Die Wende in Claudia Kellers* Leben kam an einem Sommertag. Seither fühlt sich die Inhaberin eines Winterthurer Kleiderladens nicht mehr wohl in ihrer Haut. «Ich bin depressiv, leide an Ess- und Schlafstörungen», erzählt sie.

Den Stein ins Rollen gebracht hat ein Facebook-Eintrag. Am 17. August schreibt die sehbehinderte Martina Meier*, sie sei wegen ihres Blindenhundes aus Claudia Kellers Laden geworfen worden. Ihr Vorwurf: Diskriminierung. Die Ladenbesitzerin habe sich ihr gegenüber ausgesprochen unfreundlich und beleidigend verhalten.

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Die Reaktionen auf den Facebook-Post kamen schnell. Mehr als 150-mal wurde die Nachricht geteilt, über 100 Personen gaben einen Kommentar ab. Fast alle bezogen sofort Position für Martina Meier. Claudia Keller dagegen wurde mit übelsten Beleidigungen eingedeckt – «dumm» und «arrogant» waren noch die freundlicheren Kommentare. Man solle Kellers Laden meiden und ihr so eine Lektion fürs Leben erteilen, schrieben einige von Martina Meiers Facebook-Freunden.

«Es fühlt sich an wie ein Angriff im Dunkeln.»

Claudia Keller*

Claudia Keller war ins Auge eines Shitstorms geraten. Solche Stürme toben, wenn Einzelpersonen im Netz lawinenartig mit beleidigenden, bösartigen Kommentaren überhäuft werden. «Eigentlich bin ich eine starke Persönlichkeit», sagt Claudia Keller. Doch die Feindseligkeit von derart vielen, ihr teilweise unbekannten Menschen setze ihr zu. «Es fühlt sich an wie ein Angriff im Dunkeln.»

Die Ladenbesitzerin ist sich keiner Schuld bewusst. Den Vorfall vom 17. August schildert sie so: Es habe geregnet, der Hund sei pitschnass gewesen und habe die Kleider verschmutzt. Zudem habe sie Martina Meier nur gesagt, sie solle ihren Hund draussen anbinden. Den Vorwurf der Diskriminierung weist sie entschieden zurück. 

Nach den ersten Hasstiraden rafft sie sich auf und verteidigt sich auf Facebook. Aber das nützt herzlich wenig. Der Proteststurm will nicht abebben.

Doch auch Martina Meier sieht sich im Recht. «Ich würde alles wieder genau gleich machen», sagt sie. «Gewisse Missstände und Diskriminierungen muss man öffentlich machen.» Es gehe hier nicht um ihre Person. «Ich habe ein höheres Ziel: Es geht darum, dass sich die Bevölkerung mit einem wichtigen Thema auseinandersetzt.»

«Solche Hasslawinen können traumatisierend wirken.»

Dorothee Scholz, Psychologin.

Mit dem Ausmass, das die Geschichte durch ihren Facebook-Post annahm, hat auch sie nicht gerechnet. Für die Beschimpfungen, die auf Claudia Keller einprasselten, fühlt sie sich aber in keiner Weise verantwortlich. Sie habe ganz sachlich einen Vorfall geschildert. «Das ist freie Meinungsäusserung. Bevor ich den Post absetzte, hatte ich Frau Keller um ein klärendes Gespräch unter vier Augen gebeten. Mein Angebot nahm sie nicht an. Nun muss sie mit den Konsequenzen leben.»

«Solche Hasslawinen können traumatisierend wirken», erklärt die Psychologin Dorothee Scholz aus dem deutschen Potsdam. Sie hat sich eingehend mit Shitstorms befasst und behandelt viele Betroffene. «Die Angegriffenen fühlen sich hilflos, isoliert. Sie können die Wut, mit der sie konfrontiert sind, nicht verstehen.» Die Folgen sind häufig psychosomatisch – sie reichen von Schlaflosigkeit über Anspannung und Angststörungen bis zu asthmatischen Anfällen.

Opfer eines Shitstorms sollten sich so weit als möglich schützen, empfiehlt Dorothee Scholz. Am besten: den Account von jemand anderem durchsehen lassen, Kommentatoren blockieren, sich auf Positives, auf Freunde und die Familie konzentrieren. «Man muss die Kontrolle in seinem Leben wieder an sich nehmen.» Vom Beantworten einzelner Posts rät sie ab. «Die Angesprochen empfinden die Aufmerksamkeit als Belohnung und doppeln womöglich nach.»

Ein Wirt geht in die Offensive

Auch Stefan Winiger ist in einen Shitstorm geraten. Der Wirt führt auf der Rigi das Bergrestaurant Chalet Schild. Sein Lokal wurde auf der Reise-Website Tripadvisor von Unbekannten mit negativen Kommentaren und Ratings eingedeckt. «Katastrophaler Service», wurde bemängelt, «lange Wartezeiten und unfreundliche Bedienung.» Ein User schrieb: «Grimmige Chefin. Sogar nach den Ferien sind die Besitzer noch unfreundlich.»

Das wollte Stefan Winiger nicht auf sich sitzen lassen. Er entschied, in die Offensive zu gehen – und wandte sich an den «Blick». Die Zeitung brachte einen grossen Artikel mit Bild. Titel: «Was soll der Käse! – Rigi-Wirt Stefan Winiger (47) ärgert sich über anonyme Tripadvisor-Bewertungen im Internet». Via «Blick» klärte Stefan Winiger auf: Der Kommentar zur «grimmigen Chefin» sei erstens während der Betriebsferien erschienen – und zweitens gebe es gar keine Wirtin.

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In den Tagen nach Erscheinen des Zeitungsartikels erhielt Winiger viele Reaktionen. Mehr als 200 Personen meldeten sich mit einer Mail bei ihm. «Die meisten machten mir Mut, etwa drei schrieben negativ.» Einzig eine Frage blieb bisher unbeantwortet: Wer hat die Hasswelle gegen ihn losgetreten? Winiger ist überzeugt, dass ihm Neider mit den negativen Bewertungen eins auswischen wollten. Er hofft, mit seiner Aktion zur Sensibilisierung beigetragen zu haben. «Wenn künftig nur ein einziger Internetnutzer nachdenkt, bevor er einen Blödsinn schreibt, habe ich mein Ziel erreicht.»

Als Opfer müsse man sich bewusst machen, dass im Internet «einige wenige sehr laut» seien, sagt Psychologin Dorothee Scholz. Das Phänomen der Hasswelle erklärt sie unter anderem damit, dass ein Ereignis oder eine Person zur Projektionsfläche werde. Oft steckten dahinter grössere gesellschaftliche Probleme oder verbreitete Ängste.

Die Dynamik ergebe sich aus dem Enthemmungseffekt. Der setze im Internet rascher ein als in der Realität. «Man weiss aus der Forschung, dass die Leute im Internet impulsiver und aggressiver reagieren.» Ein Grund dafür sei die Distanz, die durch das Medium entstehe. «Die Person, über die sich der Hass ergiesst, wird nicht mehr als Mensch wahrgenommen.» 

Durch jeden Kommentar werde die Eigendynamik des Shitstorms noch gesteigert, sagt Dorothee Scholz. «Jeder denkt: Wenn andere das dürfen, darf ich das auch.»

*Name geändert

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Raphael Brunner, Redaktor
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