Schlaf, wo bleibst du?
Jede dritte Person in der Schweiz klagt über Schlafstörungen. Doch es ist nicht der Schlaf, der gestört ist, sondern unser Verhältnis zu ihm – und dagegen helfen Beruhigungsmittel wenig.
aktualisiert am 2. August 2017 - 20:08 Uhr
Wir alle tun es, und zwar nicht zu knapp: Fast einen Drittel unserer Lebenszeit (ver-)schlafen wir. Doch warum der Mensch schläft, können auch Schlafforscher nicht erklären. Auch nicht Neurologen. Natürlich: Schlaf bedeutet Erholung und Regeneration; lebenswichtige Prozesse finden während des Schlafs statt. Aber warum zum Beispiel zwei Stunden Schlaf pro Nacht nicht genügen, warum es nicht reicht, sich im Wachzustand hinzulegen, warum wir in diesen Zwischenzustand zwischen bewusstlos und wach treten – all das zählt zu jenen Fragen, die die Forschung brennend interessieren. Doch man tappt mehrheitlich im Dunkeln.
Die Wissenschaft setzt sich erst seit knapp 60 Jahren systematisch mit dem Schlaf auseinander. Damals wurde der REM-Schlaf entdeckt, jene Phasen, in denen Träume besonders realistisch sind. Erkennbar ist er an den schnellen Augenbewegungen des Schläfers bei geschlossenen Lidern. Daher auch der Name: Das Kürzel REM steht für «rapid eye movement» (schnelle Augenbewegung). Davor schliefen wir einfach und machten uns über das Wie und Warum kaum Gedanken.
Dem Schlaf wird in der Medizin noch wenig Beachtung geschenkt. Das ist erstaunlich. Denn jede dritte Person in der Schweiz beschäftigt der Schlaf mehr, als ihr lieb ist: Über 30 Prozent der Bevölkerung klagen über gelegentliche Ein- und Durchschlafstörungen, 10 bis 20 Prozent über chronisch gestörten Schlaf.
Schlaflosigkeit
Frauen sind dabei doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die Gründe dürften in der gesellschaftlichen Rollenverteilung liegen und darin, dass Frauen oft nachdenklicher, vorsichtiger und auch nachts wachsamer und aufmerksamer sind als Männer.
Durchschnittlich braucht der Mensch sieben bis acht Stunden Schlaf pro Nacht, wobei gilt: Genügend geschlafen hat man, wenn man sich tagsüber fit und ausgeruht fühlt. Von einer Schlafstörung spricht die Medizin dann, wenn man vier Wochen lang Nacht für Nacht schlecht geschlafen hat. Insomnien können sich als Schwierigkeit beim Einschlafen, als Störungen des Durchschlafens und als frühzeitiges Erwachen bemerkbar machen. Allgemein lassen sich diese Schlafstörungen einteilen in sogenannt primäre Insomnien – das sind Schlaflosigkeiten, die weder auf eine organische noch auf eine psychische Grunderkrankung zurückzuführen sind – und in sekundäre Schlafstörungen. Letztere können durch Depressionen, körperliche Beschwerden und Erkrankungen oder durch unbewältigte Probleme am Arbeitsplatz oder in der Familie bedingt sein.
Kurzzeitfolgen
- Müdigkeit
- Stimmungsschwankungen
- Gereiztheit
- Störungen des Kurzzeitgedächtnisses
- verminderte Fähigkeit zur Selbstorganisation
- Konzentrationsprobleme
Langzeitfolgen
- Übergewicht
- frühzeitige Alterung
- chronische Müdigkeit
- Infektanfälligkeit
- Risiko für Herzerkrankungen
Zur Einteilung und Diagnose von Schlafstörungen beruft sich die Fachwelt auf das erstmals 1990 publizierte Standardwerk «Internationale Klassifikation der Schlafstörungen». Die aktuelle Ausgabe nennt 90 verschiedene Störungsbilder. Knapp die Hälfte bezieht sich auf Schlaflosigkeit und übermässige Schläfrigkeit, der Rest auf Schlafprobleme mit Begleiterscheinungen wie Schnarchen, Schlafwandeln, Zähneknirschen, Sprechen im Schlaf, Bettnässen, Beinkrämpfe und Alpträume.
