Standpunkt zur Neutralität
Neutral ins Abseits
Die Schweiz will strikt neutral sein und verprellt so ihre Partner. Muss das sein?
Veröffentlicht am 27. März 2023 - 16:09 Uhr
Bei der Neutralität geht es vor allem um die eigene Identität: eine riesige Schweizerfahne am Nationalfeiertag.
Quelle: KeystoneEine Schweiz, die nicht neutral ist? Für die meisten wohl undenkbar. Die Neutralität scheint so zum nationalen Charakter zu gehören, dass eine Frage kaum gestellt wird: Was bringt sie eigentlich? Nur gute beziehungsweise fragwürdige Geschäfte – oder verbessert sie die nationale Sicherheit? Und was ist ihr Preis?
Klar ist, dass sie aus einer Epoche der Kaiser und Könige stammt. Als beim Wiener Kongress 1815 die Grenzen in Europa neu gezogen wurden und sich Mächte wie Preussen oder Habsburg mit ihren jeweiligen Plänen für die Schweiz nicht durchsetzen konnten, war deren Neutralität ein Kompromiss. Auch das immer noch geltende Haager Abkommen von 1907, das die Pflichten eines Neutralen definiert, baut auf den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts auf. Damals galten Angriffskriege als legitim.
Neutralität gibt ein gutes Gefühl
Die Welt sieht 116 Jahre später anders aus. Angriffskriege verstossen gegen das Völkerrecht, es gibt Uno, Nato und EU – Institutionen, die die kollektive Sicherheit erhöhen. Was schützt heute die Schweiz mehr: ein gutes Verhältnis zu den Nato-Nachbarn oder die Neutralität? Russland anerkannte 1991 die Grenzen der Ukraine per Vertrag, aber Putin hat ihn weggewischt. So jemandem wäre auch die Schweizer Neutralität egal. Laut dem St. Galler Politikwissenschaftler Christoph Frei ist diese heute vor allem identitätsstiftend. Anders gesagt: Sie gibt eine geistige Heimat und ein gutes Gefühl. In der Schweiz.
In Europa und den USA dagegen wächst der Ärger über die eigenbrötlerischen Eidgenossen. Dass die Schweiz anderen Ländern verbietet, einst hierzulande gekaufte Munition an die Ukraine weiterzugeben, hat mit dem Neutralitätsrecht höchstens indirekt zu tun. Denn das Haager Abkommen regelt diese Frage gar nicht. Ungewöhnlich scharf kritisierte der US-Botschafter in Bern das helvetische Wiederausfuhrverbot: Die Schweiz könne sich nicht als neutral bezeichnen und zulassen, dass der Aggressor davon profitiere.
Die Neutralität ist ein politisches Mittel – kein Selbstzweck.
Doch der Bundesrat – der andererseits Lieferungen an das kriegführende Saudi-Arabien zulässt – erkennt keinen gesetzlichen Spielraum für Pragmatismus, und das Parlament wollte bisher keinen schaffen. Man sieht sich lieber in der Rolle eines Vermittlers, auch wenn da kaum jemand auf die Schweiz zu warten scheint. Was die Haltung von Regierung und Parlament moralisch bedeutet, hat Daniel Jositsch, SP-Ständerat und Verfechter einer knallharten Neutralität, auf den Punkt gebracht: «Wenn man nicht auf der Seite des Guten steht, dann hilft man dem Bösen. Aber das muss man aushalten, wenn man neutral ist.»
Im Ernst? Muss man das aushalten? Oder könnte man doch darüber debattieren, wie klug eine Neutralitätspolitik ist, die international ins Abseits führt? Denn Neutralität ist ein politisches Mittel, das immer wieder flexibel gehandhabt wurde – kein Selbstzweck. Und schon gar kein Naturgesetz, bei dem die Politik machtlos wäre.
Erinnerungen an das Bankgeheimnis
Das Ganze erinnert an das Ende des Bankgeheimnisses für Kundinnnen und Kunden im Ausland. Auch dieses schien einst Teil der Schweizer Identität – absolut nicht verhandelbar. Als die USA und die EU immer unzimperlicher nach unversteuerten Geldern im Ausland fahndeten, verschanzte sich die Schweiz hinter einer haarspalterischen Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug. Bei Steuerhinterziehung gelte das Bankgeheimnis, man leiste keine Rechtshilfe, tönte es aus dem Réduit. Das Ausland werde «sich die Zähne ausbeissen», prophezeite Finanzminister Hans-Rudolf Merz.
Ein Jahr später musste die Schweiz ihr Bankgeheimnis kleinlaut beerdigen. Was blieb, war der Reputationsschaden.
11 Kommentare
Sicherheitsbericht: Will BR Viola Amherd die Schweizer Neutralität aufgeben?
Nach der schleichenden Annäherung an die Nato will Verteidigungsministerin Viola Amherd die Schweiz in das Verteidigungskonzept der EU-Staaten integrieren. Die Walliserin schafft damit wieder einmal Fakten, die unserer Neutralität zuwiderlaufen. Sie sind auch vor dem Hintergrund der laufenden Verhandlungen mit der EU über einen Rahmenvertrag 2.0 kontraproduktiv.
JA zur Neutralitätsinitiative
JA zur schweizerischen Neutralität, weil wir eine schweizerische Friedensdiplomatie und keinen NATO-Beitritt wollen. Auch wollen wir unsere Kinder und Enkel nicht für fremde Kriege opfern.
Die NATO ist das gefährlichste Militärbündnis der Welt.
Die NATO hätte sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auflösen müssen. Die USA und ihre NATO-Gefolgsstaaten in Europa sowie die Rüstungsindustrie hatten aber nicht die Absicht, die «Friedensdividende» zu nutzen und eine Welt zu fördern, die auf Diplomatie, der Achtung von Einflusssphären und gegenseitiger Zusammenarbeit beruht. Sie waren entschlossen, im Kriegsgeschäft zu bleiben. Das bedeutete, dass sie ihre Kriegsmaschinerie weit über die Grenzen Europas hinaus ausdehnen und sich daraus ein nicht endender Antagonismus gegenüber China und Russland entwickeln musste.
JA zur Neutralitätsinitiative: Tradition der Friedendiplomatie und humanitären Hilfe bewahren.
Angesichts der geopolitischen Entwicklung, neuer Blockbildungen und weiterer Brennherde ist es von zentraler Bedeutung, dass die Schweiz ihre immerwährende, bewaffnete Neutralität ohne situative Verrenkungen und aussenpolitische Experimente wieder zurückerlangt.
Das heisst nicht, dass sich die Schweiz feige ins Schneckenhaus zurückzieht. Im Gegenteil! Sie kann und soll auf aussenpolitischer Ebene Einfluss nehmen, wo andere es längst nicht mehr tun können.
Wir wollen den Frieden fördern und nicht den unseligen Krieg verlängern!
Beenden wir die neutralitätspolitische Irrfahrt. Positionieren wir uns wieder mutig und kreativ für eine glaubwürdige neutrale Schweiz, für die Sicherheit der Schweiz und den Weltfrieden.