft – bereits abgedeckt. In der Schweiz geht man von massiven Folgen für die Bergregionen aus, wo wegen des Abtauens des Permafrosts zum Beispiel Steinschläge zunehmen dürften. Es ist daher anzunehmen, dass die versicherten Schadenssummen für Steinschlag und andere klimabedingte Naturgefahren künftig stark steigen.
Schräge Policen: Für Alkohol und Schwarzfahrer
Versichern kann man fast alles, falls ein Anbieter darauf einsteigt. Manche sorgen sich etwa, sie könnten keinen Alkohol mehr kaufen. Gegen eine Prohibition, wie sie in den USA einst existierte, gibt es in Deutschland Policen.
In Stockholm floriert eine Schwarzfahrerversicherung. Man zahlt einen geringen Betrag ein, aus dem Gemeinschaftstopf werden dann die Bussen für diejenigen ÖV-Sünder bezahlt, die sich in Bus oder Bahn erwischen lassen.
Einen sogenannten Risikocluster bildet die Technikabhängigkeit. Strom- oder Internetversorgung sind weniger sicher, als viele meinen. Martin Eling, Professor für Versicherungswirtschaft an der Universität St. Gallen, hält einen landesweiten Ausfall der Internetversorgung in den nächsten zehn Jahren für wahrscheinlich; in Südkorea sei das passiert. «Versicherbar ist ein totaler Internetausfall aber nicht.» Zwar sei er teils in Unternehmenspolicen enthalten, «doch die Versicherer wollen das nicht zu sehr forcieren». Die Versicherungen wären gar nicht in der Lage, die landesweiten Schäden eines Internetausfalls zu decken.
Die Digitalisierung birgt noch mehr Gefahren: Im kommenden «Internet der Dinge» könnten irgendwann alle Industrieanlagen, Maschinen und Hausgeräte mit dem Internet verbunden – und damit manipulierbar – sein. Hacker könnten buchstäblich in unsere Schlafzimmer eindringen.
Generell wird der Schutz der Privatsphäre immer wichtiger. Heute verbreiten Hinz und Kunz Ferien- und Babybilder auf Facebook, morgen werden sensible Daten wie Kranken- oder Versicherungsakten online sein.
Aktuelle Policen decken zum Beispiel Hackerangriffe, Datenklau oder Reputationsschäden durch «Shitstorms» ab, doch das versicherte Volumen ist noch klein. Dies dürfte sich ändern, Internetversicherungen haben ein fast endloses Potenzial.
Schräge Policen: Gegen Fabelwesen und jungfräuliche Geburten
Am besten rüstet man sich für jede Eventualität – sei sie auch noch so unwahrscheinlich: In den USA sind Tausende gegen die Verwandlung in einen Werwolf oder einen Vampir oder die Entführung durch Ausserirdische versichert. Entführungsopfer müssten allerdings nachweisen, dass sie nicht freiwillig mit den Extraterrestrischen mitgegangen sind.
Noch ausgefallener ist eine Versicherung gegen eine jungfräuliche Geburt, die drei Schottinnen abgeschlossen haben. Sie fürchteten, Jesus nicht ernähren zu können, falls sie ihn zur Welt bringen sollten. Nach Protesten der katholischen Kirche löste der Anbieter die Police auf.
Neue Forschungszweige wie Nano- oder Gentechnologie werden von Versicherern mit Argusaugen beobachtet. Die Branche leidet an einem Asbesttrauma: Noch heute muss man Milliarden für Schäden zurückstellen, die das in früheren Jahrzehnten sorglos verbaute gesundheitsschädliche Material verursacht. Daher versuchen die Versicherer, in ihren Verträgen die unkalkulierbaren Risiken neuer Technologien auszuschliessen.
Die fortschreitende Technisierung schürt neue Ängste, doch sie mindert auch Gefahren: Selbstfahrende Autos etwa werden viel sicherer sein als vom Menschen gesteuerte. Passieren dennoch Unfälle, könnten anstelle der Lenker die Hersteller haften. Laut HSG-Professor Eling wird bei der Motorfahrzeugversicherung eine Verlagerung zu den Autofirmen stattfinden. Doch auch die Automatisierung verunsichert: Wir können immer weniger selber steuern und müssen uns auf technische Systeme wie selbstfahrende Autos, Strom- oder Internetversorgung verlassen, die wir nicht verstehen und kontrollieren können.
Dennoch ist die Risikobilanz für Swiss-Re-Experte Schneider eindeutig: «Das Leben in der Schweiz war noch nie so sicher wie heute.» Weshalb leben wir trotzdem nicht angstfrei? Schneider sieht psychologische Mechanismen am Werk: Objektiv beseitige der Fortschritt zwar Risiken wie Hunger, Krankheit, Armut. Doch die Summe der Ängste beim Individuum bleibe gleich. «Für jede gebannte Gefahr schaffen wir uns eine neue.»