Das sind die Begriffe, die den Alltag von Schlafforschern prägen. Von morgens bis abends sitzen ihnen Menschen mit genau diesen Problemen gegenüber. Ein Teil von ihnen verbringt zur weiteren Abklärung ein oder zwei Nächte in einem der angrenzenden drei Zimmer. Himmelblaue Vorhänge, sonnengelbe Bettwäsche, ein Fernseher an der Wand, ein Gummibaum in der Ecke – was auf den ersten Blick wie ein Hotelzimmer aussieht, wandelt sich nachts zum Überwachungsraum. Wer hier schläft, wird von Kopf bis Fuss verkabelt: Über Elektroden auf der Kopfhaut, an der Schläfe, am Kinn und an den Beinen werden Hirnströme, Muskelspannung, Augen- und Beinbewegungen gemessen, die Herzaktivität wird registriert, ebenso der Sauerstoffgehalt im Blut, jedes Schnarchgeräusch wird aufgenommen, jede Bewegung von einer Infrarotkamera gefilmt.
Den Schlaf unter die Lupe zu nehmen ist allerdings eine immer noch selten angewandte Möglichkeit, der Schlaflosigkeit zu begegnen. Weitaus häufiger wird nur Symptombekämpfung betrieben, und zwar mit Schlafmitteln. Dieser Markt boomt: Schlafmittel zählen in der Schweiz zu den Medikamenten mit grosser Nachfrage.
Alkohol: Alkohol hilft zwar beim Einschlafen, fragmentiert den weiteren Schlaf aber auch – das Durchschlafen wird erschwert.
Kaffee: Koffein baut sich im Körper relativ langsam ab. Die Hälfte des Koffeins einer Tasse Kaffee, die um 19 Uhr getrunken wurde, befindet sich um 23 Uhr noch immer im Organismus. Wie Alkohol fragmentiert auch Koffein den Schlaf.
Gesundheitliche Probleme: Erkrankungen, die Schmerzen verursachen, können wach halten. Es gilt, wenn möglich nicht die Schlafstörung zu behandeln, sondern die Krankheit, die die Störung verursacht.
Hormone: Der Hormonzyklus der Frau kann den Schlaf beeinträchtigen, sei es durch Menstruationsbeschwerden, Schwangerschaften oder die Menopause.
Lärm: Zwar besitzt der Mensch die Fähigkeit, regelmässig wiederkehrenden Lärm, etwa einen jede Nacht vorbeibrausenden Zug, in den Schlaf einzubauen. Trotzdem wird der Schlaf dadurch weniger erholsam sein.
Medikamente: Etliche Medikamente können Koffein oder sonstige Substanzen enthalten, die sich negativ auf den Schlaf auswirken, beispielsweise Kombischmerzmittel, Mittel gegen Depressionen, zur Blutdrucksenkung, gegen Parkinson und Asthma sowie Medikamente zur Entwässerung und Appetitzügler.
Psychosoziale Probleme: Ein Grossteil der Schlafstörungen hat psychische Ursachen wie Stress, unerledigte Arbeiten und Konflikte sowie Depressionen.
Schichtarbeit: Sie stört die sogenannte innere Uhr des Menschen – die Fähigkeit, sich weitgehend unabhängig von äusseren Faktoren in der Zeit orientieren zu können und die regelmässigen Bedürfnisse wie Schlafen und Nahrungsaufnahme in einem relativ konstant bleibenden Rhythmus zu befriedigen. Auch Reisen nach Osten und Westen stören die innere Uhr, was sich im sogenannten Jetlag äussert.
Schnarchen: Schnarchen kann den Partner empfindlich stören – oder, wenn es sich um die sogenannte obstruktive Schlafapnoe (OSA) handelt, den Schnarcher selbst. Bei der OSA bewirkt eine eingeschränkte Muskelfunktion im Rachenraum zeitweise einen Verschluss der Atemwege. Dadurch wachen die Betroffenen, wenn auch nur kurz, immer wieder auf. Dieses Aussetzen der Atmung kann bis zu 20 Sekunden dauern und bis zu 100-mal pro Nacht auftreten. Die meisten OSA-Betroffenen wissen nichts von ihrer Erkrankung, sondern klagen lediglich über Schläfrigkeit am Tag.
Breite Kenntnis über den Umgang mit Schlafmitteln hat Albert Wettstein, ehemaliger Chef des stadtärztlichen Dienstes von Zürich. Tagtäglich behandelte er Menschen, die mit der Hauptnebenwirkung der heute weitestverbreiteten Schlafmittel, der Benzodiazepine, zu kämpfen hatten: mit Abhängigkeiten. Bereits nach dem Absetzen lediglich einer einzigen Tablette kann es laut Wettstein zu vollständiger Schlaflosigkeit während der ersten Nacht und weitgehender Schlaflosigkeit während der folgenden zwei Nächte kommen. «Viele schlucken dann wieder eine Tablette, was häufig der Beginn von Langzeitmissbrauch oder Sucht ist», so der Stadtarzt.
