«Es ist nicht entscheidend, woher man kommt»
Ylfete Fanaj präsidierte als erste Schweizerin mit kosovarischen Wurzeln ein Kantonsparlament. Auf Menschen zugehen und Brücken bauen ist ihr wichtig. Dafür hat sie manches Hindernis überwunden.
Veröffentlicht am 22. November 2021 - 16:12 Uhr
Für einen kurzen Moment fühlt sie sich wieder ganz klein, die Präsidentin des Luzerner Kantonsrates, als sie zum Schulhaus St. Martin in Sursee schreitet. So wie vor fast dreissig Jahren, als sie diesen Weg zum ersten Mal ging. Damals sprach Ylfete Fanaj kaum ein Wort Deutsch und kannte keine Menschenseele. Mitten im Schuljahr wurde sie in die zweite Klasse eingeschult.
Die Grossmutter hatte sie und ihre ältere Schwester in die Schweiz gebracht, zu den Eltern, die mit den jüngeren drei Geschwistern bereits in Sursee lebten. Daheim in Prizren, im damaligen Jugoslawien, war der Krieg näher gerückt. Ylfete konnte dort nicht mehr zum Unterricht. Die kosovarischen Schulen waren vorsichtshalber geschlossen worden, weil es hiess, in Schulmensen würden bewusst Kinder vergiftet.
Ylfete Fanaj begann ihre Laufbahn in der Schweiz voller Scheu und Unsicherheit. Sie war in ihrem Schulhaus das erste Mädchen aus dem Balkan. Heute, mit 38, ist Ylfete Fanaj wieder die Erste: Als erste Kosovarin präsidiert sie ein Schweizer Kantonsparlament.
Nun steht die Doppelbürgerin als Ehrengast vor dem Eingang ihres früheren Schulhauses, vor den versammelten Erst- bis Sechstklässlern, deren Eltern und Lehrpersonen. Es ist der erste Schultag des Schuljahres 2020 / 2021. Zur Feier des Tages flattern selbstbemalte Wimpel im Wind. «Ich habe rüdig Freude!», sagt Ylfete Fanaj in Luzerner Dialekt ins Mikrofon. An ihrem weissen Oberteil steckt ein Pin mit dem blau-weissen Luzerner Kantonswappen.
«Dreissig Jahre nach meinem ersten Schultag hier darf ich euch als Kantonsratspräsidentin begrüssen! » Sofort fügt sie an: «Ich bin eine Art Klassenchefin für den ganzen Kanton. Wir reden und diskutieren viel und machen gemeinsam Regeln ab. Wie ihr in den Klassen!»
Erklären, wie Politik funktioniert, auf die Menschen zugehen, Brücken bauen: Das ist Ylfete Fanaj in ihrem Präsidialjahr wichtig. Wenn sie die Kantonsratssitzungen leitet, gibt sie jeweils am zweiten Sessionstag Gästen für ein paar Minuten das Wort. Stimmen, die sonst selten gehört werden: von einem Flüchtling zum Beispiel oder von Menschen mit Behinderung.
Auch politisch möchte die SP-Frau verbinden. Zusammen mit dem Regierungsratspräsidenten aus der CVP will sie auf kleinen Wanderungen mit der Bevölkerung auch symbolisch Gemeinsames über Trennendes stellen. Sofern Corona es zulässt.
«Ich hatte selbst Steine auf meinem Weg gehabt und wollte mithelfen, sie für andere aus dem Weg zu räumen.»
Ylfete Fanaj, Luzerner Kantonsratspräsidentin
Ihre Migrationsgeschichte hat Ylfete Fanajs Interesse an Politik geweckt. In einem eleganten dunkelblauen Kleid sitzt sie in einem Luzerner Strassencafé und erzählt, wie sie sich trotz guter Noten in der Sekundarschule zwei Jahre lang vergeblich um eine Lehrstelle bemühte. 200 Bewerbungen verfasste sie von Hand, bis sie endlich zum ersten Mal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde.
Die drei Leiterinnen einer Luzerner Sprachschule machten Ylfete danach ganz bewusst zu ihrer ersten Lehrtochter. Obwohl sich auch noch eine besser qualifizierte Schweizerin beworben hatte. Doch die drei Frauen, alle selbst mit Migrationshintergrund, wussten: Die Schweizerin würde problemlos eine andere Lehrstelle finden. Ylfete Fanaj nicht. Wegen ihres ausländisch klingenden Namens.
Dieser Name hatte bereits verhindert, dass Ylfetes Vater, ursprünglich ein Saisonnier, selbst eine grössere Wohnung mieten konnte, um seine Frau und die Kinder in die Schweiz zu holen. Es klappte erst, als sein Vorgesetzter in der Brauerei sich als offizieller Mieter einer Viereinhalbzimmerwohnung zur Verfügung stellte und sie Ylfetes Vater untervermietete.
Ylfete erfuhr von diesem Deal per Zufall: Weil sie für ihre Eltern immer mehr das Offizielle erledigte, bekam sie eines Tages den Mietvertrag zu Gesicht – und sah dort als Mieter nicht ihre Eltern eingetragen, sondern einen gewissen Herrn Bieri. Den Chef ihres Vaters.
Glück bei der Einbürgerung
Gleichzeitig bekam sie mit, wie längstens nicht alle mit Wurzeln im Balkan so problemlos eingebürgert wurden wie sie selbst 2001 in Sursee. «Ich war überrascht, wie wenig Wissensfragen mir die Einbürgerungskommission stellte», erinnert sich Fanaj. «Stattdessen fragten sie das, was wirklich wichtig ist: Nämlich, wo ich meine Rolle in der Schweizer Gesellschaft in Zukunft sehe.»
Die Luzerner Gemeinde Emmen hingegen entschied zur gleichen Zeit an der Urne über Einbürgerungen – und lehnte 80 Prozent der Gesuche von Menschen aus dem Balkan ab. Das Bundesgericht schritt später ein. Auf nationaler Ebene scheiterten Einbürgerungserleichterungen für die zweite Generation ebenso wie Einbürgerungen ab Geburt für die dritte Generation unter gewissen Bedingungen.
In diesem Klima erwachte Ylfetes politischer Kampfgeist. «Ich sah, wie Integrationspolitik gemacht wurde über die Köpfe von denen hinweg, die es betrifft», erzählt sie. «Ich hatte selbst Steine auf meinem Weg gehabt und wollte mithelfen, sie für andere aus dem Weg zu räumen.»
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1 Kommentar
Auch ich habe Migrationshintergrund. Aber dass jemand, der knapp 20 Jahre nach der Einbürgerung eine politische Karriere macht, irritiert mich schon. Mir wurde 1989, obwohl ich mit 6 in die Schweiz kam (Prager Frühling, ehemalige CSSR), eine diplomatische Karriere verwehrt, obwohl ich in Bundesbern alle Prüfungen (Allgemeinbildung, CH-Geschichte, CH-Geografie, CH-Politik samt 3 Landessprachen!) geschafft habe! Begründung: Möglichkeit von Repressalien, wenn im Ostblock! Stand alles noch in meiner Fiche. Also reagiere ich sehr sensibel und verbittert auf solche News, wo Eingebürgerte problemlos Karriere machen können heutzutage.