Laut Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA), steht die Schweiz in Bezug auf den gesamten Pro-Kopf-Umsatz der Gruppe der Benzodiazepine weltweit auf Platz eins. Nach Nikotin- und Alkoholabhängigen stellen Benzodiazepin-Abhängige die drittgrösste Suchtgruppe dar. Zwar sind sich Experten einig, dass benzodiazepinhaltige Medikamente maximal für zwei bis vier Wochen verordnet werden sollen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: 65 Prozent der Leute, die Benzodiazepine verordnet bekommen, nehmen sie länger als ein Jahr ein, 30 Prozent mehr als fünf Jahre.
Das Problem ist noch weit gravierender, denn ein Grossteil dieser Medikamente löst das genaue Gegenteil dessen aus, was sie eigentlich bewirken sollten: «Benzodiazepine sind Beruhigungs- und Schlafmittel, die auf Dauer zu grossen Schlafproblemen führen», hält Wettstein fest. «Nach dem Absetzen können Menschen mit Schlafstörungen unter schwereren Schlafproblemen leiden als vor der Einnahme.» Dass vor allem das Absetzen kurz wirkender Mittel zu einer vorübergehenden Verschlechterung des Schlafs führen kann, hat der Zürcher Schlafforscher Alexander Borbély bereits in den achtziger Jahren nachgewiesen. In seinem Standardwerk «Das Geheimnis des Schlafs» hält er fest: «Es ist, als ob sich das Gehirn an das während längerer Zeit eingenommene Schlafmittel gewöhnt hat und nach plötzlichem Absetzen mit Entzugserscheinungen reagiert.» Der Schlaf werde dabei vorübergehend unruhiger und oberflächlicher, mit der Folge, dass Patienten wieder zur Tablette greifen – «und so nicht vom Schlafmittel loskommen».
Aber warum nehmen heute überhaupt so viele Menschen Schlafmittel? Schlafen wir schlechter als früher? «Ganz klar nein», sagt die Sozialanthropologin Brigitte Steger, die an der Universität Cambridge lehrt und sich mit dem Schlaf in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten befasst. Steger bezeichnet Schlafstörungen weder als Zivilisationskrankheit noch als Luxusproblem. Es sei viel simpler: «Schlecht geschlafen wurde schon immer. Aber früher hat man das nicht als medizinisches Problem wahrgenommen.» Der Neurologe Claudio Bassetti fügt an: «Wir schlafen heute nicht schlechter als früher, aber wir können dank der modernen Schlafmedizin Störungen besser erkennen und benennen.»
Die Qualität des Schlafs mag gleich geblieben sein, nicht aber die Dauer: Industrialisierung und Modernisierung – allen voran die Erfindung der Glühbirne – haben dazu geführt, dass wir heute rund eine Stunde weniger schlafen als unsere Vorfahren. Die Konsequenz ortet man nicht in grösserer Müdigkeit, sondern in einer stärkeren Stimulierung und Überreizung unserer Sinne. Die Möglichkeit, in der Nachtzeit Wachaktivitäten beliebig auszudehnen, verlängert die Stimulation im Verlauf eines Tages, führt zu Übermüdungssymptomen und wirkt sich auf die Schlafqualität aus. Mit der Verkürzung der Schlafdauer steigt etwa die Zahl schlafwandelnder, zähnepressender und schnarchender Menschen laufend.
Und was wäre schlaftechnisch gesehen die «richtige» Lebensgestaltung? Die Antwort ist überraschend einfach: Nachts das Bett nur aufsuchen, wenn man wirklich schlafbereit ist – und nicht die Idee haben, unbedingt acht Stunden am Stück schlafen zu müssen. Das knüpft an alte Gewohnheiten an. Bis vor etwa 150 Jahren war der Nachtschlaf oft zweigeteilt: In einer ersten Runde schliefen die Menschen bis ungefähr zwei oder drei Uhr morgens. Dann standen sie auf und verrichteten häufig Hausarbeiten, die auch im Dunkeln oder bei Kerzenlicht erledigt werden konnten. Nach ein, zwei Stunden auf den Beinen legten sie sich wieder ins Bett für die zweite Schlafrunde. In manchen Sprachen existieren auch unterschiedliche Wörter für den Erst- und Zweitschlaf.
Das Schlafverhalten in alten Tagen unterscheidet sich in einem weiteren Punkt vom heutigen: Bis zur Industrialisierung pflegte man auch in unseren Breitengraden in der Öffentlichkeit zu schlafen – auf dem Feld etwa, im Park oder auf einer Bank. Das Ansehen des öffentlichen Tagschlafs ist inzwischen aber weitgehend ramponiert.
Nicht so in Asien. In Japan gibt es den sogenannten Anwesenheitsschlaf, Inemuri genannt: das Schlafen in der Öffentlichkeit, während man offiziell etwas anderes tut – beispielsweise schnarchende Politiker im Parlament, eingenickte Kinder in der Schule, Opernbesucher, die tief in ihren Sesseln versinken. Offenbar hat dieser Schlaf Wirkung: Die hohe Lebenserwartung der Japaner und ihr Gesundheitszustand zeigen, dass sie einiges gut machen, auch ihr Arbeitsoutput ist beachtlich.
Ein Nickerchen im Bundeshaus sorgt hierzulande ebenso für Stirnrunzeln wie ein Powernap im Schulzimmer. Nicht aber ein Mittagsschlaf im Zug. Warum? Das hat mit der sogenannten Neben- und Hauptinvolviertheit zu tun. Ist Schlafen eine Nebenerscheinung, die die Hauptaktivität nicht stört – etwa Dösen im Tram –, ist alles im grünen Bereich. Wer aber in der Oper schläft, bringt den Sängern nicht die geforderte Aufmerksamkeit entgegen, wodurch sich manche gestört fühlen. Zudem ist entscheidend, wie unverbindlich die Umgebung ist: Im Zug herrscht etwa eine anonyme soziale Umgebung; die Mitfahrenden sind als Kommunikationspartner nicht relevant. Man muss ihnen keine Aufmerksamkeit schenken, also kann man problemlos die Augen schliessen und schlafen.
Auf der Suche nach besserem Schlaf kann man nur zu einer Rückbesinnung auf frühere Traditionen raten: Das Ziel sollte weder sein am Stück zu schlafen noch nur nachts zu schlafen. Solche fixen Vorstellungen von Schlaf treiben viele in Verzweiflung und Schlaflosigkeit. Unter Dauerbelastung sind Menschen produktiver, wenn sie ihren Schlaf in mehrere kürzere Einheiten aufteilten. Das bedingt auch tagsüber Ruhepausen. Doch welcher Chef akzeptiert heute schon, dass sich seine Mitarbeiter nach dem Mittagessen aufs Ohr legen? Und wo gibt es in einem Unternehmen die Möglichkeit, sich kurz zurückzuziehen?
- Jeden Tag zur gleichen Zeit aufstehen – auch am Wochenende.
- Kein Schläfchen nach 15 Uhr.
- Regelmässige körperliche Betätigung am Abend (Spaziergang, Gartenarbeit), aber keine grossen Anstrengungen.
- Abends kein Koffein, kein Nikotin, keinen Alkohol.
- Kein schweres Essen zwei Stunden vor der Schlafenszeit.
- Nichts mehr trinken nach dem Nachtessen.
- Stimulierende, lärmige Orte nach 17 Uhr meiden.
- Zum blossen Entspannen nie das Bett, sondern einen Sessel benutzen.
- Eine sich täglich wiederholende Routine beim Zubettgehen einhalten.
- Das Bett nur für Schlaf und Sex benutzen.
- Kein Fernsehen vom Bett aus.
- Wichtig im Schlafzimmer: kühle Temperatur (Decken anpassen), Dunkelheit, Ruhe (eventuell Ohrenstöpsel benutzen), eine gute Matratze.
- Nach dem Zubettgehen an etwas Angenehmes, Ruhiges denken.
Nach dem Mittagessen wird man müde, weil alles Blut zum Verdauen im Bauch ist.
Falsch. Um wach und aktiv zu sein, braucht der Mensch Reize. Beim Mittagessen sitzt man hingegen ruhig, eine Entspannungsphase wird eingeleitet. Sitzt man danach weiterhin ruhig da, etwa am Computer oder auf der Schulbank, wird man noch müder.
Durchschlafen ist die einzig richtige Art des Schlafens.
Falsch. Mehrmaliges Aufwachen während der Nacht ist normal und gehört zu einem gesunden Schlaf.
Der Schlaf vor Mitternacht ist der wichtigste.
Falsch. Frühes Schlafengehen führt dazu, dass man auch früher wieder wach wird. Wann geschlafen wird, ist egal, Hauptsache, die Gesamtmenge stimmt.
Sport am Abend macht müde und hilft beim Einschlafen.
Falsch. Wer nur zwei bis drei Stunden vor dem Zubettgehen Sport treibt, regt den Organismus zu sehr an. Der Körper ist dann zu wach, um schlafen zu gehen. Ähnliches gilt übrigens auch für schwere geistige Arbeit.
Die Müdigkeit nimmt im Lauf des Tages zu.
Falsch. Die Müdigkeit schwankt in einem Rhythmus von rund vier Stunden.
Hat man in einer Nacht schlecht geschlafen, muss man in der folgenden Nacht länger schlafen.
Falsch. Der Körper holt Schlafverlust nicht durch Quantität auf, sondern durch Qualität.